Die öffentliche Hinrichtung der Kader K.

Kader K. in Hameln: "Vielleicht hilft mein Überleben ja anderen Frauen." - Foto: Sophie Mühlmann
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Was bleibt, wenn man dem Tod nur knapp entkommen ist? Im Fall von Kader K.: Traurigkeit, Schmerzen, aber auch Entschlossenheit. Und knapp 11.000 Euro. Die hat sie mit der Versteigerung des Fahrzeugs eingenommen, mit der ihr Exmann sie durch Hameln geschleift hatte. Ein Gericht hatte ihr den schwarzen VW Passat, Baujahr 2011, zugesprochen. Sie hat den Erlös an Waisenkinder in Kobane gespendet. Das hat die 29 Jahre alte Deutschkurdin auf Facebook mit den Worten kommentiert: „Somit wandelt sich das Böse zum Guten.“

Vor 17 Monaten, am 20. November 2016, ging Kader K. von der Wohnung der Mutter auf die Königstraße in der niedersächsischen Kleinstadt Hameln, um ihren damals knapp drei Jahre alten Sohn Cudi abzuholen. Er hatte das ­Wochenende bei ihrem früheren Mann verbracht. Wie so oft kam es zum Streit. Doch diesmal blieb es nicht bei den ­üblichen Drohungen.

Nurettin B. stach Kader K. auf offener Straße nieder. Zahllose Stiche trafen ihre Hände, mit denen sie das Messer mit der zwölfeinhalb Zentimeter langen Klinge abzuwehren versuchte. Ein Stich traf den Herzmuskel, einer die Milz. Dann holte Nurettin B. ein Beil aus seinem Kofferraum, schlug mit der stumpfen Seite auf Kader K.s Kopf und Oberkörper ein. Schließlich band er ein Seil um ihren Hals, befestigte es an der Anhängerkupplung seines Autos und gab Gas. 208 Meter weit schleifte er sie mit Vollgas durch Hameln, den gemeinsamen Sohn auf der Rückbank. Dann löste sich das zu einem Galgenknoten geknotete Seil. Kader K. blieb schwerverletzt liegen.

Jede einzelne der drei Attacken mit Messer, Axt und Seil hätte tödlich enden können. Die Ärzte diagnostizierten bei Kader K. ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades. Zweimal war sie klinisch tot, zweimal konnte sie wiederbelebt werden – im Rettungswagen und im Krankenhaus von Hameln. Dann wurde sie mit einem Hubschrauber zur Intensivstation der Uniklinik in Hannover geflogen.

„Die Ärzte sagen, es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe“, sagt Kader K. Mit beiden Händen umklammerte sie damals instinktiv das Seil und hielt es so von ihrem Hals fern. Seither hat sie Schmerzen in der rechten Körperhälfte. Weil sie mit dem rechten Arm mehr Kraft aufwenden konnte, vermutet sie. Sicher ist sie nicht: Ihre Erinnerung an die Tat setzt nach den Messerstichen aus.

Seit Kader aus der Klinik entlassen wurde, tut ihr nicht nur ihre eine Körperhälfte weh: Nacken, Schulter, Arm, Hand. Auch ihr Kopf und ihre Kopfhaut schmerzen, vor allem aber ihr Herz. Es fühlt sich an, als „hätte ich einen Fremdkörper in der Brust“. Mit einer grauen Wollmütze verdeckt sie die sichtbaren Narben auf ihrem Kopf. Gegen die unsichtbaren unternimmt sie nichts. Sie hat eine schwere posttraumatische Belastungsstörung, liegt nachts wach und fühlt sich müde und erschöpft. Tabletten sind ihr suspekt, Medikamente will sie nicht nehmen.

Kader K. ist klein und schlank und hat dunkle Augen, die mal traurig und mal entschlossen schauen. Auch im Café und in ihrer Wohnung nimmt sie die Mütze nicht ab – ihre Haare wachsen nicht mehr an den Stellen, an denen Nurettin B. ihren Schädel zertrümmert hat.

