Friedensnobelpreis verdient!

Die Jesidin Nadia Murad und der kongolesische Arzt Dennis Mukwege wurden ausgezeichnet.
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Am Ende ihrer Verkündung sagte Jurymitglied Berit Reiss-Andersen noch einmal ganz deutlich, worum es geht: „Eine friedlichere Welt ist nur möglich, wenn Frauen und ihre fundamentalen Rechte und ihre Sicherheit anerkannt und geschützt werden.“ Soweit die Botschaft aus Oslo an die Trumps und Erdogans, an die Machos und Islamisten der Welt.

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Die Frau und der Mann, die das Nobelpreiskomitee aus 216 Personen und 115 Organisationen ausgewählt hat, kämpfen beide auf ihre Weise gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. Der kongolesische Gynäkologe Dennis Mukwege gründete 2008 seine Panzi-Klinik, in der er bis heute Tausende Frauen behandelt hat, die nach Vergewaltigungen schwer verletzt und sozial ausgestoßen ihren Weg ins ostkongolesische Bukavu fanden.

Aber Mukwege kämpft nicht nur vor Ort, sondern auch international: „Er hat immer wieder die Straflosigkeit der Täter angeprangert und die kongolesische Regierung und andere Länder dafür kritisiert, dass sie nicht genügend gegen sexuelle Kriegsgewalt gegen Frauen vorgehen“, erklärt die Nobelpreis-Jury.

Eine Ehrung für den Kampf gegen sexuelle Kriegsgewalt

Nadia Murad wurde im August 2014 vom IS entführt und in ihrer Gefangenschaft vielfach vergewaltigt. Nach ihrer Flucht erzählte sie unermüdlich ihre Geschichte, um die Welt darauf aufmerksam zu machen, dass immer noch Tausende Mädchen und Frauen dasselbe erlitten wie sie. „Nadia Murad hat ungewöhnlichen Mut gezeigt“, erklärt das Nobelpreis-Komitee. „Sie weigerte sich, die soziale Regel zu akzeptieren, dass Frauen über den erlittenen Missbrauch schweigen und sich dafür schämen sollten.“ Heute ist Murad die erste UN-Botschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel.

Es dürfte kein Zufall sein, dass die norwegische Jury ausgerechnet in diesem Jahr zwei KämpferInnen gegen Männergewalt gegen Frauen ehrt. Es ist das Jahr, in dem Frauen nicht nur in den USA, sondern in aller Welt das Ausmaß sexueller Gewalt öffentlich gemacht und deutlich gemacht haben, dass Männer kein selbstverständliches Recht auf Frauenkörper haben. Das Friedensnobelpreis-Komitee hat deutlich gemacht, dass es das genauso sieht.

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Nadia Murad: Die Kämpferin

Nadia Murad ist für viele Jesidinnen eine Heldin. - Foto: J. Galanakis/dpa
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Als Nadia Murad Basee Taha den Raum betritt, greifen hundert Hände nach ihr. Die junge Frau verschwindet zwischen den Smartphones, die ihr entgegengestreckt werden, und den Frauen, die sie umarmen und ihr die Wangen küssen. Die, die weiter hinten stehen, recken die Köpfe, suchen sie mit ihrem Blick. Nadia. Ihre Heldin.

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Der schlichte Gemeindebau des Jesidischen Zentrums in Köln-Kalk ist fast zu klein für all die Menschen, die gekommen sind, um Nadia zu sehen. Und um zu hören, was sie sagt. Zum Leiden des jesidischen Volkes im Irak. Zum so genannten Islamischen Staat, der viele Tausend ihrer Landsleute getötet hat und viele weitere Tausend verschleppte, um sie zu Sexsklavinnen für IS-Kämpfer zu machen. Nadia Murad war eine von ihnen. Sie konnte fliehen und ist seitdem weltweit unterwegs, um den Opfern eine Stimme zu geben und ihrem Schmerz ein Gesicht. Es ist ihr eigenes.

Für ihre Lands-
leute ist sie eine Heldin. Woher nimmt sie ihre Kraft?

Nadia Murad ist sehr schmal und sehr blass. Ihre dunklen Haare fallen bis weit über die schmalen Schultern. Woher nimmt sie nur ihre Kraft? Die 21-Jährige hat MenschenrechtsaktivistInnen getroffen und PolitikerInnen. Sie hat im Dezember vor dem Sicherheitsrat der UN in New York gesprochen, hat von dem Grauen berichtet, das im August 2014 in Gestalt des so genannten Islamischen Staates in ihr Heimatdorf Kocho im Norden des Irak kam und ihr Leben, so wie sie es kannte, beendete. Ein unbeschwertes Leben sei es gewesen. Lehrerin habe sie werden wollen. Vielleicht für Geschichte. Dafür habe sie sich immer besonders interessiert. „Ich wusste nicht, was der IS ist oder was er tun würde. Ich wusste gar nichts.“  

