Wo bleibt der Aufschrei?
Frau Vogler, was muss schnell passieren?
Wir steuern ungebremst auf eine Pflegekatastrophe zu. Erstmal müssen wir das große strukturelle Problem angehen. Die Pflegeprofession in Deutschland ist nicht strukturiert organisiert. Durch den Föderalismus gibt es keine länderübergreifenden Strukturen, keine Organisation, nicht mal eine gesamtdeutsche Datenlage. Was ausschlaggebend ist, ist die Diskrepanz zwischen den Pflegebedürftigen und den Pflegekräften. Denn wie groß diese so genau in den einzelnen Bundesländern ist, können wir nicht verlässlich sagen. Pflege ist – bis auf die Berufszulassung – Ländersache. Und deshalb gibt es in jedem Bundesland andere Leistungen zu anderen Kosten, andere Betreuungsschlüssel, unterschiedliche Länderverordnungen zum Ausbildungsgesetz, andere Nachwuchs-Zahlen. Dadurch werden z. B. einige Studiengänge oder Weiterbildungen nicht in allen Bundesländern anerkannt.
Sicher ist nur, dass es insgesamt zu wenige sind?
Ja, wir haben flächendeckend viel zu wenige Pflegefachpersonen. Das macht sich schon jetzt bemerkbar. In der ambulanten Pflege hören wir immer häufiger, dass Leistungen eingeschränkt oder erst gar nicht erbracht werden können, weil Pflegekräfte fehlen. Auch die Plätze in Pflegeheimen werden rarer. In den kommenden Jahren wird die gesamte Pflege- und Betreuungskapazität sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Pflege rapide sinken und damit auch die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung. Das ist eine gravierende Gefahr für unsere Gesellschaft und Demokratie.
Ist das ein europäisches oder ein deutsches Phänomen?
Neben dem demografischen Faktor – der ein europäisches Problem ist – ist es ein hausgemachtes deutsches Problem. Neben dem Föderalismus kommen vor allem traditionelle deutsche Strukturen des deutschen Gesundheitswesens zum Tragen. Begründet in einer starren Selbstverwaltung und der Definition der Pflege als Assistenzberuf zur ärztlichen Zunft – weitgehend ohne eigene Verantwortungsbereiche und Handlungsautonomie. Im Kern geht es darum, dass in Deutschland der Pflegeprofession nicht die Bedeutung und die Professionalität beigemessen wird, die in anderen Ländern wie Frankreich, Schweden, Großbritannien, Portugal oder auch den USA selbstverständlich sind. In fast ganz Europa wird der Beruf ernst genommen, erlernt und ausgebildet durch ein Studium.
Was heißt das konkret?
Eine Akademisierung bedeutet, dass Pflegende mit mehr Kompetenzen und Befugnissen ausgestattet sind. Eine studierte Pflegerin in Frankreich etwa darf Medikamente verschreiben, sie dosieren, Behandlungen verordnen, Eingriffe übernehmen, die in Deutschland nur Ärzten vorbehalten sind. Impfen zum Beispiel. Wie schnell hätten wir in der Pandemie die Bevölkerung hierzulande impfen können, wenn Pflegekräfte hätten mitimpfen dürfen? Pflegefachpersonen sind außerdem oft viel näher dran an den Patienten als Ärzte und können auch dadurch die Situation schneller und besser einschätzen. Durch professionell Pflegende wird in anderen Ländern auch die Gesundheitsversorgung auf dem Land stabilisiert. Es gibt schließlich mehr Pflegefachpersonen als Ärzte und Ärztinnen. Je qualifizierter Pflegekräfte sind, umso niedriger ist die Mortalitätsrate in der Versorgung.
In der Kritik daran heißt es oft, dass nicht jeder Beruf studiert werden muss. Vor Überakademisierung wird gewarnt.
Es heißt nicht, dass jede Pflegekraft studieren muss. Andere Länder arbeiten auch mit Abstufungen. Nicht jeder Arzt ist auch Chirurg. Aber in Gänze würde eine höhere Qualifizierung den Pflegeberuf aufwerten und attraktiver machen. Die Pflegequalität würde steigen. Das sind keine Vermutungen, andere Länder haben das längst vorgemacht. Und wenn wir von Frauenrechten sprechen und gleichzeitig bei Frauenberufen Akademisierung infrage stellen, müssten wir doch mal selbst merken, dass da was nicht zusammenpasst.
Warum ist Deutschland so behäbig?
Es hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Pflege ein traditionell weiblicher Beruf ist, was noch immer mit einer gesellschaftlichen Abwertung und einer schlechteren Bezahlung einhergeht. 85 Prozent der Pflegenden sind weiblich. Aktuell ist es in Deutschland doch so, dass manche glauben, den Job könnte eigentlich jeder machen. Das bisschen „füttern“ und umlagern.
