Alice Schwarzer: Die falsche Solidarität
Schon für die historischen Frauenrechtlerinnen war der Kampf gegen Doppelmoral und Prostitution selbstverständlich. Eine Frau, die sich prostituierte – oder auch nur außerehelichen Sex hatte – war eine Ausgestoßene. Ein Mann, der sich diese Frauen nahm, beging maximal ein Kavaliersdelikt. Schon um die vorletzte Jahrhundertwende kamen die Prostituierten in Deutschland vorwiegend aus den armen osteuropäischen Ländern, meist aus den jüdischen Ghettos. Heute sind es oft Roma-Frauen, die ja ganz besonders entrechtet sind.
Die deutsche Drehscheibe für den Frauenhandel war Frankfurt. Dort gründete Bertha Pappenheim (1859 – 1936) 1907 ein Wohnheim für Aussteigerinnen bzw. am Bahnhof oder in den Straßen aufgelesene Mädchen. Lida G. Heymann (1868 – 1943) hatte schon 1897 in Hamburg einen Mittagstisch für Prostituierte und Schauspielerinnen (die oft in einen Topf geworfen wurden) finanziert. Ein Jahr zuvor hatte sie sich zusammen mit Anita Augspurg als scheinbare Prostituierte abends auf der Straße verhaften lassen, um so gegen die Doppelmoral und Repressalien gegen Prostituierte zu protestieren.
 
 
Ein halbes Jahrhundert später trat die Neue Frauenbewegung an. Die Solidarität mit Prostituierten war vom ersten Tag an selbstverständlich. 1973 veröffentlichte Kate Millett ein Gespräch mit drei Prostituierten („Das verkaufte Geschlecht“). Sie schrieb: „Was die Prostituierte in Wahrheit verkauft, ist nicht Sex, sondern ihre Entwürdigung. Und der Käufer, der Kunde, kauft nicht Sexualität, sondern Macht: die Macht über einen anderen Menschen.“ 1981 schrieb ich das Vorwort für die deutsche Millett-Ausgabe: „Der Kampf mit den Prostituierten muss für eine Radikalfeministin immer gleichzeitig der Kampf gegen die Prostitution sein!“
Im „Kleinen Unterschied“ ist 1975 übrigens eine der von mir befragten 17 Frauen die Prostituierte Cornelia M. In Frankreich protestierten gleichzeitig Feministinnen und Prostituierte gemeinsam gegen die Schikanen von Polizei und Justiz, 1975 in Lyon und 1976 in Paris. Simone de Beauvoir war dabei.
1980 titelt EMMA mit der Frage: „Macht Prostitution frei?“ Wir reagierten damit auf eine neue Entwicklung im Namen des Feminismus. Die bisherige Solidarität mit Prostituierten wurde plötzlich in ihr Gegenteil verkehrt: Nämlich in die Solidarität mit dem System Prostitution, mit Zuhältern und Bordellbetreibern. So veranstaltet 1988 die Prostituierten-Gruppe Hydra den ersten „Hurenball“, mit Prostituierten und Zuhältern. Vornehmlich linke Feministinnen, wie Pieke Biermann, Studentin und Freizeitprostituierte, behaupten plötzlich, Prostitution wäre ganz normal, ja besonders emanzipiert. Die Ehe wäre schließlich auch Prostitution: „Ist es wirklich ein so großer Unterschied, Sex zu gestatten für Kost und Logis oder für bare Münze?“ Biermann: „Welche Frau ist eigentlich keine Prostituierte?“
Es begann ein langer Kampf, der noch nicht zu Ende ist. Ein Kampf zwischen den autonomen Feministinnen einerseits – und linken Feministinnen andererseits, die zunächst aus der alternativen Szene kamen, dann von den 1980 gegründeten Grünen. Letztere vertraten über Jahrzehnte die Auffassung, Prostitution sei „ein Beruf wie jeder andere“. Die Grünen gingen so weit, 1990 Prostitution als „Ausbildungsberuf“ zu planen, sie hatten schon die Konzepte für die Lehrkurse auf dem Tisch. Das ging dann doch zu weit. Es konnte gestoppt werden.
 
 
Autonome Feministinnen, die weiterhin solidarisch waren und sind mit Prostituierten, das „System Prostitution“ aber mit aller Entschiedenheit bekämpfen, wurden als „prüde“ abqualifiziert. Auffallend dabei ist, dass die Lage in Deutschland besonders verhärtet ist.
Dass die Menschen aufwachten und allmählich begreifen, was PolitikerInnen da anstellen und was für ein Verbrechen und Verstoß gegen die elementarste Menschenwürde die Akzeptanz oder gar Propagierung der Prostitution ist – das ist zum Glück nicht nur, aber doch weitgehend EMMA zu verdanken. Wir ließen und lassen uns nicht einschüchtern. Wir sind die Stimme der direkt betroffenen wie der indirekt betroffenen Frauen; der Freundinnen, Geliebten und Ehefrauen; der Nachbarinnen und Kolleginnen von Männern, die Frauen kaufen. Denn:
Eine wahre Gleichheit der Geschlechter ist undenkbar in einer Gesellschaft, in der Männer Frauen kaufen können.
ALICE SCHWARZER
Der 3. HeldinnenAward der Alice-Schwarzer-Stiftung geht 2025 an zwei Kämpferinnen gegen Prostitution: Sabine Constabel und Cathrin Schauer. Die beiden Streetworkerinnen tragen dazu bei, dass Frauen in der Prostitution besser geschützt sind und sie eine Chance zum Ausstieg erhalten. Der Award wird am 4.11. verliehen (19 Uhr, Landesvertretung Baden-Württemberg). Die Teilnahme ist frei. Anmeldung: mail@alice-schwarzer-stiftung.de 
 
 

 
  
  
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