Vor dem UN-Sicherheitsrat hat Nadia Murad Basee Taha eine Erklärung verlesen, hat nüchterne Worte gefunden für etwas, wofür es kaum Worte gibt. „Sie trennten Männer und Frauen. Sie führten uns in die Schule. Vom Fenster aus konnte ich sehen, wie sie die Männer töteten.“ Sechs ihrer Brüder und Halbbrüder werden an diesem Tag von den IS-Kämpfern ermordet, ebenso ihre Mutter. Die Angehörigen der jesidischen Religion gelten in den Augen der Terroristen als „Ungläubige“, als „Teufelsanbeter“. Das ist Grund genug, sie umzubringen. Nadia töten sie nicht. Sie wird mit anderen Frauen und Kindern mit dem Bus nach Mossul gebracht. Als Kriegsbeute für die Soldaten des IS. 

Man kann die Rede von Nadia Murad auf der Homepage der Vereinten Nationen immer noch aufrufen. Kann in jedem ihrer Worte die Anstrengung hören, die es sie kostet, ihre Geschichte zu erzählen. Sie spricht ohne Pause, als habe sie Angst, sonst nicht wieder beginnen zu können.

Das Gebäude, in das man sie in Mossul bringt, ist voller jesidischer Frauen und Mädchen. Sie werden an die IS-Kämpfer verteilt. Nadias Stimme wird brüchig, als sie von dem Mann erzählt, der sie schließlich mitnimmt. Sie erfährt, dass er eine Frau und eine Tochter hat – zu Gesicht bekommt Nadia die beiden nie. Sie wird eingesperrt, geschlagen und gedemütigt.

Nach drei Monaten vergessen ihre Peiniger einmal, die Türen zu verschließen. Nadia gelingt die Flucht. Über ein Hilfsprogramm kommt sie nach Deutschland, lebt inzwischen in der Nähe von Stuttgart. Ihre Schwester ist mit ihr in Deutschland, drei ihrer Brüder, die das Massaker in Kocho überlebten, sind in einem Flüchtlingscamp in Kurdistan. Ob sie sie je wiedersieht, ist ungewiss.

Sie hat zahllose Interviews gegeben, der Öffentlichkeit von IS-Kämpfern erzählt, die Kinder vergewaltigten; von Frauen, die sich selbst töteten, um dem Martyrium zu entgehen. In einem Haus in Mossul, in dem sie gefangen gehalten wurde, habe es einen Raum gegeben – voller Spuren des Leidens der Frauen. „An den Wänden war Blut. Und überall blutige Fingerabdrücke.“ Sie selbst habe nie vorgehabt, sich umzubringen. „Aber ich habe gehofft, dass sie es für mich tun."

Mehr als 3.000 Frauen und Kinder sind noch immer in der Gewalt des IS

An diesem späten Nachmittag in Köln erzählt Nadia Murad von den mehr als 3.000 Frauen und Kindern, die noch in der Gewalt des IS sind. Die immer noch erleiden, was sie selbst erlitten hat. Von Massengräbern, in denen die Männer verscharrt würden, und die Frauen, die der IS für zu alt befindet. „Ich will nur, dass die gefangenen Frauen und Kinder befreit werden“, sagt sie.

Die meiste Zeit ist Nadia jetzt unterwegs, reist zu Flüchtlingscamps in ganz Europa und trifft dort Menschen aus vielen Ländern, die fliehen mussten, weil der Terror ihre Freiheit und ihr Leben bedrohte. Sie versucht, ihnen ein wenig Hoffnung zu geben. Erst vor kurzem war sie im Flüchtlingslager im griechischen Idomeni. „Dort spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab“, sagt sie über das Lager an der mazedonischen Grenze, in dem mehr als 11.000 Flüchtlinge unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen ausharren. „Ich bin schockiert, enttäuscht und wütend“, schreibt sie nach dem Besuch auf Twitter.

Viele ihrer ZuhörerInnen im Jesidischen Zentrum sind selbst vor dem IS geflohen oder haben Verwandte, die fliehen mussten oder verschwunden sind. Fast zwei Stunden lang bleibt Nadia Murad Basee Taha bei ihnen und gibt auch ihnen Hoffnung. Dass der Albtraum ein Ende nehmen kann. Dass Familien und Freunde doch noch zu ihnen zurückkehren werden. An diesem Nachmittag in Köln ist Nadia der Beweis, dass es möglich ist.

Zum Abschied wird sie wieder von allen Seiten umringt. Die Männer, Frauen und Kinder im Jesidischen Zentrum wollen sie nicht gehen lassen. Wollen noch ein Foto mit ihr, wollen sie einmal berühren, sie an sich drücken. Nadia, ihre Heldin, die aus der Hölle zurückgekehrt ist.

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