Auge in Auge mit Fritzl

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Wie viele Gewalttäter haben Sie schon kennengelernt?
Kastner: 2.000, 3.000 vielleicht. Die Namen merk ich mir nicht, aber die Fälle schon, die Lebensgeschichten, samt aller Details.

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Was sind die Sätze, die Sie von Gewalt­tätern am häufigsten hören?
„Es ist passiert“. Dieser Satz fällt beinahe immer. Den kann ich schon nicht mehr hören, denn er ist falsch. „Es ist passiert“ kann ich sagen, wenn mir ein Blumentopf auf den Kopf fällt oder wenn ich in einen Wolkenbruch gerate. Aber eine Tat passiert nicht. Da habe ich eine Entscheidung getroffen, und ich habe gehandelt.

War Josef Fritzl anders als andere Täter? Etwas besonderes?
Bei den Motiven war er keine Überraschung – die sind bei vielen ähnlich. Das Einzigartige bei ihm war die Dauer seiner Tat, und die Fähigkeit, seine beiden Welten so sauber voneinander zu trennen. Ich habe noch niemanden kennengelernt, der über so lange Zeit zwei Leben völlig ­voneinander abspalten konnte.

Wie gut haben Sie ihn kennengelernt?
Ich habe fünf, sechs mal mit ihm gesprochen, jeweils mehrere Stunden lang. Der spannendste Moment war vor unserem ersten Tref­fen. Es soll jetzt nicht wie Hybris klingen – aber ich habe nicht gezweifelt, dass ich ihn verstehen kann, wenn er mit mir redet. Aber ich war nicht sicher, ob er überhaupt redet.

Er hat.
Er hat mich begrüßt, und mir höflich mitgeteilt, dass er meine Fragen beantworten wird.

Sind Gewalttäter meistens höflich?
Bei mir schon. Ich bin ja niemandem ­gegenüber ungut, nur weil er jemand anderem etwas getan hat. Das ist nicht mein Job.

Wie läuft so ein Gespräch ab?
Normalerweise ist meine erste Frage: Wann sind Sie geboren? Und leben Ihre Eltern noch? Wobei erstaunlich ist, dass jeder zweite da nachfragt, wie ich das meine. Was doch auf ein ziemliches Misstrauen schließen lässt, das in der Situation liegt. Ich fang also nie beim Delikt an, sondern immer bei der Biografie. Wie wars daheim als Kind? Ich versuche wenig vorzugeben, um das Repertoire beim ­Erzäh­len nicht einzuschränken. Wir reden uns warm, finden eine gemeinsame Sprache, dann geht’s.

Wollte Fritzl von Ihnen verstanden werden?
Er wollte sich selber verstehen. Er hat mich immer wieder gefragt, ich möge ihm doch bitte erkären, warum er tun wollte, was er getan hat.

Und Sie haben es ihm erklären können?
Er hat gesagt: Aha. Er hat verstanden, was ich sage, aber er hat es nicht spüren können. Das Traurige, Erschreckende an ihm ist, dass ihm das Vokabular und die Emotionen fehlen, um wirklich nachempfinden zu können, was er getan hat.

Nennt man das gefühlsblind?
Man kann es emotionalen Analphabetismus nennen.

Wie entsteht so etwas? In der Kindheit?
In den Zeitungen stand, Fritzl habe seiner Mutter die Schuld für seine Probleme gegeben. Das ist falsch. Dass er ein „Alibikind“ war, mit dem seine Mutter ihrem Ex-Mann beweisen wollte, dass sie nicht unfruchtbar war: Das alles hat er nur ganz beiläufig erwähnt, von sich aus hätte er wahrscheinlich gar nicht damit rausgerückt.

Wie sind Sie drauf gekommen?
Bei ihm hab ich etwas getan, was ich vorher noch nie getan habe. Unser erster Termin war an einem Samstag, ich wusste, wir haben sechs Stunden. Ich sagte zu ihm: Wir werden jetzt sehr viel Zeit miteinander verbringen, also können wir bei Adam und Eva anfangen. Wie ist denn Ihre Mutter geboren und aufgewachsen? Dann hat er erzählt. Seine Mutter war das außerehelich gezeugte Kind ihres Vaters, und wurde erst später in die Familie ­hinein­adoptiert. Ihr Vater zwang die Ehefrau, die unfruchtbar war, das Mädchen aufzunehmen und aufzuziehen. Da hab ich mir gedacht: Holla, das kommt mir aber jetzt bekannt vor.

Da ist ein Muster, das sich über mehrere Generationen zieht?
Ja. Was Fritzl getan hat, war keine unendlich fantasievolle Ausgestaltung geheimster Wünsche, sondern die Übernahme einer alten Familientradition. Ich zeuge extern ein Kind und adoptiere es dann in meine Ehe hinein – diesen Ablauf hat er von seiner Mutter gekannt. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie dasselbe gemacht haben wie Ihr Großvater? hab ich ihn gefragt. Dann saß er ernsthaft erstaunt da und sagte: Das hab ich mir noch nie überlegt.

