Mette Frederiksen: Die Wikingerin

Dänemarks Regierungschefin Mette Frederiksen. - Foto Emil Helms/Ritzau Scanpix/AFP/Getty Images
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Dänemark mag ein kleines Land sein, aber es hat große Frauen. Da wäre erst einmal Königin Margrethe. Nicht nur, dass sie die andere Queen, über die alle Welt spricht, körperlich überragt. Sie ist in jeder Hinsicht anders als die britische Kollegin: Sie redet, wie ihr der Mund gewachsen ist, hat Simone de Beauvoir übersetzt, fährt Rad, malt, entwirft Kleider und bis vor kurzem rauchte sie auch noch Kette. So viel Republik war selten in einer Monarchin.

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Dann ist da Margrethe Vestager, die EU-Kommissarin. Auch sie stellt ihre Chefin, über die alle Welt spricht, in den Schatten. Denn anders als Ursula von der Leyen kann Vestager konkrete Erfolge als veritable Drachentöterin vorweisen im Kampf gegen die US-Multis.

Nichts ist faul im Staate Dänemark, im Gegenteil: Es läuft gut!

Und dann ist da noch Mette Frederiksen, Dänemarks Regierungschefin. Sie ist so direkt, unkompliziert und zupackend wie die Königin und die Kommissarin zusammen. Und noch mutiger. Mainstream ist ihre Sache nicht. „Danmark først“ lautet ihr Motto, und entsprechend souverän fertigte sie den Erfinder von „America First“ ab: Als Donald Trump ihr Grönland abkaufen wollte, lachte sie ihn aus. 

Frederiksen und ihre Landsleute strafen Hamlet Lügen: Nichts ist faul im Staate Dänemark. Im Gegenteil: Es läuft gut, besser als bei den meisten anderen Europäern. Die wortkargen skandinavischen Nachbarn verspotten die DänInnen gerne als „Sizilianer des Nordens“ – ein wenig leichtlebig und frivol. Tatsächlich aber eint sie der Sinn für soziale Verantwortung. Ihr Gemeinschaftsgefühl ist genauso stark ausgeprägt wie ihr Gerechtigkeitsempfinden. Als kleines Volk von knapp sechs Millionen wissen sie, dass sie zusammenstehen müssen. Sie sind mutig und stolz auf ihr Land. Der Dannebrog, die dänische Flagge, weht in jedem Garten.

Das erinnert an die Schweiz, die ihr Kreuz auch gerne flattern lässt. Tatsächlich werden die DänInnen oft als „Schweizer ohne Berge“ bezeichnet. Doch das stimmt nicht ganz. Im Gegensatz zu den höflichen Eidgenossen pflegen DänInnen im täglichen Umgang eine derart brutale Direktheit, dass selbst die nicht für ihr Taktgefühl bekannten Deutschen manchmal zurückprallen. DänInnen entschuldigen sich selten, und für „bitte“ haben sie noch nicht einmal ein eigenes Wort.

Und auch heute wieder fahren sie gut mit diesem ausgeprägten solidarischen Zusammengehörigkeitsgefühl – zu sehen im Umgang mit den größten Herausforderungen unserer Tage: dem Krieg in der Ukraine, der Corona-Pandemie und der Migrantenkrise.

Pragmatisch und ohne Gewissensqualen stimmten zwei Drittel der DänInnen einer Rückkehr in die Verteidigungsstrukturen der NATO zu. Keine Frage: Angesichts der russischen Aggression gab es keine Alternative. Und in Sachen Corona wurden trotz steigender Inzidenzen alle Beschränkungen aufgehoben – was in Deutschland Fassungslosigkeit hervorrief. 

Doch vor allem aber in der Migrationsfrage fährt Dänemark schon lange einen konsequenten Kurs. Einer, der dem europäischen Mainstream nicht minder zuwiderläuft als Ungarns Alleingänge. Was uns zurückbringt zu Mette Frederiksen, der Sozialdemokratin, die so manches Mal so gar nicht sozialdemokratisch wirkt – oder was man dafür hält. 

