Alice Schwarzer schreibt

Ich bin ein Alien

Artikel teilen

Alice Schwarzer: Als wir uns zum ersten Mal getroffen haben, hast du mir gesagt, du hättest seit 50 Jahren kein Deutsch gesprochen.
Gerda Lerner: Als junge Frau bin ich aus Österreich zwangsvollerweise ausgetrieben worden, wie alle Juden. Danach konnte man sich das Deutsch der Deutschen nicht mehr anhören. Hitler hat alles Mögliche Schreckliche getan. Aber eines der schrecklichsten Dinge war, dass er die Sprache vergewaltigt und vollständig zerstört hat.

Anzeige

Wie alt warst du da?
Ich habe meinen 18. Geburtstag im Gefängnis verbracht, als Geisel für meinen Vater, der geflohen ist. Man hat mich nur unter der Bedingung aus dem Gefängnis gelassen, daß ich Österreich sofort verlasse. Das musste ich unterschreiben. Das war 1938. Gleich nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland. Aber dann hat man es mir, wie allen anderen jüdischen Menschen, unmöglich gemacht wegzugehen. Wir mussten uns wöchentlich bei der Polizei melden, meine Mutter und ich. Und da hat man uns jede Woche erzählt, nächste Woche kommen wir nach Dachau. Einen Monat vor der Kristallnacht sind wir endlich herausgekommen. Ich bin nach Amerika, ein Jahr später, allein.

Und deine Mutter?
Meine Mutter ist in Frankreich geblieben, sie wurde in Gurs im Konzentrationslager interniert.

Du kamst also allein in Amerika an.
Ja. Ich kam in Amerika an mit dem Äquivalent von fünf österreichischen Schillingen in der Tasche, mehr durfte man nicht mitnehmen. Aber Kisten mit Hausgeräten durften wir mitnehmen. Ich kam also in Amerika an mit einer Kiste. Darin war ein Federbett! (lacht) Und mit einem Koffer voller herrlicher, unzerstörbarer europäischer Kleider, die in Amerika eine Katastrophe waren.

Wieso?
Na, jeder konnte sehen, dass ich direkt vom Schiff gekommen war! Ich hatte diesen herrlichen englischen Tweedmantel, aber sowas trug man doch in Amerika nicht. Die Leute haben mich angeschaut! Aber ich konnte nichts Anderes kaufen, ich hatte fünf Schilling.

Was hast du dann gemacht?
Ich bin fast verhungert. Ich habe mich gefürchtet, zu irgendwelchen jüdischen Agenturen zu gehen und habe lieber allein Arbeit gesucht. Aber ich kam ja direkt vom Gymnasium, mein Englisch war fürchterlich. Ich habe versucht, in einer Fabrik zu arbeiten, da hat man mich rausgeschmissen. Dann habe ich als Dienstmädel gearbeitet. Da hat es gewöhnlich drei, vier Stunden gedauert, und dann hat die Dame gesagt: „Sie haben zuviel Bildung für diese Arbeit!“ Ich habe jeden Drecksjob gemacht, den es für Frauen gab, jeden. Das war sehr lehrreich. Für zwölf Dollar die Woche habe ich 48 Stunden als Kellnerin gearbeitet. Ich mußte hohe Stöckelschuhe tragen, die mir für mein ganzes Leben meine Füße verschandelt haben, und ein Kostüm, das aussah wie aus dem Dreimäderlhaus. Dann habe ich eine Ausbildung zur Röntgentechnikerin gemacht. Wieder musste ich Kaffee kochen, für die Ärzte, und den Mantel halten für den Herrn Doktor, und solches Zeug.

Hattest du denn auch mit den zurückkommenden Soldaten zu tun?
Nein, das konnte ich nicht, ich war doch ein „enemy alien“!

