Modellprojekt Missbrauch

Reformpädagoge Kentler iniitierte das "Ziehväter"-Projekt, das Pädokriminelle mit Jungen belieferte. - Foto: Ullstein-Bilderdienst
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Die Empörung ist groß. Wieder einmal. Und es ist ja auch tatsächlich ungeheuerlich, was das Forschungsteam der Universität Hildesheim herausgefunden und gerade der Öffentlichkeit präsentiert hat: Über Jahrzehnte brachten Berliner Jugendämter aus der Bahn geworfene Kinder und Jugendliche bei offen pädosexuellen Männern unter. Dass die teilweise vorbestraften Täter die Jungen missbrauchten, war Teil des Konzepts. Urheber des staatlich organisierten Missbrauchs war der Pädagogik-Professor Helmut Kentler, der das „Ziehväter“Projekt 1969 initiierte.

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Helmut Kentler verkehrte in feinsten Kreisen und war Gerichtsgutacher

„Ich habe in der überwiegenden Mehrheit die Erfahrung gemacht, dass sich päderastische Verhältnisse sehr positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen auswirken können, vor allem dann, wenn der Päderast ein regelrechter Mentor des Jungen ist“, erklärte der damalige Abteilungsleiter des Pädagogischen Zentrums in Berlin.

Das sogenannte „Kentler-Experiment“ fand keineswegs im Verborgenen statt. Im Gegenteil: Der Reformpädagoge galt als Star der Sexualpädagogik, als mutiger Kämpfer gegen die spießige Sexualmoral der 1950er Jahre, als Befreier der kindlichen Sexualität. Der linke Pädagogik-Papst verkehrte in feinsten Kreisen, zum Beispiel beim Berliner Innensenator, dessen polizeipsychologischer Berater er war.

Mitte der 1970er wurde er Professor an der Technischen Universität Hannover, ein paar Jahre später auch Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung“. Und: Er war ein gefragter Gerichtsgutachter. Der respektable Professor Helmut Kentler machte bis zu seinem Tod im Jahr 2008 eine glänzende Karriere.

Ein behinderter Junge starb, weil ein "Pflegevater" ärztliche Hilfe verweigerte

Heute ist es allen klar: Das Kentler-Experiment war „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung“, so die vier Hildesheimer ForscherInnen vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik. Das „Modellprojekt“ macht nun Schlagzeilen in allen Medien als „unfassbarer Skandal“. Doch lange herrschte über das Projekt, das heute tatsächlich als unfassbar gilt, Schweigen im Walde. Dieses Schweigen wurde nur sehr langsam gebrochen.

Insbesondere der Fall von Fritz H. ist bekannt: Der ehemalige Schweißer bekam 1973 seine ersten Pflegekinder zugewiesen, die er schlug und missbrauchte. Ein schwer behinderter Junge starb in seiner „Obhut“, weil Fritz H. dem Jungen, der an einer Lungenentzündung erkrankt war, ärztliche Hilfe verweigerte. Der Obduktionsbericht fehlt in der Akte.

Die Hildesheimer Studie enthüllt nun jedoch, dass die Kreise der belieferten Pädokriminellen viel größer sind und die Täter in allen Schichten sitzen.

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