Mutige Kämpferin verloren

Nawal el Saadawi: "Ich war furchtlos!" - Foto: David Degner/Getty Images
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Ich habe nie darüber nachgedacht, was mit mir nach meinem Tod geschehen würde. Tatsächlich glaube ich nicht daran, dass ich wirklich sterben werde. Ich höre, jeden Tag, von vielen Menschen, die sterben – aber doch nicht ich! In den 1950er-­Jahren habe ich Neurologie an der Medizinischen Fakultät studiert, wo ich auch das menschliche Gehirn erforschte. Was ich herausgefunden habe: Der menschliche Geist kann jeden Gedanken aufnehmen – bis auf die Idee seines eigenen Todes.

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Das Beste wäre, man würde sich an mich als oppositionelle Autorin erinnern

Wenn ich nun darüber nachdenke, wie andere sich an mich erinnern sollen, so wäre es das Beste, wenn sie sich meiner als Freidenkerin/unabhängigen Geist und kreative oppositionelle/dissidente Autorin erinnern, die die bestehenden herrschenden Mächte, ihre Werte und ihren Glauben herausforderte. Seit meiner Kindheit träume ich von einer besseren, menschlicheren Welt, mit mehr Gerechtigkeit, größerer Freiheit und Gleichheit zwischen allen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Religion, ihrer Klasse, ihrer Nationalität, ihrer Rasse, ihres Glaubens, ihrer Farbe oder was auch immer.

Ich wünsche mir, dass man sich daran erinnert, wie furchtlos ich war, ohne Angst vor der Strafe der Autoritäten, weder der im Himmel noch der auf Erden. Als Kind entdeckte ich, dass Gott mir gegenüber ungerecht war. Er hatte meinem Bruder mehr Rechte gegeben als mir, weil er ein Junge war – und ich ein Mädchen. In der Schule sagte der Lehrer zu mir, dass Gott mich im Höllenfeuer brennen lassen würde, wenn ich seine Gerechtigkeit in Frage stellen würde.

Gott, wie soll ich als Mädchen an Gerechtigkeit glauben können?

Ich aber fand viele Verse in der Bibel und im Koran, die Mädchen gegenüber den Jungen benachteiligten. Also habe ich Gott einen Brief geschrieben: „Lieber Gott. Wenn du unfair zu mir bist, weil ich ein Mädchen bin, und meinen ­Bruder mir bevorzugst, obwohl ich besser in der Schule bin als er – wie soll ich da an deine Gerechtigkeit glauben?“ Ich war damals ein Kind von acht Jahren. Nun bin ich 87 Jahre alt. Und ich habe immer noch keine Antwort aus dem ­Himmel bekommen.

Viele Jahre meines Lebens habe ich damit verbracht, Medizin zu studieren, Philosophie, Religion, die Geschichte der Vielgötterei und des Monotheismus, Physik und die Entstehung des Universums. Und ich glaube nicht an die Schöpfungstheorie, die besagt, dass das Universum in sechs Tagen durch einen männlichen Gott erschaffen wurde, der die männlichen Gläubigen im Paradies mit großartigen sexuellen Vergnügungen von vielen Jungfrauen belohnt.

Vor allem möchte ich, dass man sich an mich erinnert als ein Kind, dass keine Angst davor hatte, anders als die anderen Kinder zu sein, die gehorchten, fügsame und gottesfürchtige Mädchen und Jungen waren.

Meine Großmutter führte die Menschen des Dorfes gegen den Bürgermeister an

Ich wurde in eine große Familie hineingeboren. Ich hatte drei Brüder und fünf Schwestern. Ich war anders als sie. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht habe ich einige Gene von meiner Großmutter väterlicherseits geerbt? Sie war eine arme Bäuerin, die sehr jung ihren Ehemann verlor. Er starb, verblutete, an Bilharziose, einer Tropen-Krankheit, die viele Bauern schon in jungen Jahren dahinrafft. Meine Großmutter wurde eine Witwe, mit sechs Töchtern und einem Sohn, der einmal mein Vater werden würde. Sie war jung und stark. Sie arbeitete mir ihren eigenen Händen auf den Feldern. Und sie hungerte, um ihren Sohn zur Schule und zur Universität nach Kairo zu schicken.

Er wurde ein hochgebildeter Mann, eine geeignete Partie für meine Mutter, die aus der oberen Mittelschicht stammte. Seine hart arbeitende, bäuerliche Mutter hatte entschieden, dass ihr Sohn ein respektabler, gebildeter Mann werden würde, der nicht so jung würde sterben müssen wie sein Vater.

