Kasachische Ärztin hilft Ukrainerinnen

Liane Wirth im Flüchtlingslager an der polnischen Grenze. Foto: ZDF
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Durch ihren Einsatz sind über hundert UkrainerInnen in Bammental gelandet, in ihre Heimat in der Nähe von Heidelberg, mit überschaubaren 6.500 EinwohnerInnen. Die Hausärztin selbst wurde in Kasachstan geboren, hat ukrainische und deutsche Wurzeln, und ist mit 18 Jahren als Russlanddeutsche nach Heidelberg gekommen. „Russen und Ukrainer sind keine Feinde, wir gehören zusammen!“, sagt Liane Wirth.

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Kurz bevor die russische Invasion startete, wollte sie eigentlich mit der Familie in den Ski-Urlaub nach Süd-Tirol aufbrechen. Doch dann hatte ihr Sohn einen positiven Schnelltest - und die ganze Familie bald Corona. „Ich lag krank auf dem Sofa und habe die Nachrichten gesehen. Diese Frauen mit ihren Kindern! Das war so furchtbar. Es hat mich umgehauen. Mir war klar: Das schaffen die nicht allein. Wir müssen helfen!“

Liane sprach mit dem Bammentaler Bürgermeister, der Hilfe zusagte und einen Aufruf an die Gemeinde startete. 150 Freiwillige schlossen sich sofort an, organisierten einen Reisebus und Unterkünfte.

Dann ging‘s zum Flüchtlingslager nach Przemyśl an die polnische Grenze, den Kofferraum voller Medikamente, Näh-, Verbands- und Wundmaterial. Ein Pharmaunternehmen aus der Region hatte gespendet. Auch ein Ultraschallgerät und ein Defibrillator aus Lianes Praxis fuhren mit.

Viele der Frauen haben ihren Koffer noch immer nicht ausgepackt

Das polnische Flüchtlingslager ist in einer großen Einkaufspassage, vollgestellt mit Feldbetten, überall Frauen und Kinder.

Die meisten der Frauen musste Liane erst überzeugen, in den Bus zu steigen. An der Grenze treiben Menschenhändler ihr Unwesen. Und: „Es gehen Gerüchte um, dass Ukrainerinnen, auch bei einem schnellen Kriegsende, Deutschland erst nach einem Jahr wieder verlassen dürfen und die Sozialhilfe zurückzahlen müssen“, berichtet sie. HelferInnen an der Grenze vermuten, dass Menschenhändler diese Verunsicherung schüren, um Frauen in ihre Fänge zu locken und eine Registrierung zu vermeiden. In diesen katastrophalen Zeiten merkt man nicht schnell, wenn eine Frau verschwindet.

Wirth hilft, dass sie Ukrainisch kann; sie zeigt ihren Ausweis, wiederholt immer wieder: „Ich bin Hausärztin, ich wohne im gleichen Ort, in den Sie gebracht werden, und ich renne nicht weg.“ In ihrem Bus sind alle Plätze bald vergeben, andere Busse bleiben nahezu leer. 46 Flüchtlinge fahren mit. Weitere 54 werden nachgeholt.

„Es sind nicht nur diese Gerüchte“, sagt Liane, "viele der Frauen und ihre Kinder sind schon bis an die 1.000 Kilometer an die polnische Grenze gefahren. Sie wollen sich nicht noch weiter von ihrer Heimat entfernen, das schaffen sie psychisch noch nicht. Sie haben die Hoffnung, dass der Krieg bald vorbei ist und sie zurück können. Die Kinder hingegen wollen weg aus dem Flüchtlingslager, sie sind erschöpft, sie wollen irgendwo ankommen. ‚Nur noch einen Tag‘ sagen ihnen ihre Mütter.“

Viele der geflüchteten Frauen, die in Bammental angekommen sind, haben ihren Koffer noch immer nicht ausgepackt. Liane Wirth ist auch ausgebildete Traumatologin. Sie beobachtet Kinder, die zusammenzucken, wenn es irgendwo knallt; Mütter, die wie panisch auf ihr Handy starren. „Lebt er noch?“ ist die erste Frage, wenn sie morgens aufwachen.

