Alice Schwarzer schreibt

Kleiner Unterschied - große Folgen

Lesung in Bochum, 1975
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Seither ist viel passiert. Die Frauen sind unabhängiger und selbstbewusster geworden im Leben – und damit auch in der Sexualität. Die Sexualwissenschaft spricht von einer zunehmend „kommunikativen“ Sexualität zwischen den Geschlechtern, also einer befriedigenderen Lust für beide. Doch in jüngster Zeit schlagen Sexualwissenschaftlerinnen wie Margret Hauch vom Hamburger Institut Alarm. Sie stellte fest, dass Frauen aller Generationen zunehmend unzufriedener sind mit dem Sex als Männer. Jede Dritte tut sich gar schwer, überhaupt sexuell erregt zu sein. Hat sich – ganz wie bei der „sexuellen Revolution“ der 68er – ein neuer Druck aufgebaut? Ist Lust auch für die Frauen von heute oft keine neue Freiheit, sondern ein neuer Zwang?

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Die Ursachen sind vielfältig. Da ist die einschüchternde, mediale Sexualisierung aller Lebensbereiche sowie die epidemische Pornografisierung der Sexualität. Und da sind die neuen Machos aus den alten Machokulturen, die als Platzhirsche unsere „neuen Männer“ an die Wand drücken. Was die Qualität der Lust zwischen Frauen und Männern nicht gerade hebt. Denn eines ist auch für die Sexualforschung unstrittig: Je ungleicher die Beziehungen, umso schlechter der Sex.

Im „Kleinen Unterschied“ ging ich von dieser Gleichheitsthese aus. Auch meine zweite zentrale These im „Kleinen Unterschied“, die Kritik an der einseitigen „Monosexualität“, scheint sich auf den ersten Blick erfüllt zu haben. Denn hätte mir damals jemand prophezeit, dass es nur dreißig Jahre später die „Homoehe“ geben würde, ich hätte es nicht geglaubt. Doch hat diese Entwicklung wirklich das Gebot der Monosexualität erschüttert? Nicht zwingend. Eher im Gegenteil: Sie hat sie verfestigt. Denn heute sind die Menschen zwar nicht mehr zwangsheterosexuell, aber sie sind entweder heterosexuell oder homosexuell. Und es heißt wieder, die „sexuelle Orientierung“ sei angeblich angeboren, zumindest aber irreversibel geprägt. Dabei sprach schon Sigmund Freud von einer „polymorphen“, vielfältigen Sexualität des Menschen, und von seinem Zeitgenossen Ferenczi kommt der Begriff von der kulturell geprägten „Zwangsheterosexualität“.

Sicher, die sexuelle Präferenz mag häufig früh geprägt sein und die jeweilige Neigung eine tiefe Vorliebe – unerschütterlich jedoch ist sie nicht. Das haben nicht zuletzt die vielen heterosexuell lebenden Frauen in den 1970er Jahren gezeigt, die sich im Zuge der „neuen Zärtlichkeit“ plötzlich reihenweise in Frauen verliebten. Nur, weil das Tabu gefallen war.

Genau das empfanden Männer verständlicherweise als Bedrohung. Schließlich hat das Liebesmonopol von Männern über Frauen für das starke Geschlecht sehr nützliche Folgen: Im Namen der Liebe neigen Frauen zur Selbstaufgabe, Gratisarbeit und Relativierung ihrer eigenen Existenz. Darauf baut die ganze männlich-weibliche Arbeitsteilung auf. Die sexuelle Präferenz scheint also eher eine soziale Frage als eine erotische. Und sie kann sich ändern innerhalb eines Lebens.

Eine Frau also eine „bekennende Lesbe“ zu nennen, wie es die Süddeutsche Zeitung mit der jüngst verstorbenen Frauenpolitikerin Johanna Dohnal tat – die Mutter von zwei Kindern ist, geschieden und zuletzt mit einer Frau lebte – das ist entschieden zu kurz gegriffen.