Stimmt ja, du warst ein Alien! „Alien“ ist, glaube ich, das Leitmotiv deines Lebens.
So ist es. Wenn man auf der Straße Deutsch gesprochen hat, wurde man angepöbelt. Als „feindliche Ausländer“, also „enemy aliens“, mussten wir uns jeden Monat melden. Und das hieß: Man konnte nicht in die Armee, man konnte nicht in die Kriegswirtschaft. Das war ich also, bis ich die amerikanische Staatsbürgerschaft bekam. Zu der Zeit konnte ich kein Deutsch mehr hören, ohne dass mir schlecht geworden ist. Nach kurzer Zeit habe ich beschlossen, dass ich eine amerikanische Schriftstellerin werden will, denn ich hatte schon geschrieben, seit ich 16 Jahre alt war. Aber erstmal durfte ich noch reichlich Erfahrungen sammeln.

Darf ich fragen, was aus deinen Eltern geworden ist?
Meine Mutter kam todkrank aus dem Lager heraus und ist dann nach langem Leiden in der Schweiz gestorben. Mein Vater war die ganze Zeit in Liechtenstein. Er hatte dort als Vorbeugung ein Geschäft eröffnet, im Jahr 33, das hat uns das Leben gerettet. Er war Apotheker. In dem Jahr, als meine Mutter und ich im Gefängnis saßen, hatte er drei Herzanfälle. Meine Schwester war mit meiner Mutter in der Schweiz, sie ging dort zur Schule.

Hatte deine Mutter auch einen Beruf?
Sie war Malerin. Das herrlich Schönste, was uns je passiert ist, ist: Sie wurde jetzt, in den letzten zwei Jahren, vom Jüdischen Museum in Wien entdeckt. Und die geben ihr dieses Jahr eine Einzelausstellung, 50 Jahre nach ihrem Tod. Sie heißt Ili (Ilona) Kronstein. Gezeichnet hat sie mit „Ili“. Sie war keine berühmte Malerin, sie hat aber im Exil großartige Sachen gemacht.

Sind alle ihre Bilder gerettet worden?
Nur ein Teil, aber doch 150 Bilder. Außerdem hat meine Mutter eine hochinteressante Korrespondenz aus der Exilzeit hinterlassen, die wird in die Ausstellung mit einbezogen. Meine Schwester, eine in Israel lebende Malerin, hat den Nachlass betreut. Aber um auf die Sprache zurückzukommen: Nach dem Krieg kam ich mehrmals nach Österreich und Europa zurück. 1948, in den 1950er Jahren, in den 1960ern. Und jedesmal hatte ich eine Begegnung, die mich ganz fürchterlich aufgeregt und geärgert hat. Da habe ich gesagt: Ich komme nie wieder zurück.

Kannst du ein Beispiel nennen?
Doch, ja. Natürlich... (Gerda Lerner bricht das Gespräch ab, sie bekommt Magenkrämpfe, nimmt Tabletten. Wir reden über ihre in Auschwitz ermordete Tante.)

Wann hast du zum ersten Mal von den Vernichtungslagern erfahren?
(leise) Ich wusste es schon immer. Ich wusste schon in Wien, was vorgeht, schon vorher. Ich war aktiv in der linken Studentenbewegung, Spanien verteidigen und so, und habe die illegalen Zeitungen gelesen. Das Schwarzbuch der Nazimorde enthielt genaue Beschreibungen der Vernichtungsmethoden.

War deine Familie eigentlich religiös?
Wir haben die Feiertage gefeiert, ich erhielt eine orthodoxe jüdische Erziehung. Meine Großmutter hielt ein jüdisches Haus.

Dann war wenigstens das keine Überraschung für dich – plötzlich zum Juden erklärt zu werden?
Nein. Ich persönlich war als junge Frau nicht mehr religiös. Aber die Familie hat die Kultur beibehalten.

Mit 19 hast du dir vorgenommen, eine „amerikanische Schriftstellerin“ zu werden. Mit 21 hast du geheiratet – und Kinder bekommen.
Ja, zwei.

