Alice Schwarzer schreibt

Die Türken kommen

Artikel teilen

Die Dutzende persönlicher Briefe und Mails, die mich nach meiner Teilnahme an zwei TV-Runden zur Frage des EU-Beitritts der Türkei erreichten, scheinen mir symptomatisch für die Stimmung im Lande. Eine überwältigende Mehrheit begrüßte meine „klaren Worte“ für Freundschaft statt Beitritt. Nur eine Deutsche stimmte mir dabei mit deutlich rassistischen und antisemitischen Untertönen zu (eine pensionierte Lehrerin). Und eine Türkin bezichtigte mich des Rassismus, ja der Endlösung für Türken („Kopftuchträgerinnen nach Auschwitz?“).

Anzeige

Eine weitere Türkin fragte echt besorgt, ob es denn wirklich stimme, dass ich den Koran gleichgesetzt habe mit „Mein Kampf “, dieses Gerücht kursiere (Es stimmt selbstverständlich nicht: Ich habe die Islamisten gleichgesetzt mit den Faschisten). Ein Türke hingegen fürchtet, ich sei naiv, denn man müsse die aktuelle Führung der Türkei noch viel kritischer sehen, als ich es bereits tue („Erdogan ist ein Wolf im Schafspelz“). Und eine Deutsche schreibt enttäuscht, ich wäre doch bestimmt auch für die Gleichberechtigung der Türkinnen, und gerade denen würde doch der Beitritt helfen. Die Mehrheit jedoch begrüßte meine „Kritik ohne Türkophobie“.

Wir sehen schon an solchen Reaktionen, dass die Beantwortung der Frage nicht einfach ist. Zu viele (Res)Sentiments und Interessen spielen hinein. Hinzu kommt, dass zweieinhalb Millionen TürkInnen in Deutschland leben, von denen eine Mehrheit eingebürgert ist oder wird.

Gleichzeitig wächst die Anzahl der nicht integrierten TürkInnen. Die dritte Generation der Deutsch-Türken spricht schlechter Deutsch als die zweite, was an den Versäumnissen der Deutschen ebenso liegt wie an der Agitation der Islamisten. In den marginalisierten Ghettos geht ihre Saat der Verachtung von Demokratie und Verklärung des Gottesstaates auf. Die Zuläufe der Jungmänner zu diesen Rattenfängern sind alarmierend – die abnehmende Hilfe für die zwischen den Kulturen zerrissenen jungen Frauen und die in die Wohnungen eingeschlossenen Mütter nicht minder.

Selbstverständlich ist eine Ablehnung des Beitritts der Türkei keineswegs gleichzusetzen mit einer Ablehnung der TürkInnen in Deutschland oder der Türkei. Doch schon jetzt versuchen die Populisten aller Lager Profit zu schlagen aus der Debatte. Die CSU erwägt plötzlich eine „Unterschriftensammlung“ gegen den EU-Beitritt der Türkei – als stünden die Türken ante portas und hätten sie nicht noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte der „Prüfung“ vor sich – und die CDU widerspricht nur matt. Die Grünen empören sich erwartungsgemäß („politische Brandstifter“). Und die SPD ist zwar für den Beitritt, hört aber nicht auf zu versichern, das Ganze sei dennoch sehr fraglich (Kanzler Schröder erinnerte wiederholt daran, dass jedes einzelne EU-Land den Beitrittsprozess „jederzeit stoppen“ könne).

Wird hier etwa von allen Parteien innenpolitisch auf Stimmenfang gegangen – und das auf Kosten einer außenpolitisch existenziellen Frage? Hofft Schwarz-Schwarz WählerInnen abzugreifen am fremden-phobischen Rand und Rot-Grün im fremden-liebenden und türkischen Lager (80% der TürkInnen wählen links)? Das wäre fatal. Denn die Frage des EUBeitritts der Türkei ist ein sehr komplexes Problem, in dem, wie in einer russischen Puppe, gleich mehrere weitere Probleme stecken. Die Frage lautet: Was könnte ein Türkei-Beitritt bedeuten für Deutschland? Für Europa? Und für die Türkei?

