In der aktuellen EMMA

Gertraud, Frieda, Ruth und Anna

Gertraud "Susi" Bräuer, Frieda Roblick, Ruth Schult und Anna "Anni" Beuschel wurden brutal ermordet. - Fotos: Staatsarchiv Hamburg
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Gertraud „Susi“ Bräuer

Gertraud Elisabeth Bräuer kommt am 30. Oktober 1928 in Großenhain in Sachsen zur Welt. Ihre Eltern waren der Arbeiter Kurt Bräuer und Margarethe, geborene Ruf. Vier Jahre nach Gertrauds Geburt trennen sich die Eltern.  

Groß, schlank, blond und modebewusst, erlernt Gertraud Bräuer den Beruf der Friseurin. Wie kommt es, dass sie als junge Frau nicht mehr als Friseurin arbeitet, sondern beginnt, ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit zu verdienen? 

1948 zieht Gertraud Bräuer, die sich nur noch Susi nennen lässt, offenbar nach Hamburg. In den folgenden Jahren wechselt sie immer wieder den Ort, lebt in München, Hagen, Dortmund. Mittellos und ohne feste Unterkunft ermöglicht vor allem Sexarbeit ihr das Überleben. Außer wenigen Kleidungsstücken besitzt sie nichts mehr. Sie versucht zu verbergen, dass sie keinen festen Wohnsitz hat. Mindestens zweimal verurteilt ein Gericht sie wegen Diebstahls, Betrugs und Unterschlagung zu Haftstrafen von mehreren Monaten. Mitte der 1950er Jahre kehrt sie nach Hamburg zurück. Eine Frau bringt sie bei ihrem ­Onkel auf dessen Wohnschiff unter. Wenig später kauft der Onkel ein Behelfsheim in Waltershof, ebenfalls im Hafengebiet, in das beide umziehen. Es scheint etwas Ruhe in Gertraud Bräuers Leben einzukehren. Sie lernt den aus Polen stammenden Władisław Płusa kennen. Die Nationalsozialisten hatten ihn 1941 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Er hatte sich eine Beschäftigung im Hamburger Hafen gesucht. 1965 stirbt der Onkel. Daraufhin leiht Władisław Płusa Gertrud ­Bräuer Geld, damit sie das Behelfsheim übernehmen kann. Beide wohnen nun gemeinsam dort, sie sprechen über Heirat. Doch dann verkauft Gertraud Bräuer plötzlich ohne Wissen ihres Verlobten das Häuschen und verlässt Hamburg Richtung Rheinland. Mitte 1966 kehrt sie nach Hamburg zurück. Sie ist alkoholkrank, übernachtet in Lokalen in St. Pauli oder darf gegen Sex bei Männern unterkommen, die in den Wohnheimen an der Kieler Straße oder im Weg beim Jäger leben. Ihr Haar hat sie bis auf drei Zentimeter abgeschnitten und trägt nur noch eine schwarze, später eine blonde Perücke. 

Dann lernt sie den sieben Jahre jüngeren Arbeiter Burkhard Stern kennen und zieht zu ihm in eine Kleingartenanlage in Groß-Borstel. Beide verloben sich. 1969 verhaftet die Kriminalpolizei Gertraud Bräuer erneut wegen Diebstahls. Kurz nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis Ende 1969 wird Burkhard Stern am 19. Januar 1970 in ihrem Beisein erschlagen. Der Täter ist ein Nachbar. Doch als sie für eine Zeugenaussage zur Kriminalpolizei vorgeladen wird, erscheint sie nicht zu dem angegebenen Termin und taucht unter.

Ende Dezember 1970, sie ist inzwischen 42 Jahre alt, lernt sie in einem Lokal am Großneumarkt eine Frau kennen. Die soll im Auftrag des Wachmanns Fritz Honka Frauen zu ihm in seine Wohnung in Ottensen bringen, damit er mit ihnen Sex haben kann. Gertraud Bräuer geht mit in die Zeißstraße 74. Doch was Honka will, will sie nicht. Er vergewaltigt sie, verzweifelt wehrt sie sich. Außer sich vor Wut erdrosselt er ie. Im November 1971 werden Teile ihrer Leiche in einem Hinterhof an der nahe gelegenen Gaußstraße gefunden. Weitere Leichenteile findet die Feuerwehr bei dem Brand des Hauses Zeißstraße 74 am 17. Juli 1975. Niemand hat Gertraud Bräuer vermisst. Es ließ sich nicht einmal mehr herausfinden, wo sie beerdigt wurde.

