Filmtipp: Unter aller Augen

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Yolande (Foto oben) aus Benin hat überlebt. Aber es war knapp. Als sie ihrer Mutter erzählt, wie ihr Ehemann sie misshandelt, sagte die nur: „Du weißt, dass es hier nicht erlaubt ist, einen Familienangehörigen bei der Polizei anzuzeigen.“ Yolande verließ ihren Mann.

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Genau wie ­Minara aus Bangladesch ("Jetzt hat mich meine Familie in einen feurigen See geworfen und ich verbrenne im Feuer“). Und Nakatya aus Kongo ("Ja, meine Kinder lachten über mich, gingen mir aus dem Weg und sagten: 'Sie ist kein Mensch mehr' - und ich mied sie und weinte.") Und Maya aus Deutschland ("Das ist das, was ich so tragisch finde, die Gewalt geht einfach weiter – über die Generationen geht’s einfach weiter... ").

Brutalste Gewalt gegen Frauen findet nicht nur in Afrika oder Asien statt, sondern auch mitten unter uns – unter aller Augen. Die gleichnamige Dokumentation ist – nach „Voices of Violence“ über Kriegsvergewaltigungen im Kongo – der zweite Teil einer Trilogie der Kölner Filmemacherin Claudia Schmid. Sie führte Regie, Kamera und schrieb das Drehbuch.

Der Film "Unter aller Augen" war nun erstmalig im Fernsehen zu sehen (Dienstag, dem 4. September 2018, NDR). Jetzt ist die 90-minütige Dokumentation noch bis Mittwoch, dem 12. September 2018, hier in der ARD Mediathek zu sehen.

Trailer zum Film:

https://www.youtube.com/watch?v=AXKzovA6YRU

 

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Alice Schwarzer schreibt

Adieu, Agnès Varda!

Agnès Varda - die Ewigjunge. - Foto: Augenblicke einer Reise/Cin-Tamaris SocialAnimals
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Eigentlich dachte man vor zehn Jahren: Das ist das Finale. Agnès Varda hatte sich zum 80. selber ein Geschenk gemacht: ihren mitreißend poetischen Film „Die Strände von Agnès“. Sie, die als Kind Jahre am Mittelmeer gelebt hatte – und zeitweise sogar auf einem Hausboot, weil ihre Eltern aus Brüssel vor der deutschen Besatzung geflohen waren –, hatte sich an die Strände ihres Lebens begeben und in ihrer sehr eigenen Mischung aus Wirklichkeit und Fiktion ihr Leben erzählt.

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Der Film ist auch eine poetische Liebesgeschichte

Der Strand von Sète, wo sie aufgewachsen war; der Strand von Los Angeles, wo sie eine Weile mit ihrem verstorbenen Mann gelebt hatte; und der Strand von Noirmoutier, eine Insel im Atlantik, wo sie so viele Jahre Familienferien gemacht hatte und bis heute ein Häuschen hat. Sie hatte an den Stränden Spiegel aufgestellt, in denen sie sich und den Menschen ihrer Gegenwart und Vergangenheit begegnete. Denn, hat sie damals gesagt: „Ich sah die 80 auf mich zurasen, aber wollte mich nicht ernst nehmen. Also habe ich den Clown gegeben.“ Den melancholischen Clown, wie alle guten Clowns, versteht sich.

Aber nein. Agnès ist wieder da. Denn die „Erfinderin der Nouvelle Vague“ ist gerade 90 geworden. Sie hatte vor sehr langer Zeit als gelernte Fotografin und filmische Autodidaktin mit einem ­unter Amateurbedingungen gedrehten Film über ein ehekriselndes Paar, „La Pointe Courte“, 1955 den ästhetischen Anstoß für die berühmteste Periode des französischen Films gegeben: der Nouvelle Vague. 63 Jahre später liefert die Frau mit dem charakteristischen Topfschnitt (halb weiß, halb rot) uns einen neuen Film: „Augenblicke“, ein Roadmovie mit dem 54 Jahre jüngeren, nicht minder schrägen Fotografen JR.

https://www.youtube.com/watch?v=-D7zLrOqggA

Er ist zwei Köpfe größer als sie und die beiden sind Zwillinge bei der Geburt getrennt. Sie stürzen sich ins Leben, sie lieben die Menschen, sie nehmen sich alle Freiheiten. JR ist bekannt geworden mit seinen überlebensgroßen Porträts von Menschen, die sonst niemand wahrnimmt, an Hauswänden und auf öffentlichen Flächen.

Mit ihm reiste Varda von der Normandie bis in die Provence, den zu einem Fotostudio umgebauten Kleinlaster von JR immer im Schlepptau. Der spuckt diese plakatartigen Fotos von den Menschen aus, die sich in ihn hineinbegeben. Und die staunen dann: der Bauer, der mit seinen Traktoren heute eine zehnmal so große Fläche beackert wie früher; die alte Frau, die die letzte ist in dem Backsteinhaus in dem verlassenen Bergarbeiterdörfchen; die Ziegenbäuerin, die den Ziegen die Hörner lässt. Die haben die beiden auch, Agnès und JR, Hörner. Und sie scheinen sie auch nicht ablegen zu wollen.

Der Film ist auch eine poetische Liebesgeschichte zwischen Agnès, 89 – und JR, 35. Wie die beiden sich vergnügen in den Hafencontainern einer Frachtfirma oder philosophieren auf einer Bank im Feld. Zum Verlieben!

Ich habe den ersten Film von Agnès Varda 1961 gesehen, in Wuppertal. „Cléo von fünf bis sieben“. Zwei Stunden lang auf den Spuren einer Frau in Echtzeit. Sie ist in einer Midlife-crisis, vermutlich verlassen worden, und schlendert durch Paris. Sie geht zur Wahrsagerin, hat einen Termin beim Arzt und bekommt eine Krebsdiagnose, und sie trifft einen jungen Soldaten, der wieder zurück muss in den Krieg, den Algerienkrieg. Ein unvergesslicher Film. Und ein großer Film der Nouvelle Vague, der dennoch nicht so im kollektiven Gedächtnis geblieben ist wie die Filme von Godard oder Truffaut.

Für „Vogelfrei“, eine obdachlose verstörte junge Frau, die durch das winterliche Südfrankreich zieht, erhielt Agnès Varda als erste Frau 1985 in Venedig den „Goldenen Löwen“. Vorher hatte sie Dokumentarfilme über die Black Panther und die ­Flower-Power-Bewegung gemacht. Fürs Vernünftig- und Angepasstsein gab es im Leben von Agnès bisher nie auch nur einen Wimpernschlag.

Ihr Leben ist ein Film, ihre Filme sind Leben

Seit über 50 Jahren wohnt Agnès Varda in Paris in der Rue Daguerre, dieser lebendigen Marktstraße hinter dem Friedhof Montparnasse. Da hat sie ein Haus in einem Hof, das sie knallrot angestrichen hat. Und natürlich war auch die Rue Daguerre Teil ihrer Lebensbilanz vor zehn Jahren. Aber weil mitten in Paris kein Strand ist, hat Agnès eben mehrere Laster Sand abladen lassen in ihrer Straße. Ihre Katzen haben sich gefreut. Es sind immer mindestens ein halbes Dutzend.

Die so genannte Work-Life-Balance scheint im Leben dieser Frau noch nie ein Problem gewesen zu sein: Ihr Leben ist ein Film – und ihre Filme sind Leben.

 

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