Ein Treffen mit Kader K. läuft nach ihrer Regie ab. Sie redet schnell und viel und über die Themen, die ihr am Herzen liegen. Das sind gar nicht so sehr ihr ­Ex-Mann und seine Tat. Das Projekt, das sie mit dem Autoverkauf und Spendenaufrufen unterstützt, baut ein Waisenhaus im syrischen Kobane und ist nach Alan Kurdi benannt, dem syrisch-kurdischen Jungen, der 2015 im Mittelmeer ertrank. Wenn sie von ihrem eigenen Martyrium spricht, klingt sie ungläubig und wütend. Wenn sie von dem toten Flüchtlingsjungen spricht, steigen ihr Tränen in die Augen.

Früher wollte Kader K. einmal Jura studieren, ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zum Beruf machen. Doch die Schulbildung dafür fehlte ihr und seit der Attacke wohl auch die Kon­zentrations­fähigkeit. Manchmal träumt sie nachts, dass sie aufwacht und ihre Familie nicht mehr da ist. Dann will sie aus Angst vor weiteren Albträumen nicht wieder einschlafen und hält sich wach. Ihre Angst ist nicht unbegründet: Eltern und Schwester werden in Deutschland nur ­geduldet und sind von Abschiebung ­bedroht.

„Noch mal alleine zu sein würde ich nicht überleben“, sagt sie. Als Jugend­liche in Deutschland fehlten ihr die Eltern. Ohne die beiden war sie als Zwölfjährige mit ihrem älteren Bruder und dessen Frau aus dem kurdischen Süd­osten der Türkei übers Mittelmeer nach Deutschland gekommen, in einem winzigen Boot. Bei Auseinandersetzungen zwischen der kurdischen PKK und dem türkischen Militär gab es auch damals Tote. Kader K.s Vater ist mehrmals verhaftet worden. Erst elf Jahre später kam die Mutter zu ihren Kindern nach Deutschland, der Vater erst im vergangenen Jahr.

Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit war es auch, die Kader K. heiraten ließ. 2013 lernte sie Nurettin B. auf einer Kurden-Demonstration kennen. Zuvor hatte sie ihn nie auf Demos gesehen, doch jetzt war er frisch getrennt und auf der Suche. Ein älterer Mann aus Hameln arrangierte ein Treffen. Wenig später hielt B. bei Kader K.s Mutter auf Knien und in Tränen aufgelöst um die Hand der Tochter an.

Kader K. hoffte, dass die Liebe zu dem zehn Jahre älteren Mann mit der Zeit kommen würde. Doch schon bald nach der Hochzeit begann er, sie als Hure zu beschimpfen. Frauen seien Sklaven, sagte er, und müssten den Mund halten. Erst wollte er ihr das Rauchen verbieten, dann Treffen mit Freundinnen, schließlich die Besuche bei ihrer Mutter.

Ein Jahr nach der Hochzeit zog Kader K. aus. Eine Familienrichterin verurteilte Nurettin B. zu monatlichen Unterhaltszahlungen von 768 Euro. Als er sich weigerte, wurde sein Gehalt gepfändet. Im Tatfahrzeug fanden die Ermittler eine handschriftliche Notiz: „Jetzt wird sie von mir gepfändet. Game over.“

Als B. sich der Polizei stellte, sagte er zwei Sätze: „Ich war’s.“ Und: „Zu 99 Prozent haben die Richterin und das Jugendamt Schuld an dem, was passiert ist.“

In Berichten über die Tat war von einer arrangierten Ehe die Rede und von archaischen Verhältnissen bei den Kurden. Diese Schlagworte helfen aber nur bedingt weiter, die Tat zu verstehen, zumindest, was Kader K. betrifft. Sie ist tief religiös, betet oft fünfmal täglich. Zugleich ist sie laut und selbstbewusst, raucht, trägt Jeans und hat ihr Haar vor der Attacke nie bedeckt.

Kader bewundert die Kämpferinnen der Kurdenmilizen im Syrien-Krieg und reist für prokurdische Demonstrationen durch Deutschland und Europa. Ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn treibt im Zusammenwirken mit Nachrichten und Gerüchten teils wilde Blüten. Sie ist überzeugt, das Jugendamt gehe absichtlich nicht gegen pädosexuelle Täter vor, und die deutsche Regierung wolle zusammen mit dem türkischen Präsidenten die ­Kurden ausrotten. Warum sonst sollte Deutschland Waffen an Präsident Erdoğan liefern? Sie kann sich schnell in Rage reden.

