Dossier: China

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Sechs KorrespondentInnen berichten aus China für EMMA über die Lage der Chinesinnen. Die war vielleicht noch nie so chancenreich und so gefährlich wie heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die BewohnerInnen des bevölkerungsreichsten Landes der Erde sind auf dem Marsch zur Weltmacht, die vermutlich eines nicht zu fernen Tages die einzige Macht in Augenhöhe mit Amerika sein wird. 1,3 Milliarden ChinesInnen drängen in einer gigantischen Wirtschaftsoffensive der sozialistischen Volksrepublik auf den Weltmarkt, bestärkt durch ein Konglomerat aus zentraler Planwirtschaft und freier Marktwirtschaft. Auf die Landflucht in die Städte folgt eine Rückkehrwelle, und die Mobilsten sind dabei die Frauen, mal als Subjekt, mal als Objekt.

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Vier von zehn Chefs in Privatunternehmen sind heute weiblich und auch der Chef des größten Stahlkonzerns ist eine Frau. Gleichzeitig ist China das einzige Land auf der Welt, in dem die Selbstmordrate der Frauen höher ist als die der Männer. Denn vor allem die Frauen mussten innerhalb von nur drei, vier Generationen – und so manches Mal sogar innerhalb eines einzigen Lebens – das Ruder mehrere Male um 180 Grad rumreißen. So wurden aus den Konkubinen und Ehesklavinnen mit den verkrüppelten Füßen der Kaiserzeit ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Genossinnen im blauen Einheitsanzug der Maozeit und ab den 80ern die „modernen“ Chinesinnen von heute. Sie tragen das so widersprüchliche Erbe nicht nur in sich, sondern begegnen ihm Tag für Tag aufs Neue.
Es grassiert die Prostitution, doch ebenso die Rekonstruktion der Jungfernhäutchen; es steigt die Qualifikation, aber auch die Resignation. „Früher lebten die gebildeten Nebenfrauen in idyllischen, ummauerten Hofkomplexen mit Bambusgärten. Heute residieren die BWL-geschulten ‚Ernais‘, wie die illegalen Nebenfrauen heißen, in Großraumbüros aus Glas und Stahl und versehen für ihre Herren neben dem Bettservice auch die Korrespondenz oder Geldwäsche“, schreibt der in Deutschland lebende Literaturwissenschaftler Shi Ming. Er beklagt die Vorreiterrolle der Literatur bei der „Pornografisierung“ Chinas durch die „Shanghai Babies“ und andere. Der Text der italienischen Intellektuellen Rossana Rossanda, den sie während des Schau  Prozesses der zum Tode verurteilten Mao-Witwe Jiang Qing für EMMA schrieb, ist aus dem Jahre 1981 und scheint doch schon Geschichte zu sein. Im Peking von heute hängt zwar noch immer das Großporträt des großen Vorsitzenden am Eingang zur einstigen Kaiserstadt, doch der Name seiner Frau, die wie er führend war in der terroristischen Kulturrevolution, scheint wie ausgelöscht. Sie verkörpert heute für viele nur noch die dunklen Seiten Maos, der Mitte des 20. Jahrhunderts das Kaiserreich in die rote Republik führte. Übrigens: Auch die so genannten 68er, die zu Teilen stramm maoistisch waren und noch die rote Maofibel schwenkten wie die Bibel, scheinen alles vergessen zu haben. Wie schnell das geht, davon zeugen auch die aktuellen Reportagen und Porträts aus dem China des beginnenden 21. Jahrhunderts.
EMMA Juli/August 2005

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