Dein Vorhaben, dazu noch als „feindliche Ausländerin“, war also kein leichtes Unterfangen. Entstand so dein feministisches Bewusstsein?
Nein, ich bin schon Feministin, seit ich zwölf Jahre alt bin. Meine Mutter war Feministin. Sie hat meine Schwester nach Ibsens Nora genannt. Sie las feministische Bücher und sprach mit uns darüber. Sie war keine politisch aktive Person, aber sie war eine autonome Künstlerin, der es um Gerechtigkeit für die Frauen ging. Ich hab mich schon immer für Frauen interessiert. Ich hatte eine Freundin, Martha, ein Flüchtlingskind aus Jugoslawien, eine Kommunistin. Die hat sich auch sehr für Frauen interessiert. Wir beide haben zusammen Bücher über Frauen in der Gesellschaft gelesen. Eine meiner politischen Tätigkeiten war, dass ich an meiner Schule Bibliothekarin wurde, damit ich den Mitschülerinnen fortschrittliche Bücher zustecken konnte! Ich suchte Romane aus und gab ihnen noch etwas dazu, zum Beispiel „Die Mutter“ von Maxim Gorki.

Hat deine Ehe dich zusätzlich sensibilisiert?
Nein. Ich habe 35 Jahre lang eine sehr glückliche, vollständig egalitäre Ehe gehabt. Mein Mann war Feminist. Trotzdem mussten wir vieles aushandeln. Es war schwierig, seine Arbeit in das Familienleben zu integrieren. In seinem Beruf hatte er nur die Wahl, arbeitslos zu sein oder 75 Stunden die Woche zu arbeiten. Und da konnte er mir natürlich im Haus nicht helfen, ob er wollte oder nicht. Aber wir haben immer eine Haushaltshilfe gehabt. Mit meinem Mann habe ich nur Englisch gesprochen – er konnte kein Wort Deutsch. Wir sind dann nach Hollywood gezogen, denn er war ein sehr erfolgreicher Filmcutter. Er hat später an großen Filmen mitgearbeitet, zum Beispiel bei „Twelv Angry Men“ (Die 12 Geschworenen) mit Henry Fonda. 1945 wurde ich schwanger und habe als Röntgenassistentin aufgehört. Ich bekam einen Job bei der Gewerkschaft, als Chefsekretärin für einen der Bosse.

Da hast du dir ja keinen Frauenberuf erspart.
Fast keinen! In der Sexindustrie habe ich nicht gearbeitet. Und dann war ich noch Hausfrau und Mutter, aber auch Schriftstellerin.

Du hast also nebenher geschrieben.
Immer. Als erstes einen autobiographischen Roman über die vier Jahre vor dem Anschluss, zwischen 34 und 38. Der Roman kam auf Deutsch heraus und auf Englisch. Er erschien 1955 in Österreich und hieß „Es gibt keinen Abschied“. Geschrieben habe ich ihn unter dem Pseudonym „Margaret Reiner“ – auf Englisch. Durch meine Bücher habe ich später in Europa Lesereisen gemacht und Vorträge gehalten. Da habe ich ein neues Publikum gefunden, die zweite und dritte Generation. Das hat mich mit der Sprache und mit Österreich versöhnt.

Du hast eine Tochter und einen Sohn. Was haben die für Berufe?
Mein Sohn ist Regisseur in Hollywood. Meine Tochter ist Familientherapeutin. Als sie ins College ging und mein Sohn schon an der High School war, habe ich ein paar Abendkurse am College genommen. Studieren wollte ich eigentlich nicht. Ich wollte einen historischen Roman schreiben, über die Grimké-Schwestern. Sie waren die einzigen Frauen aus den Südstaaten, die organisiert gegen die Sklaverei gekämpft haben. Dafür wurden sie angegriffen, und zwar genauso wie du und ich heute: weil sie Frauen waren. Man hat sie als Hyänen hingestellt. Dabei waren sie eher brave Mädchen. Doch wenn sie öffentlich auftraten, versammelte sich draußen der Lynchmob und versuchte, den Saal niederzubrennen. Und zwar schon 1838, zehn Jahre, bevor die Frauenbewegung in den USA begann.