Die Familienschicksale gehen ihr besonders nah. Frauen, die nicht wissen, ob ihre Männer und Söhne noch leben oder die Großeltern zurücklassen mussten. Und die Nachrichten bekommen, dass das Haus, für das sie so lange so hart gearbeitet haben, nur noch eine Ruine ist. „Sie erleben diesen Krieg live mit. Die Frauen bekommen Videos, auf denen sie sehen, wie ihr Heimatort nun aussieht, Fotos von Toten und Verletzten.“

Gemeinsam haben sie eine beispiellose Infrastruktur aus dem Boden gestampft

Das geht auch den Bammentalern nah. Gemeinsam haben sie eine Infrastruktur aus dem Boden gestampft, an der sich der Bund ein Beispiel nehmen kann. Alle hundert Flüchtlinge sind in Privatfamilien untergekommen. „Sie leben jetzt dort wie in einer Großfamilie“, erzählt Liane. Sie werden versorgt mit Kleidung, Essen, Medikamenten. Viele ortsansässige RussInnen dolmetschen (Ukrainisch und Russisch sind sich sehr ähnlich), der Flüchtlingsverein organsiert Sprachkurse, hilft bei Vorschüssen für das Nötigste.

Über die Hälfte der Geflüchteten in Bammental sind Kinder. Die Schulen des Ortes haben sich zusammengeschlossen und Pläne gemacht, wie sie die Kinder auf die Klassen und Kindergartengruppen verteilen können. Eine Ghettoisierung wollten alle vermeiden. „Über 70-jährige Lehrerinnen sind an die Schulen zurückgekehrt, um die Kinder zu unterrichten“, erzählt Liane gerührt. Der Bürgermeister und die SchulleiterInnen haben für alle ein regelmäßiges Mittagessen in den Schulen organisiert. Das Bammentaler Familienzentrum ist zum Headquarter geworden. Von dort werden Kleiderspenden, Dinge für die Kinder gesammelt, zwischen den Frauen und Familien vermittelt, wenn es Fragen und Probleme gibt. Liane Wirth: „Oft sind es Kleinigkeiten, die geregelt werden müssen. Eine Frau wollte zum Beispiel gern für die Gastfamilie kochen, hat sich aber nicht in die Küche getraut. Wir haben vermittelt – und schon hat sich die Familie riesig gefreut, bekocht zu werden.“

Viele der Ukrainerinnen wollen sich nützlich machen, etwas tun, Dankbarkeit zeigen. „Eine Geflüchtete war daheim Deutschlehrerin. Sie hat sofort Sprachkurse in den Schulen gegeben.“ Andere helfen dabei, Unterlagen und Anträge auszufüllen. „Deutschland sollte Ukrainerinnen in der Flüchtlingsvermittlung ins Boot holen. Viele sind sehr gut ausgebildet, sie können weiteren Ankommenden erklären, warum sie sich registrieren müssen, welche Dinge sie erledigen müssen“, sagt Liane, „in Bammental ist ein fantastisches Netzwerk geknüpft worden“.

Wie so viele fragt auch sie sich, warum der Bund nicht schneller handelt. Auch nach über einem Monat Krieg gibt es keinen nationalen Krisenstab, nur vereinzelte Schutzzonen an Bahnhöfen und schwer in Gang kommende Registrierungsposten. Allein in Berlin schlafen fast 900 Frauen in einer Messehalle ohne Duschen. Zwei Drittel der Geflüchteten sind in privaten Haushalten untergekommen. Die Hilfe, die in Deutschland wirklich funktioniert, wird größtenteils von Freiwilligen gestemmt.

„Man hat das Gefühl, dass die direkte Hilfe am besten funktioniert. Von Familie zu Familie, von Klinik zu Klinik, von Gemeinde zu Gemeinde“, sagt Liane. Sie kennt viele Menschen, die etwas tun wollen, aber nicht wissen wie. Ihr Tipp: „Finden Sie sich in einer Gruppe zusammen und suchen Sie den direkten Kontakt zu einer ukrainischen Gemeinde.“ Auch möchte sie Flüchtlingsorganisationen vorschlagen, deutsche Familien nach Patenschaften zu fragen. „Die Frauen und Kinder brauchen Ansprechpartner, man darf sie nicht sich selbst überlassen.“

Umso stolzer ist sie auf ihr Bammental: "Diese Welle der Solidarität, diese aufrichtige zupackende Hilfe für Menschen in Not… Es gibt so viel Gutes im Menschen.“

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