In der aktuellen EMMA

Meine Mutter geht - ihr Mut bleibt

Vertauschte Rollen: Nun kümmert sich die Tochter um die Mutter. Foto: Stefan Baumgarth.
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Sie schwindet. Jeden Tag ein bisschen mehr. Ich kann ihr fast dabei zusehen: Ihr einst stattliches Gewicht von 90 Kilo – Kleidergröße 54/56 noch im Juli 2024 – ist um 20 Kilo geschmolzen. „Zum Glück hat sie, wovon sie zehren kann“, sage ich mir immer wieder. 

Meine Mutter ist Ende Juli zusammengebrochen und war vier Wochen im Krankenhaus – Diagnose: „Späte Neuroborreliose“. Das heißt massive Gehirnentzündung und Gehirnhautentzündung, dazu noch Lungenentzündung und Blutvergiftung. 

Es sind Spätfolgen eines Zeckenbisses. Sie kommen nur selten vor. Doch leider hat es meine Mutter getroffen. Und das sehr schwer. Sie hat es nur knapp überlebt. Die richtige Diagnose und Therapie zu finden, war nur der akribischen Fahndung einer engagierten Neurologin gelungen. Andere hätten sie vermutlich schon früher aufgegeben. Schließlich ist meine Mutter schon 83 – und war schon ein Jahr zuvor mit mittelgradiger Alzheimer-Demenz diagnostiziert worden. 

Doch sie war bis zu ihrem Zusammenbruch fröhlich, lebensfroh, gesprächig und beweglich – und auch wenn sie nicht mehr so recht wusste, wo sie wohnte, welchen Tag oder welche Jahreszeit wir gerade hatten, war es doch noch ein gutes, ein lebenswertes Leben, das meine Eltern führten. 

Im August nun ist meine Mutter mit einem Schlag zum Pflegefall mit höchstem Pflegegrad geworden – von 3 auf 5: sie ist bettlägerig und inkontinent. Und ihre Demenz ist ebenfalls ganz plötzlich weitere Stufen abwärts gestürzt. Sie kann sich nicht mehr drehen im Bett, kann keine Schnabeltasse oder Löffel mehr halten, also nicht mehr selbstständig essen, trinken oder den Kopf drehen. Ihr löffelchenweise zu essen zu geben, ihr schlückchenweise zu trinken zu geben, dauert zermürbende Stunden, halbe Tage. Alles schwindet. 

Ihre Muskeln bauen ab, weil ihr Kopf vergessen hat, wie Bewegung geht: sich setzen, stehen, gehen – alles vergessen. Ihre Stimme ist sehr leise geworden, auch sie schwindet. Es strengt sie sehr an, aber sie kann noch kurze Sätze sagen, fast unhörbar. Ich kann sie verstehen, mein schwerhöriger Vater aber nicht mehr – auch seine Stimme ist schwach, denn Parkinson und Herzinsuffizienz haben auch ihn seit letztem Jahr zum Pflegefall gemacht. 

Noch erkennt sie mich, meinen Vater, ihre Schwester, meinen Mann und die beiden Menschen vom Pflegedienst. Noch hat sie einen wachen Blick und lächelt manchmal. Sie kann meine Küsschen erwidern, sie kann meine Hand leicht drücken. Und sie sagt erleichtert seufzend „Mein Ingelinchen!“ zu mir. So wie früher. Als ich noch ihr Kind war. Als die natürliche Reihenfolge noch intakt war: die lebenserfahrene Mutter, die für ihre Tochter da war, sie beschützte und alles für sie tat – und die Tochter, die mal mehr, mal weniger „artig“ war, die sich auch heftig an der Mutter rieb und ihren Weg ins Leben selbst gehen wollte. Und die doch wusste: Zur Not ist da immer meine Mutter, unerschütterlich.

Jetzt ist es andersrum. Jetzt bin ich – erstmals mit Mitte 50 – in der Mutterrolle für ein hilfloses Wesen. Meine Mutter ist mir schutzbefohlen, sie ist auf mich angewiesen. Und sie vertraut mir. Bedingungslos. Das weiß ich. Schon vor ihrem plötzlichen Zusammenbruch, als sie noch „nur“ dement, aber körperlich kerngesund war, sagte ich immer wieder zu ihr: „Ich habʼ dich so lieb!“ Und sie sagte dann: „Ich spüre das.“

Dieser Rollenwechsel kam nicht plötzlich, er schlich sich ein – zum Glück, möchte ich sagen, so hatte ich zumindest Zeit, mich daran zu gewöhnen – seit meine Mutter vor vier Jahren zunehmend vergesslich wurde, Wahnvorstellungen und Halluzinationen bekam, dann Panikattacken und Atemnot. Es waren die Anfangszeichen der Demenz. Ich wollte das lange nicht wahrhaben, meine Mutter war doch immer die Starke – und es passte auch so gar nicht in mein aktives Leben.

Viel unterwegs und breit aufgestellt war ich immer schon: ob früher im Beruf als ARD-Auslandsreporterin in Osteuropa oder jetzt als Beraterin in meinem eigenen Bildungs- und Beratungsunternehmen, das ich gemeinsam mit meinem Mann Stefan führe. 