Die Grimké-Sisters gehören zu den Pionierinnen der amerikanischen Frauenbewegung.
Ja. Zusammen haben sie zwei Bücher geschrieben. Die eine Schwester, Angelina, hat eine Verteidigungsschrift geschrieben, warum die Frauen gegen den Rassismus kämpfen sollen. Die andere, Sarah, hat das erste feministische Buch Amerikas geschrieben: eine feministische Bibelanalyse, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Nach dem achten Kapitel meiner Grimké-Biographie wurde mir klar: Ich muss Geschichtsforschung betreiben. Ich ging zur „New York School for Social Research“ in New York. Das war ein Institut, das von Emigranten gegründet wurde, Hannah Arendt und anderen. Da war ich 39. Vier Jahre habe ich gebraucht, um ein zweijähriges Studienpensum in Abendkursen zu bewältigen. Dann hat mich meine Anthropologie-Dozentin mal zum Kaffee eingeladen und mir geraten, weiter zu studieren. Wenn sie mir das nicht gesagt hätte, wäre ich nicht auf die Idee gekommen. Ich bin zu drei Universitäten in New York gegangen und habe gesagt: „Ich möchte gern bei Ihnen studieren. Aber ich bin, wie Sie sehen, kein gewöhnlicher Student. Ich bin alt, und ich habe keine Zeit! Sie müssen mir also eine Garantie geben, dass ich meine Forschungsarbeit über die Grimké-Schwestern als Dissertation machen kann.“ Der Leiter der historischen Abteilung an der Columbia University hat es akzeptiert. Am Ende der drei Jahre – nein, vorher, 1962 – habe ich den ersten Kurs über Frauengeschichte gegeben, an der „New School for Social Research“.

1963 ist Betty Friedans „Weiblichkeitswahn“ erschienen. Kann man sagen, das war so ein feministischer Vorfrühling?
Nein, gar nicht, das waren einzelne Menschen. Die wichtigste war Eleanor Flex, eine Journalistin. Sie hat 1955 eine Geschichte der amerikanischen Frauen geschrieben. Und dann gab es noch eine Frau, die in Europa gar nicht bekannt ist: Mary Beard. Sie hat auch Geschichte studiert, hielt sich aber von der Universität fern, weil sie dachte, an dieser patriarchalischen Institution wird man als Frau „brainwashed“, kriegt eine Gehirnwäsche verpasst. Sie hat ganz aus sich selbst heraus Mitte der 40er das herrliche Buch geschrieben: „Women as Force in History“, Frauen als eine Kraft in der Geschichte. Mary Beard hat die Women’s Studies erfunden. Sie hat gesagt: „Es ist Unsinn, dass Frauen keine Geschichte haben. Frauen waren immer an der Geschichte beteiligt.“ Sie hat es bewiesen. Aber sie wurde nicht anerkannt. Wir Frauenwissenschaftlerinnen haben später Seminare über sie gemacht, und ich habe ein Buch herausgegeben mit ihren Dokumenten.

Du hast dich dann auch im Wissenschaftsbetrieb engagiert.
Ich habe das erste Institut gegründet, an dem Frauengeschichte für Graduierte unterrichtet wird. Das war 1972, am Sarah Lawrence College, und wir vergaben erstmals einen Master’s Degree in Frauengeschichte. Und 1990 habe ich an der Uni von Wisconsin ein Studienprogramm gegründet, das zum Doktorat in Frauengeschichte führt. Vorher konnte man einen Abschluss in Geschichte machen und sich auf ein Frauenthema spezialisieren. Aber wir haben ein Doktorandenprogramm in Frauengeschichte mit Pflichtkursen aufgebaut. Dazu gehört ein Kurs über die Theorie der Emanzipation, den ich regelmäßig halte. Dort stelle ich die Ideen von Simone de Beauvoir, Mary Wollstonecraft und anderen Denkerinnen vor, auch die der Grimké-Schwestern.