Ist es nicht unheimlich, wenn man erkennt, wie sich Verhaltensweisen beinahe zwang­haft wiederholen?
Unheimlich nicht. Das macht man ja selber auch, oder? Wenn man sich kritisch anschaut, fällt einem auf, wie viele Dinge man weiterträgt, die man oft gar nicht weitertragen will.

In Ihrem Buch erzählen Sie den Fall Fritzl in Form eines Märchens. Es ist die Geschichte von einem Wolfskind, das sein Leben lang so tun muss, als sei es ein Mensch. Warum diese Form?
Ich habe den ganzen Fall, in seiner Intensität, selbst wie ein Märchen durchlebt. Er hat atavistische Aspekte: Die zweigeteilte Welt, das Haus und der Keller, Licht und Finsternis, bis hin zu den Zahlen – sieben Kinder oben, sieben Kinder unten. Aber ich sag Ihnen: Märchen erzählen ist schwierig! Es ging erst, als ich mit dem Auto lang durch den finsteren, einsamen Wald bei Zwettl ­gefahren bin. Mit dem Wolfskind will ich sagen: Dieser Mensch hat wohl etwas mitbekommen, das er nur mit großer Kraftanstrengung beeinflussen konnte.

Hat er das selbst auch so empfunden?
Er hatte immer das Gefühl, er trage etwas in sich, das ihn in eine Richtung schiebt. Er sagte zu mir: „Ich bin zum Vergewaltigen geboren. Und für jemanden, der zum Vergewaltigen geboren ist, hab ich doch recht lange durchgehalten.“

Er sagt nicht, „es ist passiert“, sondern „ich“. Also übernimmt er die Verantwortung.
Er hat den Wolf in sein Selbstbild integriert. Das ist meins, sagt er. Das bin ich.

Hat Fritzl das Märchen gelesen?
Ich bin für ihn nicht mehr zuständig. Er wollte in die Strafanstalt Garsten, also in meinen Zuständigkeitsbereich, das hat nicht geklappt. Jetzt ist er in Stein. Ich hab keinen Kontakt mehr zu ihm.

Haben Sie ihm geholfen?
Geholfen wahrscheinlich nicht. Das ist auch eine Altersfrage. Wenn man 73 ist, kann man das Bild, das man von sich hat, nicht so schnell über den Haufen werfen. Aber er hat sich offensichtlich gefreut, wenn ich kam. Wir sind immer allein im wochenendleeren Besuchertrakt gesessen, das war eine sehr vertraute Situation. Täter erzählen am Ende doch meistens viel. Weil kaum jemand der Versuchung widerstehen kann, so lange ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ist das Eitelkeit?
Stundenlang nur über sich zu reden – wer hat das nicht gern? Das ist ein Angebot, das man selten kriegt

Schwang dabei auch Stolz mit?
Nein. Stolz auf sein Verbrechen war Fritzl nicht. Er war nicht einmal stolz, es so gut organisiert zu haben. Er sagte: Leider hab ich es so gut organisiert, deswegen hat es so lang gedauert.

Er hat sich also gewünscht, es hätte ihn eher erwischt?
Gegen Ende sicher. Er war schon so ­unvorsichtig, dass er vor den Augen der Untermieter die volle Schubkarre zum Kellereingang geschoben hat. Da hätte nur jemand fragen müssen: Was tun Sie denn mit dem Zeug, wo kommt das hin?

Es wurde also weggeschaut?
Ich kenne die Ehefrau nicht und kann über sie nichts sagen. Nur so viel: Die Dauer des Verbrechens war nicht das ­Ergebnis von Fritzls Genialität, sondern der Bedingungen rundherum. In einer ­anderen Art Ehe, in einem anderen Haus hätte es nicht so lange dauern können.

Sie schreiben anhand anderer Fälle, dass viele Opfer von Kindesmissbrauch den Verrat der Mutter als noch schlimmer empfinden als den Übergriff des Vaters.
Das haben mir viele Opfer so gesagt. Die erleben den missbrauchenden Vater, in all seiner Gewalttätigkeit, als an ihnen interessiert, zugewandt. Und die wegschauende Mutter als desinteressiert, abgewandt. Das kann für ein Kind traumatisch sein.

In Ihrem Buch geht es um verschiedene Formen der Väter-Gewalt. Um sexuellen Missbrauch, um körperliche Misshandlungen, um Kindstötungen. Gibt es einen roten Faden, der das alles verbindet?
Ja. Fast immer geht es um Dominanz. Darum, dass man andere Menschen ­besitzt und damit Bestätigung sucht. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto deutlicher merke ich: Hinter den allermeisten Straftaten steckt ein Selbstwertproblem. Ich muss beweisen, dass ich wer bin, indem ich einem anderen etwas antue.

