Er kümmert sich nicht
Die Lieblingsfarbe meiner Schwiegermutter ist beige. Grau trägt sie auch gern. In ihrem Kleiderschrank hängt nicht ein einziges buntes Kleidungsstück, keine grüne Bluse, kein gelbes T-Shirt, kein rotes Kleid. Als ihr Sohn ihr einmal eine wunderschöne orange-weiße Tunika zum Geburtstag schenkte, die ihr großartig stand, gab sie sie ihm zurück. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in diesem leuchtenden Kleidungsstück durch die Straßen zu laufen. Das liegt daran, dass es meiner Schwiegermutter unangenehm ist, aufzufallen. Sie bleibt lieber im Hintergrund. „Ich passe mich an“, ist einer ihrer Standardsätze. Ein zweiter lautet: „Ich füge mich.“
Meine Schwiegermutter ist jetzt 84 und hat sich 60 Jahre lang an ihren Mann angepasst. Sie hat ihm, dem erfolgreichen Arzt, den Rücken freigehalten, sie hat in seiner Praxis „mitgeholfen“, die drei gemeinsamen Kinder versorgt und dafür gesorgt, dass alle leise waren, wenn Papa seinen Mittagsschlaf hielt. Während er im Lions-Club großzügig Spenden an Projekte in Afrika verteilte und dafür viel Applaus einheimste, bekam sie Haushaltsgeld zugeteilt. Sechs Jahrzehnte lang ist sie um ihn herumgekreist wie ein Trabant um den Planeten, wie die Erde um die Sonne. Deshalb leuchtet nicht sie, sondern er, der ausschließlich um sich selbst kreist, mit seinen 88 Jahren immer noch berstend vor Energie und Lebensfreude. Sie aber wirkte irgendwann erloschen. Dann wurde sie dement. Und es stellte sich heraus: Ihrem Mann fiel es im Traum nicht ein, sich an sie anzupassen.
Resultat: Sie lebt seit anderthalb Jahren in einer Demenz-Wohngemeinschaft in Köln. Und er in einer Seniorenresidenz in Norddeutschland. Alle paar Monate besucht er sie. Ihre beiden Söhne, die beide etwa 400 Kilometer entfernt wohnen, kommen auch ein paarmal im Jahr vorbei. Versorgt wird sie von der anderen Frau der Familie: Ihrer Tochter, meiner Frau, die das an den Rand ihrer Kräfte bringt und oft auch darüber hinaus. Sie besucht ihre Mutter mehrmals pro Woche, organisiert die Arztbesuche und den Heiligabend, backt Kuchen an ihrem Geburtstag und versucht, es ihr mit Spaziergängen und Cafébesuchen in ihrer Demenzwelt einigermaßen schön zu machen. Das gelingt ihr mehr schlecht als recht. Denn meine Schwiegermutter sucht verzweifelt ihren Mann. Aber der ist weg. Nach sechs Jahrzehnten Ehe: einfach weg.
Alles begann damit, dass meine Schwiegermutter eine Polymyalgie entwickelte. Das ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die Muskeln unerträglich schmerzen. Sie trifft vor allem ältere Menschen, Frauen doppelt so häufig wie Männer.
Es ist bekannt, dass Frauen, vor allem die der Du-heiratest-ja-sowieso-Generation meiner Schwiegermutter, Aggressionen eher nach innen richten, also gegen sich selbst, statt dahin, wo sie hingehören. Meine Schwiegermutter ist vollkommen konfliktunfähig. Sie erträgt Streit nicht, und so stritt sie auch nicht mit ihrem Mann darum, dass er, der seine Praxis schon 20 Jahre lang geschlossen hatte, seinen Teil im Haushalt beiträgt. Der Deal Er-verdient-das-Geld-Sie-macht-alles-Zuhause war eigentlich längst aufgekündigt, aber er dachte nicht daran, einen neuen zu machen, der hätte lauten müssen: im Haushalt halbe-halbe. Sie wagte nicht, ihn einzufordern. Stattdessen fügte sie sich und redete sich die Sache schön. „Papa hilft“, sagte sie, wenn sie wieder mal das ganze Weihnachtsessen geplant, alles eingekauft und gekocht hatte und ihr Mann anschließend drei Teller in die Küche trug.