Beginnen wir die Antwort mit einer vierten Frage: Wem nutzt der Beitritt der Türkei überhaupt? Zweien ganz gewiss, und die sind auch uneingeschränkt dafür: die Wirtschaft und Amerika.

Fangen wir mit der Wirtschaft an. Die hat natürlich ein Interesse an einer erweiterten Freihandelszone. Von der Türkei verspricht sich auch die deutsche Wirtschaft einen neuen Markt, allen voran die Rüstungsindustrie. Nur: Die Interessen der Wirtschaft sind keineswegs immer identisch mit denen der Menschen, und schon gar nicht zwingend mit dem eines wirklich geeinten, gerade mühsam zusammenwachsenden Europas.

Kommen wir zu den Motiven der USA. Die Türkei ist in der Tat eine Brücke zwischen Europa und Asien. Sie grenzt im Osten an Aserbaidschan, den Irak und Syrien – alles Länder, deren Bevölkerungsmehrheit muslimisch ist und die massive Probleme mit der Infiltration und Agitation fundamentalistischer Kräfte haben. Genau darum ist Amerika an einer EU-Mitgliedschaft interessiert: Nicht nur als Durchgangsland für die Pipelines, sondern auch als Bollwerk gegen den Islamismus.

Nur: Ein ganz ähnlicher Kalkül ist schon einmal gnadenlos ins Auge gegangen. Nämlich als Amerikas Strategen ab Mitte der 80er Jahre begannen, den so genannten „grünen Gürtel“ um den damaligen Feind Nr. 1 zu legen: die Sowjetunion. „Grün“ steht hier für die Islamisten und ihr grünes Märtyrerband. Diese Kräfte wurden von Washington gestützt, ja sogar gefördert (bis hin zu Bin Laden) – in der naiven Hoffnung, die Islamisten als Kämpfer gegen die Kommunisten funktionalisieren zu können.

Das klappte auch bis zu einem gewissen Punkt. Nicht nur in Afghanistan jagten die grünen Dschihad-Krieger die Rote Armee zum Teufel, bis hin nach Tschetschenien machten und machen sie den Postkommunisten zu schaffen (siehe die „Bräute Allahs“). Doch gleichzeitig lösten die Gotteskrieger sich mit Hilfe des Iran (Ideologie) und Saudi Arabiens (Dollars) vom amerikanischen Einfluss, machten sich selbstständig. Jetzt sitzen Kapitalisten und Postkommunisten in einem Boot – und zittern vor der heranbrandenden grünen Welle.

In der Türkei scheint Amerika heute ein ähnlich riskantes Spiel zu versuchen. Denn es drängt sich die Frage auf, ob der einst so überzeugte islamistische Hardliner und heutige Präsident Recep Tayyip Erdogan der Mann ist, auf den Amerika (und damit der Westen) jetzt setzt. Und diesmal als Bollwerk gegen die grüne Gefahr. Nur: Auf wen setzt Erdogan?

Lebenslauf und Lebenswandel des angeblich Bekehrten machen mehr als nachdenklich: Erdogan kommt aus ärmsten Verhältnissen, wurde früh politisiert und gehörte von Anbeginn an zur Rechtsaußenfront der Islamisten. Er war der Kronprinz des Führers der „Grauen Wölfe“, Necmettin Erbakan (dessen Neffe Mehmet Sabri Erbakan in Deutschland Gründer und bis 2002 Vorsitzender von Milli Görüs war). 1997 wurde Erdogan Bürgermeister von Istanbul und hatte nichts Eiligeres zu tun, als getrennte Busse und Badeanstalten für Männer und Frauen, sowie ein Alkoholverbot zu planen – und das Kopftuchverbot in Schulen, Universitäten und öffentlichen Ämtern abschaffen zu wollen.