An den Grimké-Schwestern hat dich auch ihr Engagement gegen den Rassismus fasziniert. Du selbst bist ein doppelter Alien: Du wurdest als Jüdin verjagt und als Frau benachteiligt. Und nun kamst du nach Amerika und trafst ganz neue Aliens: die Schwarzen.
Genau. Und während ich an der Arbeit über die Grimkés saß, fand ich ganz zufällig viele Belege über schwarze Frauen, die sich schon damals in Organisationen und auch individuell für ihre Rechte eingesetzt haben. Und von diesen Frauen hatte nie jemand gehört. Ich setzte mich mit den zuständigen Experten in Verbindung, weiße und schwarze Männer. Ich habe jeden von ihnen gefragt, ob das wohl eine gute Idee wäre, und die haben alle gesagt: „Das ist unmöglich. Die schwarzen Frauen waren doch Analphabetinnen. Die konnten doch gar nicht schreiben.“ So ein Blödsinn! Die schwarzen Männer waren genauso ignorant wie die weißen.

Du bist also mit diesen drei großen Themen – Frauenhass, Judenhass, Rassenhass – seit Jahrzehnten gleichzeitig beschäftigt.
Immer schon, mein Leben lang.

Und was sind für dich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
Für mich ist die wichtigste Frage: Wie kann man diese Monstrosität des Rassenhasses, des Sexismus, des Klassenhasses, der Homophobie – wie kann man sie verstehen, und wie kann man sie bekämpfen? Darin liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit der letzten zehn, zwölf Jahre. Mein letztes Buch „Warum uns Geschichte angeht“ enthält einen Essay über Klasse und Rasse. Die wichtigste Einsicht ist die: Das zugrundeliegende Prinzip des Ausschlusses einer Gruppe von der Mehrheit ist, daß man aus irgendeiner beliebigen Gruppe eine Devianzgruppe macht.

Man macht sie zu den „Anderen“.
Ja, die Anderen, die uns, der Mehrheit, aus irgendwelchen Gründen unterlegen sind. Es handelt sich dabei immer um denselben Prozess, egal, welche Zielgruppe man jetzt ausschließt. Das hat mir sehr zu denken gegeben. Denn bisher waren wir alle sehr damit beschäftigt, gemeinsam oder parallel, jedes dieser Übel einzeln zu bekämpfen.  Man kämpfte entweder gegen den Sexismus oder gegen den Rassismus oder gegen den Judenhass. Auch in der Frauenbewegung.

Das stimmt nicht immer. Die Grimké-Schwestern haben, wie andere Radikale, selbstverständlich gegen den Sexismus und den Rassismus gekämpft. Dasselbe galt für Simone de Beauvoir, und auch wir neuen Feministinnen haben uns immer gleichzeitig gegen Sexismus, Rassismus und Antisemitismus gewandt.
Das war vielleicht am Anfang der Frauenbewegung so. Ich spreche von der jetzigen Frauenbewegung, die vollständig parallel arbeitet. Dabei geht es darum, diesen Prozess als Ganzes zu bekämpfen. Das Patriarchat kann nicht ohne Hierarchie existieren, und die Hierarchie kann nicht ohne Devianzgruppen existieren. Wenn man also das Patriarchat loswerden will, muß man Hierarchien loswerden, also den Prozess unterbrechen, durch den ständig neue Devianzgruppen geschaffen werden.

Aber sind die Frauen als die ersten „Anderen“ nicht das Grundraster, das sich durch alles andere zieht?
Nein, das glaube ich nicht. Zu der Zeit, in der das Patriarchat entstand, war es zwar die erste Aktion, die Frauen zu unterdrücken, aber es waren zuerst nicht die Frauen der eigenen Kultur, sondern die Frauen der besiegten Kultur. Und die wurden dann Sklavinnen, Geschlechtssklavinnen im Harem. Dann erst hat man das auf die eigenen Frauen übertragen. Die ersten Gesetzesdokumente, die wir haben, in denen über das Geschlechtsbenehmen von Frauen bestimmt wird, befassen sich zur Hälfte mit Frauen, zur anderen Hälfte mit Sklaven. Die Sklaverei, der Rassenhass, der ethnographische Hass und der Hass gegen Frauen werden zur selben Zeit und mit derselben Funktion historisch institutionalisiert. Ihr Anfang hat dieselbe Wurzel. Wir vergessen diese Lehren der Geschichte immer wieder, von einer Generation zur anderen, und so müssen wir immer wieder von vorn anfangen.