Aber ihr Körper rebellierte gegen die viele Arbeit, die immer öfter über ihre Kräfte ging, und lehnte sich an ihrer Stelle auf. Mit ihren entzündeten Muskeln konnte sie keine Wäsche mehr aufhängen und keine Einkaufstüten mehr schleppen. Und so schlimm die Schmerzen waren, schien es doch, dass sie froh darüber war, in diesem Arzthaushalt eine medizinische Diagnose und damit einen Grund zu haben, einfach mal im Sessel sitzenzubleiben.
Gegen die Polymyalgie bekam sie Cortison, gegen die vom Cortison ausgelöste Schlaflosigkeit bekam sie starke Schlafmittel, gegen ihre depressiven Verstimmungen bekam sie Antidepressiva. Schon davor, mit Ende 70, hatten sich erste Anzeichen von Demenz bei ihr gezeigt, bei der sicher auch eine familiäre Disposition eine Rolle spielt. Der Chemie-Cocktail aber, den sie nun bekam, wirkte wie ein Katalysator. Sie vergaß beim Essen die Namen des Gemüses in der Schüssel; sie vergaß, wie die Mikrowelle funktioniert; sie vergaß die PIN ihrer EC-Karte.
Für ihn war es anstrengend mit dieser Frau, die ihm ständig dieselben Fragen stellte, keine Frage. Aber er kam nicht auf die Idee, sich Hilfe zu suchen. Ihm, dem Arzt, kam es nicht in den Sinn, einen der vielen Ratgeber über Kommunikation mit Demenzkranken zu lesen. Wieso sollte er? Er konnte und wusste ja schließlich alles. Dass seine Frau, die natürlich spürte, wie ihr zusehends ihr Gedächtnis und ihr Leben entglitten, einen einfühlsamen Menschen an ihrer Seite gebraucht hätte, der ihr Sicherheit gibt, und dass er dieser Mensch hätte sein sollen, das war für ihn nicht vorstellbar. Er kam einfach nicht damit zurecht, dass seine Frau, die ihm seit 60 Jahren alles Lästige aus dem Weg geräumt hatte, nun nicht mehr funktionierte. Da wurde sie ihm selber lästig.
Er schnauzte sie an, wenn sie ihn zum dritten Mal fragte, ob er nicht nächste Woche Geburtstag habe. Als sie Panik hatte, auf einer bevorstehenden Familienfeier die Verwandten nicht zu erkennen, beschied er sie, sie solle sich nicht so anstellen. Ihre Tochter übernahm und beruhigte sie: „Mutti, mach dir keine Sorgen, ich werde die ganze Zeit bei dir sein.“ Auf so eine Idee wäre er nie gekommen. Er nahm ihr ihre EC-Karte weg. Für sie, die seit ihrer Heirat nie eigenes Geld gehabt hatte, eine Demütigung ohnegleichen. Das verstand sie. Sie weinte, er begriff nichts – und schnauzte.
Dann kam der Tag, an dem sie die gemeinsame Wohnung verlassen musste. Sie hatte Corona. Er hatte sie angesteckt, weil er zwar Erkältungssymptome gehabt, aber einen Test nicht für nötig befunden hatte. Als sie sich nachts beim Gang zur Toilette nicht mehr auf den Beinen halten konnte, rief er den Krankenwagen. Auf die Idee, ihr ein paar Sachen zu packen – Nachthemd, Brille, Handy – kam er nicht. „Wieso?“, fragte er verwundert, als das Krankenhaus ihn anrief. „Sie ist doch im Krankenhaus, da hat sie doch alles.“
Er hatte nichts dagegen, als die drei Kinder vorschlugen, dass ihre Mutter wohl besser nicht mehr zurück nach Hause sollte. Alle drei waren in Sorge, dass die Sache über kurz oder lang eskalieren würde und ihre Mutter in einer Demenz-Wohngemeinschaft besser aufgehoben wäre.