Frieda Roblick

Frieda Elisabeth Martha Roblick kommt am 25. April 1917 in Sommerfeld in der Niederlausitz, heute Lubsko Polen, zur Welt. Ihre Eltern sind der Schlosser Otto Roblick und dessen Frau Martha, geborene Poethe. 1935 verurteilt das Amtsgericht Sommerfeld die 18-jährige Frieda Roblick erstmals wegen Diebstahls zu vier Tagen Gefängnis. 1937 verhängt das Amtsgericht Guben gegen sie eine „Gesamtstrafe“ von fast sechs Monaten Gefängnis wegen Diebstahls und Betrugs.

Sie wurde noch im selben Jahr als Prostituierte in ein KZ eingewiesen und wahrscheinlich  aus dem KZ Ravensbrück in das KZ Riga-Kaiserwald deportiert. Es handelt sich überwiegend um deutsche „Berufsverbrecherinnen“ („B. V.“) und als „asozial“ gekennzeichnete Frauen, die mehrfach Bagatelldelikte begangen hatten, als Prostituierte arbeiteten oder denen dies unterstellt wurde. 1944 wird Frieda Roblick zusammen mit 42 vor allem als „asozial“ und „B. V.“ kategorisierten Frauen am 12. Juni des Jahres in das KZ Ravensbrück (rück)überstellt. Bald nach ihrer Ankunft verlegt die SS sie weiter in das KZ Sachsenhausen. Am 11. Oktober 1944 wird Frieda Roblick zurück in das KZ Ravensbrück gebracht. Sie überlebt den NS-Terror. 

Die KZ-Erlebnisse werfen Frieda Roblick aus der Bahn. Ab 1947 bis zu ihrem Tod wird sie immer wieder wegen unterschiedlicher Delikte verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt – ob wegen Diebstahls, Betrugs, Unterschlagung oder Hausfriedensbruch. Aber auch weil sie keinen festen Wohnsitz hat, sich nicht ausweisen kann oder den verpflichtenden Kontrolluntersuchungen auf Geschlechtskrankheiten hin nicht nachkommt. Wieder arbeitet sie als Prostituierte und steckt sich einmal bei einem Kunden mit einer Geschlechtskrankheit an. Und ständig wechselte sie den Ort, findet keine Ruhe. Dass sie aus Not straffällig wird, erkennt 1952 das Amtsgericht München an. Die Kriminalpolizei dagegen ordnet sie in die Kategorie der „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ ein – eine stigmatisierende Bezeichnung in Kontinuität zum NS-Regime.

1969 fährt Frieda Roblick wieder nach Hamburg. Zunächst wohnt sie im Neuen Steinweg in der Neustadt, 1971 in der Wohlwillstraße in St. Pauli. Sie nennt sich schon seit Längerem Rita, legt trotz ihrer prekären Lebensumstände stets Wert darauf, gut angezogen zu sein, und trägt manchmal auch Perücken, um ihren Typ zu verändern. Goldene Sandaletten bringen Glamour in ihr Leben. Im „Goldenen Handschuh“ hat sie ihren Stammplatz links vom Eingang an einem Tisch vor dem großen Fenster. Dort sitzt sie und wartet auf Kunden. Der Wirt des „Goldenen Handschuh“ beschäftigt sie aushilfsweise als Putzkraft. Frieda Roblick ist inzwischen 57 Jahre alt, mittellos und erschöpft. Manchmal kann sie sich in der Pension Voss an der Budapester Straße in St. Pauli ein Bett zum Übernachten leisten.

Mitte Dezember 1974 lernt sie im „Schmalen Handtuch“ in St. Pauli Fritz Honka kennen. Sie trinken zusammen. Er nimmt sie mit in seine Wohnung in der Zeißstraße 74 in Ottensen, dort trinken sie weiter. Sie lebt einige Tage bei ihm. Als sie eines Nachts seinen sexuellen Vorstellungen nicht entsprechen will, versucht er sie zu vergewaltigen. Sie wehrt sich nach Kräften. Schließlich erdrosselt er sie mit einem Handtuch. Ihre Leiche versteckt er unter der Dachschräge in seiner Küche. Erst am 17. Juli 1975 findet die Feuerwehr sie beim Brand des Hauses Zeißstraße 74. Monatelang hat niemand Frieda Roblick vermisst. Ihre Schwester Else hat sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, ihre Schwester Elisabeth seit etwa vier Jahren. Beide wollen sich nicht an den Bestattungskosten beteiligen. Frieda Roblick wird auf dem Hamburger Friedhof Öjendorf beerdigt. Ihr Grab existiert heute nicht mehr.