Du versuchst, theoretisch und praktisch, gegen das Vergessen zu arbeiten.
Ja. Es gibt zwei Historikergesellschaften, und in beiden haben wir eine Frauenfraktion gegründet. Wir haben uns die programmatische Aufgabe gestellt, erstens auf jeder Ebene die berufliche Situation der Historikerinnen auf das gleiche Level wie die der Männer zu heben, und zweitens zugleich die Frauengeschichte zu legitimieren. Ich war Gründerin und die erste Kopräsidentin dieser Organisation, und 1982 auch der erste weibliche Präsident der „Organization of American Historians“. 1968, als wir unsere Organisation gegründet haben, hatte es seit 1931 keine Frau in der Führung der wissenschaftlichen Organisationen mehr gegeben; es gab keine Beiträge von Frauen auf den jährlichen Konferenzen; und es gab so gut wie keine Beiträge von Frauen in den wissenschaftlichen Journalen. Innerhalb von 20 Jahren haben wir Frauen die ganze Profession auf den Kopf gestellt. Wir haben sie übernommen. Als ich angefangen habe, wurden die Stellen nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern der Universitätspräsident griff zum Telefon und rief seinen Kollegen an der anderen Uni an und fragte, ob er einen passenden jungen Mann wüsste. Der hat dann einen empfohlen. Innerhalb von fünf Jahren nach Gründung der Frauenfraktionen haben wir durchgesetzt, daß jeder Job öffentlich ausgeschrieben werden muss, und dass man die Stellenbeschreibung nach der Drucklegung nicht ändern darf. Wir haben die wissenschaftlichen Gesellschaften demokratisiert und die Gleichheit der Frauen als Richtschnur durchgesetzt.

Am Anfang war das für dich ein Einzelkampf, und du musstest dir Verbündete suchen. Was war das denn für ein Gefühl für dich, als plötzlich wieder öffentlich eine Frauenbewegung auftrat?
Das war sehr schön. Ich habe dazu gehört, weißt du! Ich bin ein führender Mensch in der Sache.

Aber diese öffentliche Explosion in den 1970er Jahren, hat die dir etwas Zusätzliches gebracht?
Wir hätten die Umwälzungen an der Universität nie leisten können, wenn die Frauenbewegung uns nicht sozusagen die Schocktruppen geliefert hätte: die jungen Studentinnen, die Ansprüche erhoben. Über die ersten Kurse, die wir in Frauenwissenschaften hielten, zum Beispiel „Über den Körper der Frau“, haben die Männer noch gespottet: „Ja, wer wird denn da kommen?“ Gewöhnlich nehmen 30 Studenten an einem Kurs teil. Na ja, es kamen 300 Frauen, wir hatten immer die überfülltesten Kurse. Gleich im ersten Jahr haben drei von zwölf Studentinnen Preise bekommen. Die Frauen bei uns, muss ich dir sagen, sind  ganz anders als hier: Unsere Studentinnen waren sehr ungeduldig. Die haben sich an den Kopf getippt oder auf den Tisch gehauen, wenn ihrer Meinung nach nicht genug rauskam.