Bevor sie dort einzog, gab es einen letzten Heiligabend bei uns zu Hause. Er wurde ein Desaster. Zuerst bei der Bescherung. Sie hatte alle Figürchen und Süßigkeiten zusammengeklaubt, die sie finden konnte, und sie liebevoll in die Plastikhüllen ihrer Binden und Feuchttücher verpackt. Er schenkte mir und meiner Frau eine Schachtel Pralinen. Zu ihr sagte er: „Für dich habe ich nichts.“
Beim Essen begriff sie in einem letzten Aufbäumen, dass sie nicht mehr nach Hause zurück sollte. „Das ist doch auch meine Wohnung“, schluchzte sie. „Mein ganzes Leben habe ich ihm den Rücken freigehalten und jetzt soll ich weg.“ Es gab dem nichts entgegenzuhalten. Sie hatte Recht.
Nach ihrem Einzug in die Demenz-WG verschlechterte sich ihr Geisteszustand rasant. Normalerweise ist es umgekehrt: Die Frauen, die nach dem Tod ihrer Männer meist jahrelang allein gelebt hatten, werden in der Gemeinschaft, in der gemeinsam gekocht, gegessen, gesungen und gespielt wird, wieder lebendiger und die Symptome verbessern sich. Aber meine Schwiegermutter hatte ihren Mann ja noch, und das immerhin wusste sie. Aber er hatte sie verlassen, und das wusste sie auch. Ihre Lösung, um das für sie Unerträgliche aushaltbar zu machen: Sie dissoziierte ihn sich weg. Mal sprach sie von ihm als „Papa“, glaubte also, er sei ihr Vater. Mal fabulierte sie von einem Geliebten, der in Afrika sei, und sie jetzt nicht mehr finden könne.
Wozu denn ein Geburstagsgeschenk? Sie würde es doch eh vergessen...
Er besuchte sie für maximal eine Stunde, dann war er genervt. Schließlich beschloss er, die gemeinsame Wohnung zu verkaufen und in eine Seniorenresidenz nach Norddeutschland zu ziehen. In der Nähe wohnt sein Sohn, außerdem gibt es dort regelmäßig Fahrten in die Hamburger Museen und die Elbphilharmonie. Seine Frau, erklärte er, erkenne ihn ja sowieso nicht mehr.
Kürzlich hatte meine Schwiegermutter Geburtstag. Mein Schwiegervater und die beiden Söhne fanden es überflüssig, sie an diesem Tag zu besuchen, denn sie hätte es am nächsten Tag ja sowieso wieder vergessen. Ihre Tochter bat ihren Vater, dann doch wenigstens etwas zu schicken. Die Mutter könne neue Stofftaschentücher gut gebrauchen.
Als wir mit meiner Schwiegermutter vor ihrem Geburtstagstisch saßen, freute sie sich wie ein Kind über die vielen kleinen, bunt verpackten Stifte, Kalender und das Vogelhaus, das wir ihr geschenkt hatten. „Und das hier ist von deinem Mann“, sagte ihre Tochter. Es war eine Pappschachtel mit Papiertaschentüchern.
Vor ein paar Tagen kam meine Frau mit einem schönen Halstuch nach Hause, ein grob gewebtes in rot-gelb-blau. „Wo hast du denn das schöne Tuch her?“, fragte ich. „Von meiner Mutter“, sagte sie. „Sie wollte es nicht haben. Es war ihr zu bunt.“ Schade. Ich hätte ihr gegönnt, dass sie einmal im Leben geleuchtet hätte.
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