Kader hat sich nie viel gefallen lassen. In SMS, die vor Gericht verlesen wurden, beschimpfte sie Nurettin B. Zum hilflosen Opfer wurde sie erst im Moment des Mordversuchs. Doch schon als sie mit heftigen Wunden und Schmerzen, Schläuchen und Kanülen aus dem künstlichen Koma erwachte, hörte sie wieder auf, es zu sein. „Fahr mich sofort nach Hause zu meinem Sohn“, befahl sie ihrem Bruder, der an ihrem Krankenbett gewartet hatte, bis sie aufwachte. Er lachte. „Das würde ich machen, wenn du es zum Auto schaffen würdest.“

Ihr früherer Mann, sagt sie, war ganz anders als sie. Nicht politisch und auch nicht religiös – auch wenn seine Tat an Foltervideos der islamistischen Terrormiliz IS erinnert. „Er ist einfach nur dumm und rückwärtsgewandt und wollte seine Frau so unterdrücken, wie sein Vater seine Mutter unterdrückt hat.“ Ihr ist wichtig, dass das nichts mit dem Islam zu tun hat. Vielleicht mit der kurdischen Kultur. Leider gebe es viele türkische Männer, Väter und Brüder, die Frauen unterdrückten.

Kader K. ist inzwischen überzeugt, dass die meisten Männer schlecht sind, Herkunft und Kultur hin oder her. Für schlecht hält sie auch das Jugendamt, das ihren Sohn nach der Tat erst mal in ein Heim brachte und nicht zu seiner Großmutter. Und die Polizei, bei der sie zwei Tage vor der Tat die Morddrohungen ­anzeigte. Die machte eine so genannte Gefährderansprache und hielt die für ­erfolgreich – eine grobe Fehleinschätzung.

Wütend macht Kader auch, dass der Täter, wie sie ihren ehemaligen Ehemann inzwischen nur noch nennt, mit 14 Jahren Haft der Höchststrafe entging. Vor Gericht zeigte er Reue und sagte ihr eine hohe Entschädigungszahlung zu. Die Reue war gespielt, davon ist sie überzeugt. Von dem versprochenen Geld hat sie noch keinen Cent gesehen. Die kleine Wohnung, in der sie mit ihrem Sohn lebt, kann sie sich nur dank Sozialhilfe und Spenden aus der Bevölkerung leisten.

Wenn Kader von dieser Hilfsbereitschaft erzählt und davon, wie fremde Menschen sie auf der Straße grüßen, manchmal sogar umarmen, ist sie wie ausgewechselt. Diese Unterstützung treibt sie an. Ebenso wie das Wissen, unbewaffnet überlebt zu haben gegen einen dreifach bewaffneten, größeren und stärkeren Mann, der jetzt 100 Kilometer entfernt im Gefängnis sitzt. Das sollen alle wissen, deshalb geht sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit. Sie will nicht, dass ­irgendjemand denkt, sie würde sich verstecken: „Und vielleicht hilft meine ­Geschichte ja anderen Frauen.“

Am meisten Kraft, sich trotz Schmerzen und Schlaflosigkeit nicht aufzugeben, gibt Kader K. ihre Familie, vor allem ihr inzwischen vierjähriger Sohn. Als Nurettin B. auf sie losging, rannte sie nicht weg, sondern zur Hintertür des Autos. Sie wollte Cudi in Sicherheit bringen. An ihn dachte sie, als sie die Messerstiche abwehrte. „Mama, er hat dir aua gemacht“, sagt er manchmal. Auch er schläft schlecht. Sie hofft, dass er sich dennoch gut entwickelt. Vor allem soll er nicht das Frauenbild seines Vaters übernehmen. „Das wäre das Schlimmste, was ich meinem Sohn antun könnte.“

Weiterlesen:
Ulrich Behmann: Novemberwut. Der Fall Kader K. – ein Verbrechen, das die Welt erschüttert hat (C W Niemyer, 15 €).

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