Bemerkenswert ist, dass auch die Sexualpraktiken wieder schmalspuriger geworden sind. Das belegen Studien: Sex zwischen Frauen und Männern gleich Koitus. Das weibliche Sexualorgan ist bekanntermaßen nicht die empfindungslose Vagina, sondern die Klitoris. Dass Frauen trotzdem Lust empfinden beim Koitus, hat sowohl psychische Gründe (die Vereinigung), als auch physische: Beim Eindringen in die Vagina können die Schwellkörper der Klitoris aktiviert werden. Die Frauen selber wissen das nur zu gut. So fand die Berliner Charité bei einer Befragung von 575 Frauen heraus, dass jede zweite Frau ihren ersten Orgasmus beim Masturbieren erlebt hat. 25 Prozent hatten ihren ersten Höhepunkt beim Koitus und 15 Prozent bei anderen Sexualpraktiken mit Männern.

Die amerikanische Sexualforscherin Mary Anne Sherfey hatte mit dem Buch „Die Potenz der Frau“ Anfang der 1970er Jahre das wichtigste Aufklärungsbuch über den weiblichen Körper geschrieben und war sozusagen die „Entdeckerin“ der Klitoris. Die australische Urologin Helen O’Connell forschte in den 1990er Jahren weiter und fand heraus: Die weiblichen Schwellkörper sind mindestens doppelt so groß wie bisher bekannt. Die Klitoris ist nur die Spitze des Eisberges. Innerhalb des Körpers reichen die Schwellkörper bis zu neun Zentimeter tief. Gesamt sind sie umfangreicher als die männlichen Schwellkörper.

Soweit die Anatomie. Doch das wichtigste Sexualorgan ist und bleibt der Kopf. Und der scheint bei Frauen noch präsenter zu sein als bei Männern. So empfinden interessanterweise körperlich erregte Frauen keine Lust, solange sie nicht auch begehren. Gar nicht so einfach, das mit der Lust und den Frauen.
 

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Der große Unterschied: Der Mythos

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(...) Nicht zufällig kam die Sado-Maso-Mode nach Aufbruch der Frauenbewegung gegen Ende der 70er auf. Sie drang dank Fernsehen und Videos auch bis ins letzte Eigenheim von Hintertupfingen. Jetzt dürfen, ja sollen, alle Männer Sadisten sein und alle Frauen Masochistinnen. Da ist es tröstlich, dass in der Psychologie-heute-Umfrage im Juli 2000 nur rund 1 % aller Männer und Frauen angaben, SM zu praktizieren. Und im US-Sex-Report von 1996 sagt gar nur eine von 1.000 jungen Frauen, sie fände es "reizvoll", zum Sex gezwungen zu werden. Da ist also eine gewaltige Kluft zwischen der öffentlichen Zelebrierung sado-masochistischer Praktiken und dem privat Gelebten. Ist die erotisierte Gewalt in der Sexualität also noch eher Propaganda als Realität? Und ließen sich Gegenmodelle schaffen?

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Professionelle Prostituierte allerdings klagen schon länger, dass die Erwartungen vor allem der voll pornografisierten jungen Freier immer aggressiver werden. Früher war SM eine exotische Praktik für Spezialisierte, heute verlangen die jungen Männer Sadomaso-Spiele von jeder Prostituierten und wollen dabei immer die Sadisten sein. Selbst die bezahlte Domina spielt ja nur auf Befehl die Starke für einen Mann, der einmal "Sklave" sein will, aber in Wahrheit der Herr ist. Ähnliches gilt für private SM-Inszenierungen. Denn ein Mensch kann nicht im intimen, subjektiven Binnenverhältnis einfach abstrahieren von den äußeren Machtverhältnissen.

Selbst bei sexuellen Inszenierungen, an denen alle Beteiligten freiwillig mitmachen, es also weder Kinder noch andere Abhängige gibt (was selten ist): Ließe sich dann hinter verschlossener Tür vergessen, dass die ganze Welt beherrscht ist von Männergewalt? Kann die inszenierte Gewalt in der Sexualität eine das Leben nicht berührende Fantasie sein in einer Welt, in der jede zweite Frau auch real geschlagen und vergewaltigt wird?