Sie sind anspruchsvoller?
Viel anspruchsvoller! Ich hatte 1976 ein Seminar vorbereitet, die Idee war, dass wir die führenden Frauen aller Frauenorganisationen Amerikas einladen: von den Girls Scouts über die Hadassah bis zu den afroamerikanischen Frauen. Von jeder Organisation eine zu einem 21-tägigen Seminar. Die kamen dann, 45 Frauen. Und die repräsentierten Millionen. Das waren die schwierigsten Studentinnen, die ich je gehabt habe, das kannst du dir vorstellen! Um nur ein Beispiel zu nennen: Natürlich war es selbstverständlich, dass wir die Geschichte der Afro-Amerikanerinnen mit einbeziehen. Und wir wollten auch gerne etwas über Lesben sagen, nur gab es damals noch keine Lesbengeschichte. Da haben wir, meine zwei Kolleginnen und ich, uns gedacht: Na, dann machen wir eine Bibliographie der Bücher, die es gibt, und geben es den Interessentinnen. Am dritten Tag kam der Aufstand der Lesben: „Skandal! Unerhört! Eine Schande! Wo bleibt unsere Geschichte!“ Und da habe ich meinen Spruch gesagt: „Ja, wir kennen das Problem“, und dann haben wir unsere Bibliographie rausgezogen. Da haben sie geschimpft: „Das genügt nicht!“ Die Studentinnen haben also die Sache immer weiter vorwärts getrieben, und das war großartig. Auf der nächsten Konferenz hatte ich schon eine lesbische Geschichtsforscherin dabei, die mitgeplant hat.

Und jetzt? Geht es jetzt vor oder zurück?
Die Zweite Frauenbewegung hat Anfang der 1970er Jahre allerhand Siege errungen, die nicht mehr zurückzudrehen sind. Die Women’s Studies zum Beispiel! Die haben sich schon in den Gehirnen und in der Literatur eingeschrieben, und die Gleichberechtigung der Frauen im Sport.

Die habt ihr in Amerika schon erreicht?
Ja, aber der Kampf tobt immer noch darum, ob in der Mittelschule für die Mädchenteams dasselbe Geld ausgegeben werden soll wie für die Jungenteams. Zurückdrehbar ist der Anspruch der Mädchen auf gleichberechtigte Teilhabe am Sport aber nicht mehr.

Müssten die Jungen- und Mädchenteams nicht auch irgendwann mal anfangen, zusammenzuspielen?
Ja, das fängt in Amerika jetzt schon an. Es gibt ja schon einige olympische Sportarten, die nicht mehr nach Geschlechtern getrennt werden, das Reiten zum Beispiel. Weiter gehört zu den unumkehrbaren Siegen, glaube ich, auch die Sensibilisierung gegenüber der Vergewaltigung von Frauen. Das Bewusstsein ist da, ob nun die Gesetze geändert werden oder nicht. Die Tatsache, dass die Frauen im Militär, bei der Polizei und der Feuerwehr gleichberechtigt sind, hat auch eine Bewusstseinsveränderung bewirkt. Seit Jahren wachsen unsere Kinder auf und sehen Frauen in diesen Berufen „ihren Mann stehen“.

Da haben wir in Europa noch reichlich Nachholbedarf...
Ja! Hinzu kommt: Das Erreichte muss gesichert werden. Frauen hat man in der Geschichte immer wieder aus dem Berufsleben gedrängt. Das war in der Weltwirtschaftskrise in den 30ern der Fall, dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Und es kann wieder passieren. Aber ich glaube, es wird nicht passieren. Es haben Umwälzungen stattgefunden, die heute so verbreitet sind, dass die meisten Menschen nicht einmal wissen, dass das irgendwas mit Feminismus zu tun  hat.

Und wo stehen die Amerikanerinnen jetzt?
Meiner Meinung nach liegt ein viel zu großes Gewicht – ich sehe das auch in Europa – auf der Gewinnung von Macht durch einzelne Frauen, und ein viel zu kleines auf der Veränderung der Gesellschaft. Die Frauen, die einzeln die Macht ergreifen, werden oft wie kleine Männer. Das haben wir nicht nötig. Ich bekämpfe lieber einen untüchtigen Mann als eine tüchtige Frau.

Aber wie willst du Machtverhältnisse ohne eigene Macht verändern?
Macht muss man von unten aufbauen und ständig den Druck von unten aufrechterhalten. Diese einzelnen Alibifrauen sind völlig sinnlos.

Und als role model?
Da gibt es genug in der Geschichte, dafür brauchen wir sie nicht.