Das heißt: Vergewaltigung hat wenig mit Sex zu tun, und Kindesmissbrauch wenig mit Pädophilie?
Richtig. Es geht um Macht. Es geht darum, jemand Schwächeren unter sich zu fühlen, um sich stark zu fühlen. Es ist grauslich, aber es ist so, darum kreist alles. Dieses Grundthema steckt in Konflikten am Arbeitsplatz, in Partnerschaften, und hinter den meisten Gewalttaten, die ­Eltern an Kindern begehen. Auch scheinbar motivlose Delikte sind damit plötzlich erklärbar.

Gibt es da Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Nein, das ist allgemein menschlich. Körperlich sind Frauen gegenüber Männern zwar meistens im Nachteil, aber gegen das Baby ist man immer der Stärkere.

Dass ein Vater seine Kinder züchtigen ­durfte, war jahrtausendelang normal. Jetzt ist erst die erste Generation von Kindern in einer Rechtslage aufgewachsen, die Gewalt an ihnen ächtet.
Ja, da probieren wir gerade etwas komplett Neues aus.

Galt sexueller Missbrauch ebenfalls als normal?
Sexualität war immer mit mehr Tabus ­belegt als Gewalt. Aber man muss sich nur fragen: Warum war Inzest stets ein derart starkes Tabu? Wenn eh keiner auf die Idee käme, müsste man es ja nicht verbieten.

Heute gilt sexueller Missbrauch von Kindern als das allerschlimmste Delikt überhaupt.
Mir hat noch niemand erklären konnen, warum der Missbrauch an einem Kind verwerflicher sein soll als der Sexualmord an einer erwachsenen Frau.

Und es gibt so genannte „Kulturdelikte“, wie Ehrenmorde, an die spezielle Maßstäbe angelegt werden …
Diese Unterscheidung ist ein Blödsinn. Ein türkischer Ehrenmord ist im Prinzip genau dasselbe wie ein klassisch österreichischer Eifersuchtsmord. Bloß versucht man, das eine als „fremd“ zu definieren, um es sich vom Leib zu halten.

Warum interessieren Sie sich überhaupt für Gewaltverbrecher?
Aus Neugier. Ich will herausfinden, wie eine Tat zustande kommt. Das hat etwas Detektivisches. Ich war während meines Studiums viel in England, dort boomten damals ­gerade die True-Crime-Geschichten, und ich fuhr immer mit kiloweise Büchern heim.

Aktenzeichen XY hat Ihnen nicht gereicht?
Nein. Wo ist wer gerannt, und wer hat ihn dabei gesehen … Das war mir zu faktisch, zu langweilig. Ich wollte wissen: Warum? Eigentlich wollte ich deswegen in die ­normale forensische Pathologie, ich wollte Leichen aufschneiden. Nur war es mir 1986 unmöglich, dort eine Ausbildungsstelle zu bekommen.

Weil Frauen keine Leichen aufschneiden sollen?
Es galt als unweiblich. Frauen konnten höchstens Kinderärztinnen werden oder Hautärztinnen, oder Psychologinnen, weil es da um Gefühle geht. Aber dann bin ich drauf gekommen, dass die Neurologie auch ein detektivisches Fach ist, und bin in der Psychiatrie gelandet. Das hat dann gepasst. Da dürfen Sie so neugierig sein wie nirgendwo sonst.

Wenn man ein Verbrechen verstehen will, wird oft unterstellt, man möchte es entschuldigen.
Ja, das wird ständig verwechselt. Das ist unerträglich. Ich habe dieses Buch ­geschrie­ben, weil ich die individuelle Verantwortung betonen will: Ein Täter weiß meistens, was er tut. Aber gleichzeitig versuche ich zu zeigen, dass man nicht immer sofort feststellen kann, wer Täter und wer Opfer ist. Manchmal verschwimmt das in ein und derselben Person.

Wo hört bei Ihnen das Verstehen auf?
Grausamkeit halte ich ganz schlecht aus. Wenn Sadismus im Spiel ist, die Freude daran, jemanden zu quälen und in Angst zu versetzen. Ich habe vermutlich ein ­Gespür dafür, das zu erkennen.

Gab es diese sadistische Komponente auch im Fall Fritzl?
Ja. So einsichtig er auf der faktischen Ebene war, so sehr hat er die sadistischen Aspekte geleugnet. Darüber konnten wir gar nicht reden.

Woran haben Sie den Sadismus erkannt?
Ich bin in den Keller hinuntergegangen. Das war beklemmend. Da sehen Sie zum Beispiel eine halbe Wand, die volltapeziert ist mit Bildern von Kindern, die in der Sonne am Wasser spielen. Und Sie wissen, dass der Mensch, der die Tochter samt Kindern hier eingesperrt hat, auch die Bilder hinuntergebracht hat, damit alle sie jeden Tag anschauen. In solchen Momenten wird einem einiges klarer. Da kann man spüren, wie subtil Grausamkeit funktioniert.

Weiterlesen
Heidi Kastner: „Täter Väter – Väter als Täter am ­eigenen Kind“ (Überreuter).
Dossier Männergewalt (1/10)
 

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