Aufschlussreich ist auch die Tatsache, dass die Fetische des sexuellen Sadomasochismus oft den Folterkellern der Diktaturen entliehen sind und gerade in Deutschland die Reminiszenz an die Naziästhetik bei Lack, Leder und Ketten unübersehbar ist. Es gibt sogar Kreise, in denen die Verwendung von Original-Nazi-Devotionalien als besonders "geil" gilt. Auch die Faszination für die inzwischen zur "Kunst" deklarierten und ins Museum eingezogenen Fotos von Helmut Newton liegt ja ausschließlich in ihrer faschistoiden Ästhetik: die hohe Frau, in Stiefeln oder Stilettos, gerne mit Peitsche und vorzugsweise blond. Wir sehen, über Sexualität lässt sich kaum reden, ohne auch von Pornografie und Sexualgewalt zu sprechen. Zu sehr ist die gesamte Sexualität davon angefasst, denn sie ist aus dem Stoff, aus dem die Träume und Fantasien sind. Zum Mythos Sexualität gehört darum untrennbar der Mythos von Gewalt und Tod. Ein männlicher Mythos mit Tradition.

Schon Sigmund Freud sah "Sexualtrieb" und "Todestrieb" eng verknüpft. Und auch der deutsch-amerikanische Pionier der modernen Sexualforschung, Robert J. Stoller, ging davon aus, dass über jeder erotischen Motivation quasi naturgegeben "ein Hauch von Feindseligkeit" liege; ja, dass alle sexuellen "Perversionen" eine "erotische Form von Hass" seien. Stoller steht mit diesem Verständnis von Sexualität nicht allein und hat Generationen von Sexualwissenschaftlern geprägt.

Perversionen sind reine Männersache. Auf zehn männliche Perversionen kommt eine weibliche. Dreimal dürfen wir raten welche... der Masochismus! Und auch der Mythos vom Sexualtrieb, der bis heute noch die Tat des grausamsten Sexualmörders pathologisiert und entschuldigt, war eine Erfindung von Medizinern und Sexualwissenschaftlern. Er geistert seit Mitte des 19. Jahrhunderts (dem Zeitpunkt des Aufbruchs der Ersten Frauenbewegung) durch die Wissenschaft und wurde bis in die 70er Jahre (dem Zeitpunkt des Aufbruchs der Ersten Frauenbewegung) durch die Wissenschaft und wurde bis in die 70er Jahre (dem Zeitpunkt des Aufbruchs der Zweiten Frauenbewegung) unwidersprochen hingenommen. Seither ist er zwar längst von der ernst zu nehmenden Wissenschaft widerlegt, erfreut sich aber weiterhin unkritischer Popularität bei den Medien.

Diese Triebtheorie geht davon aus, dass die männliche Begierde eine Art Dampfkessel ist, der ab und zu zwingend Dampf ablassen muss. Geht das nicht, kommt es zu eruptiven Ausbrüchen. Feministinnen kritisierten die in jeder Hinsicht unhaltbare Theorie, und die Psychoanalyse pflichtete ihnen bei. So erinnerte Margarete Mitscherlich-Nielsen in den 80ern: "Auch die Psychoanalyse ist davon überzeugt, dass die Lern- und Wandlungsfähigkeit der Triebe beträchtlich ist und sie erst durch die frühern Interaktionen des Kindes mit seinen Bezugspersonen strukturiert werden." Zehn Jahre später argumentierte Sexualforscher Schmidt: "Nicht die Nicht die Natur macht den (männlichen) Trieb allgewaltig, sondern der Konflikt zwischen Wunsch und Verbot, durch den das sexuelle Verlangen gezügelt, weggedrängt und zu einem fremden Teil wurde. Dieses Fremde, Abgespaltene ist der Trieb."

Hier taucht es also wieder auf: das bis ins Pathologische gesteigerte Motiv der Fremdheit und damit auch der Aggression und Zerstörung. Es gibt keinen Trieb, aber es gibt die Pervertierung sexueller Lust in destruktive Lust. "Triebtäter" sind immer "Hasstäter". Und: "Triebtäter" sind immer Männer. Es ist anzunehmen, dass die Vision einer befreiten Sexualität der Frauen anders aussehen wird als die der Männer. Nicht aus biologistischen, sondern aus psychosozialen Gründen. Vermutlich wird die Frauenlust nicht das Fremde erotisieren, sondern das Vertraute; wird sie nicht vorwiegend vom Hass gespeist sein, sondern von der Liebe.(...)

Alice Schwarzer in "Der große Unterschied - Gegen die Spaltung von Menschen in Männer und Frauen" (Kiepenheuer & Witsch, 2000)

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