Merve Aksoy: Genug geschwiegen!
Dass sie eine kämpferische Person ist, springt gleich ins Auge. Auf dem Zoom-Bildschirm erscheint eine Frau im schwarzen Tanktop. Unter ihrem Zopf sind die Haare zum Undercut rasiert und um den Hals trägt sie ein großes silbernes Frauenzeichen. Tatsächlich hat Merve Aksoy gerade den Kampf ihres Lebens geführt – und gewonnen.
Sie hat erreicht, dass der Regisseur Engin Kundağ und seine Produktionsfirma ihr 5.000 Euro Schmerzensgeld zahlen müssen. Das Berliner Arbeitsgericht sah als erwiesen an, dass Kundağ widerrechtlich Nacktaufnahmen der Schauspielerin verwendet hatte. Doch das war noch nicht alles.
Im März 2021 fliegt Merve Aksoy zu Dreharbeiten nach Igdir in Ostanatolien. „Ararat“ heißt der Film, in dem die damals 26-Jährige ihre erste Hauptrolle spielen soll. Merve ist Zeynep, die nach einer Fahrerflucht von Berlin zurück ins Elternhaus flüchtet. Die sieben Wochen Dreh müssen, so schildert es Merve Aksoy, die Hölle gewesen sein.
Sie sitzt im Kinosaal der Berlinale und sieht auf der Leinwand ihre nackten Brüste
Ständig habe es erniedrigende Sprüche gegeben. Regelrecht brutal sei es geworden, als in einer Szene der Vater die Tochter verprügelt. Ohne Probe oder Absprache habe der Schauspieler sie herumgeschleudert und geschlagen. Obwohl Merve in Tränen ausbricht, lässt Regisseur Kundağ die Szene sechsmal wiederholen. „Ich konnte nicht mehr stehen, mein ganzer Körper hat mir wehgetan.“ Natürlich hat sie sich gefragt, warum sie nicht abgebrochen hat. „Ich stand völlig unter Schock“, erklärt Merve Aksoy. „Ich dachte: Ich darf nichts falsch machen, damit er nicht ausrastet.“ Kundağ bestreitet die Vorwürfe.
Und dann war da diese Masturbations-Szene. Stundenlang habe sie sich reiben müssen, sie solle sich „richtig weh tun“, forderte Kundağ. Aksoys Oberkörper ist nackt, aber sie geht davon aus, dass der im Film nicht gezeigt wird, denn Nacktaufnahmen sind vertraglich ausgeschlossen.
Am 22. Februar 2023 hat „Ararat“ Premiere auf der Berlinale. „Ich sitz im Saal. Und dann: Bäm!“ Sie sieht sich auf der Leinwand masturbieren, aber zu sehen ist nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre nackten Brüste. Die Szene geht über knapp zwei Minuten. Merve weint in ihrem Kinosessel. Dann beschließt sie: „Let’s go to the fight!“ Sie verklagt den Regisseur. Und lanciert die Kampagne #Genuggeschwiegen. Denn: „In dieser Branche passiert so viel Scheiße!“
Widerständigkeit hat Merve Aksoy von den Frauen ihrer Familie gelernt. Von der Großmutter, die nicht lesen und schreiben konnte, und genau deshalb „dafür gesorgt hat, dass alle Frauen in der Familie berufstätig sind“. Von der Mutter, die sich noch in der Türkei vom Vater scheiden ließ, mit der kleinen Merve als Alleinerziehende nach Frankfurt kam und Abteilungsleiterin einer Drogerie wurde. „Mir wurde immer gepredigt: Frauen sind stark und können alles schaffen, was sie wollen!“
Nach einer Ausbildung als Einzelhandelskauffrau meldet sich Merve bei einem Casting für GZSZ. Das Spiel vor der Kamera macht ihr Spaß und sie beginnt in Berlin eine Ausbildung als Schauspielerin. Es folgt 2019 ihre erste Rolle im Kinofilm „Nur eine Frau“ über Hatun Sürücü, Merve spielt die Schwester der vom eigenen Bruder Ermordeten. Maren Kroymann holt sie in ihre Comedy-Sendung. 2021 outet sich Merve bei der Kampagne „Act out“ als lesbisch. Und dann: Die erste Hauptrolle in „Ararat“! Es läuft super. Dann kommt der Dreh.
Seit Merve Aksoy den Hashtag #Genuggeschwiegen veröffentlicht hat, melden sich Kolleginnen bei ihr. Sie bedanken sich und berichten von Übergriffen in der Branche, bis hin zur Vergewaltigung. Merves Klage wird in der ersten Instanz abgewiesen. Sie macht weiter. Zur Gerichtsverhandlung am 27. Juni wird sie von den Femen eskortiert, auf deren Brüsten steht: „Nackt, wenn ich es will!“
Diesmal gibt das Gericht Merve Recht. Doch das Berliner Arbeitsgericht hat nur über die Nacktaufnahmen entschieden. Wegen der Schläge hat Aksoy Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. Sie wurde eingestellt, wegen „mangelnden öffentlichen Interesses“. Merve hofft, dass die Staatsanwaltschaft das nach ihrem Sieg inzwischen anders sieht. Merves Kampf geht weiter.
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