Ruth Schult, geborene Bieber

Ruth Margarethe Bieber kommt am 7. Juli 1923 in Buer-Resse zur Welt, heute ein Teil von Gelsenkirchen. Ihre Eltern sind Hermann Bieber und Margarete, geborene ­Simiantkowski. Als sie 18 Jahre alt ist, nimmt die Polizei sie erstmals fest. In den folgenden Jahren wird sie wegen verschiedener Delikte immer wieder inhaftiert – ob versuchte Brandstiftung, Betrug, Urkundenfälschung, Beleidigung oder Diebstahl. Auch muss sie ins Gefängnis, weil sie keinen festen Wohnsitz hat und sie sich nicht ausweisen kann. Sie ist mittellos, auf sich allein gestellt. 

1948 lebt Ruth Bieber erstmals in Hamburg, in der Herbertstraße, der geschlossenen Bordellstraße in St. Pauli. Sie verdient ihren Lebensunterhalt nun mit Sexarbeit. Ende 1948 meldet sie sich in Lübeck als Prostituierte an, wohnt und arbeitet in einem Bordell in der Clemensstraße 1. 1952 heiratet Ruth Bieber in Hamburg-Flottbek den Schuhmacher Alfred Schult. Er ist fast 30 Jahre älter als sie. Für ihn ist es bereits die dritte Ehe. Sie scheitert jedoch nach wenigen Jahren. 

Anfang Juli 1958 meldet sich Ruth Schult, inzwischen 35 Jahre alt, erneut als Prostituierte in Lübeck an, nun im Bordell Clemensstraße 2. Doch dort bleibt sie nicht einmal zwei Wochen. Ab Ende Juli 1958 verlieren sich ihre Spuren für mehrere Jahre. Anfang der 1970er Jahre meldet sich Ruth Schult als Prostituierte bei der Zentralen Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten in der Max-Brauer-Allee in Hamburg-Altona. Regelmäßig nimmt sie die vorgeschriebenen Kontrolluntersuchungen wahr. Sie sucht sich ihre Kunden in den Lokalen rund um den Hamburger Berg in St. Pauli und wohnt zur Untermiete in einem der Terrassenhäuser in der Wohlwillstraße 9. Ab 1972 etwa hat sie kein Zimmer mehr und übernachtet manchmal bei einem Kunden. Fast täglich besucht sie das Lokal „Blohm“ in der Wohlwillstraße. Deren Wirtin beschreibt sie als „gutmütig und gutgläubig“. Am 27. November 1974 erscheint Ruth Schult ein letztes Mal in der Zentralen Beratungsstelle zur Untersuchung.

Mitte Dezember 1974 lernt sie vor dem Aladin-Kino an der Reeperbahn Fritz Honka kennen. Sie ist elegant gekleidet, trägt ein blaues Kleid und einen hellen Kamelhaarmantel. Beide gehen ins „Lehmitz“ und später in der Nacht zusammen in Honkas Wohnung in der Zeißstraße 74 in Hamburg-Ottensen. Etwa zwei Wochen lang lebt Ruth Schult bei Honka. Eines Nachts verweigert sie den Geschlechtsverkehr mit ihm. Voller Wut versucht er sie zu vergewaltigen. Als es ihm nicht gelingt, erdrosselt er sie mit einem Handtuch. Weil sie nicht mehr zur Kontrolluntersuchung kommt, schreibt die Hamburger Gesundheitsbehörde sie Mitte Januar 1975 zur Fahndung aus.

Sorgen macht sich niemand um sie. Für die Behörde ist ausschlaggebend, dass sie gegen das „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ von 1953 verstoßen hat. Dabei ist sie zu dem Zeitpunkt bereits tot. Ihre Mutter, die noch in Cas­trop-Rauxel lebt, will sich nicht um die Bestattung ihrer Tochter kümmern. Ruth Schult wird auf dem Hamburger Friedhof Öjendorf beerdigt. Ihr Grab existiert heute nicht mehr.