Das heißt, du beklagst die Entpolitisierung und Individualisierung der Frauen.
Genau. Nehmen wir zum Beispiel den Sport. Da erleben wir die Veränderung von unten ganz deutlich. Meine Enkelin ist ein ganz dünnes, verträumtes Kind. Sie hat zuerst mit Fußball angefangen. Da hat sie den Ball gleich ins falsche Tor geschossen. Aber kürzlich habe ich sie beim Baseball beobachtet, Softball heißt das bei den Mädchen. Sie ist inzwischen Pitcher, Ballwerferin. Mir hat es den Atem verschlagen, als ich das gesehen habe. Da hab’ ich gedacht: Da isses, da fängt es an. Die vielen sportlich aktiven Mädchen, die heute in den sogenannten Männersportarten Hervorragendes leisten, verändern ihre eigene Lebenseinstellung grundlegend. Und das kann ihnen niemand nehmen. Diese Mädchen sind freie Menschen. Sie stehen mit beiden Füßen fest auf dem Boden, sie klettern in die Höhe, sie trauen sich was zu.

Und wie beurteilst du das Verhältnis der Frauen untereinander?
Gloria Steinem, die amerikanische Ms.-Gründerin, hat ihr ganzes Leben lang ein wunderbares Prinzip gehabt: „Wherever you go, take a woman with you.“ Ich habe das auch immer so gemacht. Wohin du auch gehst: Dein Job ist es, ein, zwei andere Frauen mitzunehmen. Wenn du das nicht tust, ist mir ganz egal, wohin du gehst. Die Männer machen das ja auch so, sie nehmen immer andere Männer mit. Die neue Gefahr ist, dass die Frauen aus verschiedenen Gründen, die kompliziert sind, sich nicht mehr so bemühen, gut miteinander auszukommen.

Was hältst du für die Gründe?
Ich glaube, Korruption durch das System. Die Frauen sind wieder stärker miteinander in Konkurrenz. Eine will größer sein als die andere, länger sprechen, geliebter sein. Und die dritte Gefahr ist der Bruch zwischen den Akademikerinnen und den anderen Frauen.

Grassiert diese elitäre Akademisierung der Frauenfrage auch in Amerika?
Nicht ganz so schlimm wie in Deutschland. Hier ist es ja furchtbar! Das liegt daran, dass die akademische Welt bei euch noch ganz patriarchalisch ist, und es gibt nur einzelne kleine Inseln, wo heroische Frauen etwas geschaffen haben, zum Beispiel die Sigrid Metz-Göckel in Dortmund. Aber das hat noch nicht das ganze akademische System angefaßt.

Verschärfend kommt hinzu, dass die akademische Welt als Ganzes in Deutschland viel abgeschnittener von der Gesellschaft ist.
Na, das war sie schon immer. Aber es ist noch elitärer geworden, noch autoritärer, und die Männer dominieren noch immer das akademische Leben. Dadurch ist die Kluft zwischen Akademikerinnen und Nichtakademikerinnen hier noch viel größer.

Und dadurch sind die Akademikerinnen bei uns, auch wenn sie über Frauenthemen forschen, sehr angepasst, im Denken wie in der Sprache. Sie sind kaum noch zu verstehen und sehr weit vom Leben entfernt.
Leider wahr. Ich les’ ja das Zeug. – Auf der anderen Seite habt ihr einen besseren Zugang zur Politik als wir. Wir kämpfen noch immer um die Repräsentation. Insgesamt gesehen meine ich, dass wir in einer Übergangszeit leben. Die Menschen haben nicht genug Perspektive. Entweder sie sind hochbegeistert oder tiefverzweifelt – nichts dazwischen. Auch dazu muss man die Geschichte kennen.

Letzte Frage: Demnächst erscheint ein neues Buch von dir. Worum geht es da? Und was sind deine nächsten Projekte?
„Warum uns Geschichte angeht“ erscheint jetzt auf Deutsch. Zur Zeit arbeite ich an einer politischen Autobiographie, die fast fertig ist.

Wir sind gespannt...
Das Gespräch führte Alice Schwarzer. - EMMA Mai/Juni 2000

Weiterlesen
Die Entstehung des Patriarchats (9/1992)
Der Ursprung der Macht (9/1992)

Artikel teilen
 
Zur Startseite