Seit Kemal Atatürk (1881–1938) hat die Türkei eine so strenge Trennung von Staat und Religion wie Frankreich, strenger als das nach 1945 schlechtgewissige, halbherzige Deutschland. Der Garant für die Einhaltung dieser Trennung war bisher das Militär. Ohne die Generäle wäre die Türkei vermutlich schon von den populären Islamisten überrannt worden. Denn auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung gegen einen Gottesstaat zu sein scheint, gibt es eine beunruhigende Kluft zwischen der aufgeklärten Stadt- und der unaufgeklärten Landbevölkerung, dem modernen Westen und dem archaischen Osten und Norden des Landes.

Erdogan selbst hat nie ein Geheimnis aus seinen Positionen gemacht. Noch als Istanbuler Bürgermeister erklärte er: „Gott sei Dank bin ich für die Scharia“ und: „Man kann nicht gleichzeitig Säkularist und Moslem sein“. Und er ging noch weiter, zitierte öffentlich folgende Gedichtzeilen: „Die Moscheen sind unsere Kasernen/Die Kuppeln unsere Helme/Die Minarette unsere Bajonette/Und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Erdogan wurde zu drei Monaten Gefängnis wegen „Volksverhetzung“ verurteilt, die er 1999 antrat. Bei seiner Entlassung schien er vom Saulus zum Paulus gewandelt. Religion sei Privatsache, erklärte er, was zähle, sei die Wirtschaft.

Erdogan gründet die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und gewann 2002 die Wahlen. Unter seiner Präsidentschaft wurde ein rasanter Reformprozess eingeleitet, der in fast allen Punkten den Forderungen der EU Genüge tat, zumindest auf dem Papier: die Abschaffung von Folter und Todesstrafe, eine weitreichende Strafrechtsreform, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sowie kulturelle Rechte für Kurden und andere Minderheiten. Nur von den Rechten der Frauen war bei den Verhandlungen kaum die Rede, sie standen im Kleingedruckten.

Ob diese Gesetze nun auch mit dem gebotenen Nachdruck in die Sitten und Rechtsprechung umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Erdogan persönlich blieb auf jeden Fall seiner stramm fundamentalistischen Linie treu: Seine Frau und seine beiden Töchter sind islamistisch verschleiert (also mit dem schwarzen Abbindetuch noch unter dem Kopftuch) und sein Sohn hat jüngst mit Sondererlaubnis in einer arrangierten Ehe eine 16-Jährige geheiratet (Jungfrauengarantie inbegriffen, Verschleierung selbstverständlich).

Kein Wunder, dass sich gerade die Fortschrittlichen und Feministinnen in der Türkei viele Fragen stellen über ihre aktuelle politische Führung und deren wahre Ziele. Was also nutzt der Türkei heute mehr? Ein windiges Beitritts Versprechen, das so mancher Befürworter nur nährt, weil er davon profitiert – das aber gleichzeitig Erdogans Macht stärkt und das Militär schwächt? Oder eine Art „privilegierter Partnerschaft“, bei der die Interessen an den Menschen in der Türkei und einem wirklichen Demokratisierungsprozess an erster Stelle stehen? – Vom guten alten Europa, das mit der Osterweiterung gerade den Mund schon sowieso ein bisschen sehr voll genommen hat und den Brocken erst verdauen muss, ganz zu schweigen.

Jenseits aller aktuellen Positionen von Pro & Contra verläuft die wahre Linie also keineswegs zwischen Türken und Deutschen, sondern zwischen DemokratInnen und DemagogInnen. Er sei heute kein Islamist mehr, behauptet Präsident Erdogan – doch seine Ehefrau und Töchter sind verschleiert.

Alice Schwarzer

Artikel teilen
 
Zur Startseite