Dass sie nicht in Schablonen passt, bewies die aufstrebende Politikerin schon 2014, als sie sich in einem Zeitungsinterview um den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei bewarb. Eigentlich war ihre Aussage banal, doch aus Politikermund bemerkenswert: „Als SozialdemokratInnen können wir zwei Wege gehen“, sagte sie, „Entweder können wir denken, dass wir recht haben und die DänInnen unrecht. Oder wir können uns die Mühe machen nachzudenken, ob es nicht sein könnte, dass die DänInnen recht haben. Dann müssen wir sehen, ob nicht wir etwas besser und klüger machen können.“

Das verfing bei den WählerInnen. Sie wählten die Tochter einer Lehrerin und eines Druckers aus Aalborgs Arbeiterviertel, die zu dem Zeitpunkt alleinerziehende Mutter von zwei Kindern war, vor drei Jahren ins höchste Regierungsamt. Allerdings wurde der neuen Staatschefin angekreidet, wie wenig Frauen in ihrem ersten Kabinett vertreten waren: nur sieben von 20. 

Schon als junge Politikerin wollte sie die Freierbestrafung

Frederiksen ist nicht bekannt für eine speziell auf Frauen-Interessen ausgerichtete Politik. Egal, ob ein Mann oder eine Frau die Geschäfte führt, beide haben gefälligst Politik für alle Dänen und Däninnen zu machen. Gleichstellung als Normalität. Nur eine Ausnahme gibt es: Schon als junge Politikerin kämpfte Frederiksen leidenschaftlich gegen die Akzeptanz der Prostitution. Dennoch drang sie in Dänemark bis jetzt nicht mit ihrer Forderung durch, ähnlich wie in Schweden, Norwegen und Island die Freier strafrechtlich zu verfolgen. Allerdings: Zuhälterei und der Betrieb von Bordellen sind illegal.

Bis heute schwimmt Frederiksen auf einer ungebrochenen Woge der Popularität. Selbst kleinere Skandale steckt sie weg. Als man ihr Heuchelei vorwarf, weil sie ihre eigenen Kinder auf eine Privatschule schickte, was sie zuvor gegeißelt hatte, drehte sie das Argument einfach um: Ihre politische Arbeit dürfe der Ausbildung ihrer Kinder nicht im Wege stehen. Seit 2020 ist sie mit dem Fotografen Bo Tengberg verheiratet.

Sie selbst stammt aus einer Familie, die seit drei Generationen fest in der Arbeiterbewegung verankert ist. In ihrer Jugend war sie ganz links, mit 15 trat sie der Jugendorganisation der Sozialdemokraten bei, mit 24 wurde sie jüngste Abgeordnete im Kopenhagener Parlament.

Für ihre Migrationspolitik wird Frederiksen oft in die rechte Ecke gestellt – vor allem von ausländischen Medien. Umfragen in Dänemark hingegen belegten regelmäßig, dass 75 Prozent der Bevölkerung in dieser Frage für eine konsequente Politik sind.

Frederiksen lief offene Türen ein, als sie jüngst erklärte, Dänemark gewehre nur Asyl für die in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Gründe: Bei Gefahr für Leib und Leben aus religiösen, rassischen oder politischen Gründen. Wirtschaftsflüchtlinge werden umgehend abgewiesen. Und das, woran Boris Johnson in Großbritannien scheiterte, plant Dänemark schon seit langem: Abgelehnte Asylbewerber sollen im zentralafrikanischen Ruanda die Bearbeitung ihrer Anträge abwarten. 

In Schulen darf nur noch Dänisch unterrichtet werden. Bei Einbürgerungszeremonien sind Neu-DänInnen zum Handschlag mit den BeamtInnen verpflichtet. Im Gegensatz zu den SozialdemokratInnen in der Nachbarschaft verknüpft Frederiksen ihre Haltung mit ihren sozialdemokratischen Überzeugungen, gewinnt damit immer erfolgreicher das Image als Partei der Arbeiterklasse zurück: „Es wird mir zunehmend klar, dass der Preis für unregulierte Globalisierung, Massenzuwanderung und Personenfreizügigkeit von den unteren Klassen bezahlt wird“, erklärt sie. Die Menschen, die gut verdienten und in guten Gegenden leben würden, seien nunmal nicht die, die unter unregulierter Migration litten. Mit anderen Worten: Wollen die SozialdemokratInnen ihre traditionellen WählerInnen nicht an die Le Pens, Weidels oder Orbáns dieser Welt verlieren, dürfen sie nicht weiter die Interessen der eigenen Bevölkerung verraten.