Doch dieses Leben muss nun zwangsläufig kollidieren mit der häuslichen Pflege. Die ist orts­gebunden und lässt nur einen kleinen Radius zu, die ist unberechenbar und unendlich zeitintensiv. Denn irgendwas ist immer. Wer pflegt, weiß: Das Leben wird runtergebremst – durch große Schläge und durch hunderte zermürbende Kleinigkeiten. Von 180 auf 0 in meinem Fall. 

Als vorletztes Jahr im Sommer mein Vater zusammenbrach und zum Pflegefall wurde, haben mein Mann und ich sofort alles Berufliche stehen und liegen lassen müssen, für vier Monate. Mein Vater im Krankenhaus, meine Mutter dement. Wir mussten – notgedrungen – den vollen Fokus auf das Überleben meiner Eltern legen. Denn das fragile System war ja implodiert. In dieser Zeit zog ich (oder zogen wir – denn sie konnten es ja gar nicht mehr) meine beiden Eltern um zu uns ins Haus. Im Erdgeschoss war eine Mietwohnung frei geworden. Wir wollten ihnen ihr Leben in gewohnter Umgebung so lang wie möglich erhalten und für sie da sein. 

Und das sind wir nun. Es ist ein völlig anderes Leben geworden, für mich, für uns als Paar. Zum Glück haben unsere Auftraggeber Verständnis. Manchmal schalte ich mich abgehetzt, zu spät oder von unterwegs zu Online-Meetings zu; manchmal platzen Meetings, weil gerade wieder Notarzt-Einsatz ist; manchmal müssen langgeplante Seminare verschoben werden, weil ich nur zu diesem Zeitpunkt in zwei Monaten einen schwer zu bekommenden Facharzttermin ergattert habe. Für die Mutter, den Vater oder meine zwischenzeitlich ebenfalls zum Pflegefall gewordene, krebskranke Tante, die nun plötzlich im Mai gestorben ist. Das sind die neuen Prioritäten. Ich bin zur „Senioren-Managerin“ unserer Familie geworden: ob in der Kommunikation und Koordination mit den Kranken- und Pflegekassen, der Rentenversicherung, Schwerbehindertenstellen, mit dem Sozialamt, Hospizdienst, Nachlassgericht, mit Konsulaten, Banken, Ärzten, Kliniken, Sanitätshäusern, Apotheken, mit der Tagespflege ...

Und noch viel wichtiger: Hand halten, Erzählen, Streicheln, Füttern, gute Stimmung verbreiten, Küsschen geben, schöne CDs einlegen, Fotos zeigen. Und alles wieder von vorn, jeden Tag. Ich will es so. 

Und nach außen schaffe ich das auch irgendwie – pragmatisch, stark und fröhlich, so wie auch meine Mutter immer war. Aber nach innen sieht es anders aus: Es ist irre belastend, es lässt mich oft nicht schlafen. Natürlich frage auch ich mich immer: Tu ich genug? Ist es richtig, was ich entscheide? Richtig für wen – für mich oder für sie? 

Meine Mutter hatte alles riskiert, um mir ein Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen. 1969 war sie aus Rumänien geflüchtet – damals herrschte dort noch sozialistische Diktatur – und hat 1971 unsere deutschstämmige Familie nach München nachholen können. Sie hat fleißig dafür gearbeitet, dass ich mich sorgenfrei ausprobieren, studieren, meinen Beruf frei wählen, später meine Firma gründen konnte. Sie hat mir immer vertraut. Das hat mir Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit gegeben. 

Sie hat mir vorgelebt, dass eine Frau in einer Männerdomäne brillieren kann

Und sie hat mir ganz selbstverständlich vorgelebt, dass eine Frau in einer Männerdomäne bestehen und brillieren kann – sie war Programmiererin, in Vollzeit. Anfang der 1970er Jahre, als IT noch Datenverarbeitung hieß, war sie die einzige Frau, die das Rechenzentrum des Klinikums Großhadern mit aufbaute. Sie programmierte für damals bahnbrechende medizinische Forschungsprojekte, fuchste sich tief in die Medizin ein. Bis vor kurzem konnte sie sich noch erinnern: „Ich habe die Merkmale von Krankheiten programmiert!“ Sie war immer stolz darauf, dass ihr oberster Chef, ein Professor, ihre Leistung gesehen und gewürdigt hat – er erwähnte sie sogar in einem Buch. 

Mehr Geld hat sie dafür nicht bekommen. Sie ist zusätzlich zu ihrer Vollzeitstelle noch zum Bügeln in einen „feinen Haushalt“ gegangen – sie wollte mir eine große Enzyklopädie kaufen, und die kostete über 3.000 DM. Sie hat sie mir gekauft.

Meine Mutter war und ist mir Vorbild im mutigen, unbeirrten, neugierigen, aufrechten und beharrlichen Vorangehen als Pionierin. Und genau das ist mir erst jetzt bewusst geworden – in diesen letzten wenigen Monaten ihres allmählichen Schwindens und unserer neuen Nähe durch die Pflege.

Vielleicht kann ich sie in meinen Armen halten, wenn sie geht. Das würde ich mir wünschen.  

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