Anna „Anni“ Beuschel, geborene Hahn

Anna Lina Hahn, genannt Anni, kommt am 8.10.1919 in Aschersleben, heute Sachsen-Anhalt, als Tochter von Lina Hahn zur Welt. Die Nationalsozialisten stigmatisieren sie als „asozial“. Diese abwertende Zuschreibung betrifft oft mittellose Frauen. Manche versuchen, als Prostituierte ihren Lebensunterhalt zu sichern. Doch in vielen Fällen unterstellen ihnen Polizei, Justiz, Gesundheits- und Fürsorgebehörden auch nur, der Prostitution nachzugehen, weil sie lebensfroh sind und wechselnde SexualpartnerInnen haben. In jedem Fall müssen sich die Frauen wöchentlich auf Geschlechtskrankheiten hin untersuchen lassen. Bei mehrmaligem Verstoß gegen die Auflage drohen eine Gefängnisstrafe oder gleich die Einweisung in ein Konzentrationslager. 

Am 1. August 1942 deportiert die Kriminalpolizei die inzwischen 32-jährige Anna Hahn in das Frauen-KZ Ravensbrück in Brandenburg. Dort muss sie den schwarzen Winkel der „Asozialen“ tragen und in der SS-Schneiderei Zwangsarbeit leisten. Nach Kriegsende lässt sie sich eine Häftlingsnummer aus dem linken Unterarm entfernen, was darauf hinweist, dass sie auch im KZ Auschwitz inhaftiert war. Ende April 1945 befreien amerikanische Truppen die völlig geschwächten Frauen, unter ihnen befindet sich auch Anna Hahn.

Offenbar bleibt sie zunächst in der amerikanischen Besatzungszone. Sie lernt einen US-Soldaten kennen und wird schwanger. Der Vater nimmt die Zwillinge jedoch mit in die USA, sie haben keinen Kontakt zur Mutter. Jahre später reisen sie nach Deutschland, um sie zu suchen, finden sie jedoch nicht. Erst viel später erfährt Anna Hahn davon. Seit 1947 lebt sie in Hamburg. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Sexarbeit und erscheint pflichtbewusst zu den Kontrolluntersuchungen. Sie wohnt in der Nähe des Sternschanzenbahnhofs bei einem Nieder­länder.

1969 lernt sie in St. Pauli den siebzehn Jahre jüngeren Arbeiter Thomas Beuschel kennen. Im Sommer 1970 zieht sie zu ihm nach Bramfeld. Dort hat er ein Zimmer im Tanzcafé Fürstenhof, in dem er auch arbeitet. Am 15. April 1971 heiraten Anna Hahn und Thomas Beuschel. Beide sind einsam und passen ganz gut zusammen. Sie kümmert sich um den Haushalt und arbeitet nun ebenfalls in dem Tanzcafé. Im selben Jahr noch bekommt das Ehepaar eine kleine Wohnung im Durchgangslager Neßpril in Finkenwerder. Dort bringt die Stadt Hamburg vor allem UmsiedlerInnen unter, Geflüchtete und Obdachlose. Anna Beuschels Leben hat nun einen festen Rahmen. 

Doch immer wieder bricht sie aus und fährt nach St. Pauli. Manchmal zieht sie tagelang durch die Lokale und trinkt. Ihr Mann sucht sie, um sie wieder nach Hause zu holen. War sie betrunken, sagt er später einmal, verlor sie jede Kontrolle über sich. Nüchtern sei sie dagegen der netteste Mensch gewesen und so kinderlieb, dass die Nachbarinnen ihr ihre Kinder anvertrauten.

Anfang September 1974 lernt Anna Beuschel in einem Lokal auf St. Pauli Fritz Honka kennen. Er nimmt sie mit in seine Wohnung in der Zeißstraße 74 in Ottensen. Sie bleibt bei ihm, doch kümmert sich nicht um den Haushalt und kocht nicht. Trockenes Brot ist alles, wovon sie sich ernährt.

Vor allem trinkt sie Alkohol. Wie lässt es sich überhaupt leben mit den Erinnerungen an die grauenvollen Erlebnisse in den Konzentrationslager? Als sich Anna Beuschel im Oktober 1974 weigert, mit Honka Sex zu haben, vergewaltigt er sie. Anschließend erdrosselt er sie mit einem Handtuch. Ihre Leiche versteckt er auf dem Dachboden seines Hauses. Thomas Beuschel hatte Ende August 1974 eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Anna Beuschels Leiche wird am 17. Juli 1975 beim Brand der Zeißstraße 74 entdeckt.   

Frauke Steinhäuser, Historikerin

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