Unterstützt wird die Ministerpräsidentin von Integrationsminister Mattias Tesfaye. Der gelernte Maurer ist Sohn einer Dänin und eines äthiopischen Migranten. Auch er befürwortet das Prinzip Repatriierung statt Integration. Vor allem der politisierte Islam gilt in Dänemark heute als Integrationshindernis. Tesfaye ist überzeugt, dass der „sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat nur überleben kann, wenn wir die Migration unter Kontrolle haben“. Und er fügt hinzu. „Die Hälfte aller MigrantInnen verdient nach den Regeln der Genfer Konvention keinen Schutz.“

Die europäischen GenossInnen sind darüber irritiert, ja verärgert. Als erstes Land der EU erklärte Dänemark im März vergangenen Jahres Syrien für „sicher“. Da es keinen Grund mehr gebe, nicht in ihre Heimat zurückzukehren, verloren syrische Flüchtlinge ihren Schutzstatus. Abgeschoben werden sie zwar nicht, aber sie sind in Asylzentren untergebracht und dürfen nicht arbeiten. 

Andere MigrantInnen hingegen werden zum Arbeiten verpflichtet, wenn sie seit drei Jahren staatliche Unterstützung beziehen, sich um keinen Job bemühen und immer noch nicht Dänisch sprechen. „Wir wollen eine neue Arbeitslogik einführen, bei der die Menschen die Pflicht haben, einen Beitrag zu leisten und sich nützlich zu machen“, begründete Tesfaye die Maßnahme. „Wenn sie keine reguläre Arbeit finden, müssen sie für ihre Zuwendungen arbeiten.“

Dies entspricht dem tiefverwurzelten Gemeinschaftsgefühl der sechs Millionen DänInnen. Sie achten darauf, ob etwas für die Gesellschaft insgesamt nützlich ist oder nicht. In einem Land, in dem „skattefar“ – der „Steuerpapa“ – den Bürgern ziemlich tief in die Taschen greift, möchte man schon wissen, wer wie viel wofür bekommt. In diesem Sinne veröffentlichte das Finanzministerium im Oktober letzten Jahres einen Bericht, in dem detailliert eine Kosten-Nutzen-Rechnung der Migration erstellt wurde. Demnach kosteten ZuwandererInnen aus dem außereuropäischen Ausland den Staat im Jahr vier Milliarden Euro – 1,4 Prozent des Bruttosozialprodukts. Westliche EinwandererInnen hingegen spülten knapp eine Milliarde in die Staatskasse.

Sie kämpft mit, gegen Stalking, Männergewalt, sexuelle Belästigung

Frederiksen bezeichnet den Kampf um die Gleichstellung von Frauen und Männern als einen der grundlegendsten Kämpfe, die derzeit ausgefochten werden. Und sie kämpft mit. Stalking, Männergewalt, sexuelle Belästigung und Missbrauch von Kindern werden härter bestraft. Dänemark hat zudem die soziale Kontrolle verschärft, etwa in Schulen. Frederiksen: „Kein Mädchen, keine Frau darf wegen vermeintlicher religiöser oder kultureller Eigenheiten in ihren Rechten beschnitten werden. Wir waren viel zu lange blind: Zwangsverheiratungen, Kontrolle der Jungfräulichkeit, patriarchale Gewalt. Wir dürfen Diskriminierung und Sexismus nicht länger hinnehmen!“ sagte sie in ihrer Rede zum Weltfrauentag 2020. Seit Januar 2021 stellt ein dänisches Gesetz klar, dass Sex ohne Zustimmung eine Vergewaltigung ist.

Das Gefühl sozialer Verantwortung dürfte den DänInnen auch helfen, die drohende Energie-und Wirtschaftskrise besser zu bewältigen als vergleichbare Staaten. Zwar hatte Russland Dänemark schon Anfang Juni den Gashahn zugedreht, doch war dies letztlich nur eine symbolische Maßnahme. Nur acht Prozent der dänischen Energie kommt aus Gas, und auch davon stammen 75 Prozent aus eigener Produktion. Erneuerbare Energien tragen fast 70 Prozent zum Energiemix bei, hauptsächlich aus der Windkraft – ein Spitzenplatz in der EU. Vor einem kalten Haus im Winter müsse niemand Angst haben, versicherte Klimaminister Dan Jørgensen.

Und abermals ergriff Mette Frederiksen die Initiative: Im Mai 2022 lud sie die Nordsee-Anrainer Belgien, Niederlande und Deutschland nach Esbjerg ein. Das Ziel: Das gemeinsame Meer zu einem grünen Energielieferanten zu machen. Die Federführung übernimmt Kopenhagen – das kleine Land mit seinen großen Frauen.

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