Und wie ist es wirklich?
Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind inkontinent und müssen versorgt werden. Und dann kommt jemand zu Ihnen, der keinerlei Sensibilität für ihre hochintime Lage hat und keinerlei Kenntnis über die Form Ihrer Inkontinenz. Das ist eine Zumutung für alle Beteiligten. Eine Pflegefachperson lernt, an einen Menschen heranzutreten und ihm die Würde bei der Versorgung zu erhalten. Das ist der eigentliche Kern des Pflegeberufes. Die Ansprache an Patienten, das Verhalten, die Handgriffe, das psychologische und medizinische Wissen. Wie ist der Allgemeinzustand des zu Pflegenden? Und wie ist es eigentlich um seine seelische Verfassung bestellt? Das alles gehört zu diesem Job, den eben nicht jeder machen kann.
Und der dazu noch schlecht bezahlt wird.
Der Comparable Worth Index, der Berufe gemäß der mit ihnen verbundenen Anforderungen und Belastungen vergleichbar macht, sagt: Die professionelle Pflege ist mit Ingenieursarbeit vergleichbar, was Belastung und Verantwortung betrifft. Von dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ sind wir in der Pflege also noch meilenweit entfernt. Obwohl das Thema gesamtgesellschaftlich drängt, wird es nahezu komplett ausgeblendet – auch wenn sich die Bezahlung in den letzten Jahren spürbar verbessert hat.
Das hat wahrscheinlich auch etwas damit zu tun, wie wir generell mit dem Alter in unserer Gesellschaft umgehen.
Pflege betrifft auch viele junge Menschen, aber ja, es hat viel mit den eigenen Ängsten und auch dem Tod zu tun. Doch: Das betrifft uns alle! Wollen wir in Würde altern und in Würde gepflegt werden oder wollen wir weggeschlossen werden? Warum sind Politik und Gesellschaft so wenig bereit, sich diesem so grundsätzlichen und alle betreffenden Thema zu stellen? Und diese Frage stelle ich mir, wo ich nun schon mal mit EMMA spreche, besonders in Bezug auf Frauen. Wo bleibt eigentlich der Aufschrei der Frauen?
Erklären Sie …
Noch sind wir in keiner Notstandsversorgung, aber wir sind in einer Situation, in der es anfängt, gravierend zu kippen. Wir werden in wenigen Jahren den besagten und lange vorhergesehenen Pflegenotstand haben. Auf wen wird dieser Notstand wohl zurückfallen? Auf die Frauen! Sie werden in großen Zahlen die private Pflege ihrer An- und Zugehörigen antreten müssen, ganz einfach, weil es keine Alternativen mehr gibt.
Wir haben ja auch in der Pandemie gesehen, auf wen die Betreuung von Kindern und alten Menschen zurückfällt, wenn die Strukturen nicht mehr da sind.
Ganz genau. Und bald wird die Boomer-Generation pflegebedürftig. Wenn wir die professionelle Pflege nicht stärken und Strukturen schaffen, werden die berufstätigen Frauen nach Hause gehen müssen. Es wird in Deutschland eine volkswirtschaftliche Kraft in Masse verloren gehen. Vielleicht sollte einmal berechnet werden, was uns ein schlechtes Gesundheitssystem eigentlich kostet. Und die Frauen ahnen gar nicht, was da eigentlich auf sie zukommt.
Das Thema Pflege ist also ein maßgeblicher Faktor für die Gleichstellung?
In der Tat. Das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ hat in 2024 eine Studie veröffentlicht, die besagt, dass in den Ländern, in denen eine gleichwertige professionelle pflegerische Versorgung stattfindet, es eine gleichgestelltere Gesellschaft gibt. In Portugal, Schweden und der Schweiz ist das der Fall. Deutschland liegt nicht am unteren Ende, aber im unteren Mittelfeld. Und wir werden weiter abrutschen.
Was muss passieren?
Ich finde: Gesundheit, Bildung und Wohnen – diese drei grundlegenden und alle Menschen betreffenden Bereiche können nicht den einzelnen Bundesländern und dem Markt überlassen werden. Wir sehen doch, dass es nicht funktioniert. Und im Gesundheitswesen und der Medizin darf nicht mehr in Hierarchien, sondern es muss in Funktionen gedacht werden, und zwar aus der Perspektive der Kranken und Pflegebedürftigen. Wir brauchen vernünftige Bildungsmaßnahmen für den Pflegeberuf, eine bessere Bezahlung und einheitliche Tarife. Die lähmende Beschneidung von Können und Kompetenz muss aufhören. Und das besser sehr schnell.