Meine Großmutter lehnte sich gegen die Autoritäten des Dorfes auf, die sie und die anderen Bauern ausbeuteten, ihnen ihre Baumwollernte raubten und nach Großbritannien verschifften. Sie führte die Männer und Frauen des Dorfes in einer Rebellion gegen den Bürgermeister an, und gegen den König.

Schon ihre Großmutter war von der Dorfpolizei getötet worden, weil sie rebellisch war. Aber meine Großmutter war intelligenter, schlauer. Sie hatte verstanden, dass sie die Männer und Frauen ihres Dorfes mit ins Boot nehmen musste, um gegen die Ungerechtigkeit und Diktatur aufzubegehren. Sie überlebte, weil sie von den anderen Bauern unterstützt wurde. Und sie zweifelte nie, dass sie gewinnen würde – entgegen aller Widerstände und Hindernisse.

Von meiner Großmutter habe ich gelernt, an mich selbst zu glauben

Ihr Selbstbewusstsein habe ich geerbt. Von ihr habe ich gelernt, dass Solidarität zwischen Frauen und zwischen Armen unerlässlich ist, um Unterdrückung zu überwinden. Aber vor allem lernte ich, an mich selbst zu glauben.

Meine Mutter kam aus einer Familie der oberen Mittelschicht, aber auch sie rebellierte gegen ihre Familie und ihre Klasse. In der Schule nahm sie an Demonstrationen der Studenten gegen den König und die britischen Kolonialherren teil. Ihr autoritärer Vater, ein Militär, zwang sie, meinen Vater zu heiraten, der ein guter Ehemann war. Doch meine Mutter hatte andere Träume, die nichts mit Heirat und Mutterschaft zu tun hatten. Sie wollte eine ­kreative Wissenschaftlerin sein: etwas erfinden, dass Armut und Krankheit in Ägypten beenden würde.

All ihre Träume zerschlugen sich. Sie starb jung, im Alter von 45 Jahren, nachdem sie neun Kinder zur Welt gebracht hatte.

Von meiner Mutter lernte ich, dass eine Heirat niemals mein Lebensziel sein würde. Ich brachte nur zwei Kinder zur Welt, jedes von einem anderen Ehemann. Ich ließ mich von drei Männern scheiden – meiner Kreativität und meiner Schriftstellerei zuliebe. In meinem Land ist Scheidung für Frauen ein Stigma, aber ich vertraute auf mein Urteil.

Ich möchte dafür in Erinnerung bleiben, dass ich anders war und in dem Wissen lebte, dass nichts mich würde brandmarken können noch mir zur Ehre gereichen – nichts als meine eigene Arbeit.

Viele Jahre lang arbeitete ich als Ärztin, aber ich war kritisch gegenüber dem Arztberuf. In einem patriarchalen, kapitalistischen System wird alles, auch die Gesundheit und die Menschen selbst, auf dem so genannten „Freien Markt“ zu einer Ware. Ärzte verdienen immer mehr Geld und arme Menschen werden immer kränker. Die medizinische Ausbildung ist sehr oberflächlich und lehrt weder Menschlichkeit noch kreatives Denken.

Ich wollte ein Mittel gegen die Tuberkulose finden, die zu jener Zeit eine unheilbare Krankheit war, aber die Gesundheitsbehörden entmutigten mich. Kreatives Schreiben rettete mir das Leben, trotz all der Gefahren, die kreatives Denken in einem unterdrückerischen System mit sich bringt.

Als Kind wurde ich beschnitten, heute kämpfe ich noch immer gegen dieses Verbrechen

Als Kind wurde ich – wie alle Mädchen in jener Zeit – beschnitten. Heute ist dieses Verbrechen als weibliche Genitalverstümmelung bekannt. Die meisten ägyptischen Ärzte führen solche Opera­tionen routinemäßig aus. Ich habe solche Ope­rationen an Mädchen und Jungen nie gemacht, ­sondern begann ab den 1960er-Jahren gegen die Ärzte zu kämpfen, die sie vornahmen. Dafür wurde ich von geistlichen Führern und den Gesundheits­behörden bestraft, ich verlor 1972 meine Arbeit im Gesundheitsministerium. Aber heute, nach 45 Jahren, kämpfen viele Ärztinnen und Ärzte in Ägypten und auf der ganzen Welt gegen dieses Verbrechen.

Ich möchte, dass man sich an mich erinnert als eine Ärztin und Autorin, die an den gesunden Menschenverstand glaubte. Tatsächlich ist es so, dass dieser gesunde Menschenverstand der einzige Weg ist zu kreativem Denken und Handeln, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst. Und Wissenschaft und Kunst sind untrennbar, so wie Körper und Geist eins sind.

Nawal es Saadawi im EMMA Interview

Nawal El Saadawi on feminism, fiction and the illusion of democracy - YouTube

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