Moria: die doppelte Gewalt

Ein Mädchen im Flüchtlingscamp auf Lesbos. Sexuelle Gewalt ist dort alltäglich. - Foto ANE Edition/imago images
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Auch in dem neuen Flüchtlingscamp auf Lesbos, das nach dem Brand errichtet wurde, sind die Zustände katastrophal. Und Gewalt gegen Frauen und Kinder ist an der Tagesordnung. EMMA hat für die aktuelle November/Dezember-Ausgabe mit zwei Frauen gesprochen, die nicht länger schweigen wollen. Maria ist ehrenamtliche medizinische Helferin. Samira ist Lehrerin und aus Afghanistan vor den Taliban geflohen. (Ihre Namen sind zum Schutz der Interviewten geändert.)

Die November/Dezember-EMMA
Die November/Dezember-EMMA

Sie behandeln täglich Menschen im Lager. Wie haben Sie von den sexuellen Übergriffen auf Frauen und Mädchen erfahren?
Maria Die Frauen und manchmal auch Männer, die ich behandle, erzählen mir davon. Ich höre immerzu diese Geschichten und ich ertrage das einfach nicht mehr. Eine Patientin hat mir zum Beispiel erzählt, dass ihre Schwester vergewaltigt wurde. Sie hat sich an die Polizei gewandt. Und die hat sowohl die Schwester als auch den Täter auf die Polizeistation in Mytilini gebracht – aber dann haben sie den Mann sofort wieder freigelassen. 

Wie kann das sein?
Maria Das haben wir auch nicht verstanden. Das ist auch nur ein Fall von sehr vielen. In einem anderen Fall hatte sich ein 17-jähriges Mädchen aus Afghanistan mehrmals mit einem jungen Mann getroffen, den sie wohl zunächst auch mochte. Aber als sie dann erfuhr, dass er sich auch mit anderen Frauen trifft, hat sie ihn zurückgewiesen. Der Mann hat dann einen Freund eine Nachricht an das Mädchen schicken lassen. Er hat ihr gedroht, dass er ein Nacktfoto von ihr hätte, das er ihren Eltern schicken würde. Sie verließ daraufhin das Areal für die Minderjährigen und ging in den Olive Grove. Das ist ein Areal, in das sich das Camp wegen Überfüllung ausgedehnt hatte und das nicht zum offiziellen Lager gehörte. 

Mariam Im Olive Grove lebten Tausende Geflüchtete. Aber die Polizei erklärte immer wieder, sie sei nicht zuständig für das, was außerhalb des regulären Camps passiert. 

Maria Dort bedrohte der Mann sie mit einem Messer und vergewaltigte sie. Die beiden Männer haben die Vergewaltigung gefilmt und dem Mädchen gedroht, die Aufnahme ihrer Familie zu schicken, wenn sie nicht wieder mit ihnen Sex hat. Als sie danach weinend ins Camp zurückkam, hat jemand die Polizei gerufen. Die hat den Täter eine Nacht lang in Haft genommen und am nächsten Tag wieder freigelassen. Sie kennen also den Täter und haben auch Beweise für die Tat, aber es ist ihnen offenbar egal.

Verschärfend hinzu kommt vermutlich, dass viele dieser Mädchen und Frauen schon in ihrem Heimatland oder auf der Flucht sexuelle Gewalt erlitten haben.
Maria So ist es. Das vergewaltigte 17-jährige Mädchen zum Beispiel war in Afghanistan mit zehn Jahren zwangsverheiratet worden und hatte mit 13 ihr erstes Kind bekommen. 

Mariam Die Mädchen und Frauen werden ständig sexuell belästigt, mit Worten oder körperlich. Das betrifft nicht nur, aber besonders die alleinstehenden Frauen. Wenn sie allein hier ankommen, sehen viele Männer in ihnen eine Beute. Sie werden vergewaltigt, zum Beispiel, wenn sie zur Toilette gehen. Das war in Moria so und ist im neuen Camp nicht anders. Und das passiert auch jungen Mädchen, egal, ob sie unter 18 oder sogar unter 14 sind. Die Polizei erklärt: „Wir können euch nicht schützen, das müsst ihr selbst machen.“ Deshalb haben die Frauen Angst, die Täter anzuzeigen. Ich habe sie schon so oft gebeten, das zu tun. Aber die Frauen sagen mir: „Wenn die Polizei die Täter sofort wieder freilässt, wird es hinterher noch gefährlicher für uns.“ 

Sind diese Vergewaltiger geflüchtete Männer?
Maria Ja, teilweise sind es geflüchtete Männer. Aber einem Ort wie Moria kann jeder ein Täter sein: andere Geflüchtete, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder Leute, die einfach in das Camp kommen. 

Mariam Ich habe gehört, dass Männer der Firma, die im Camp die Lebensmittel anliefert, sich gezielt an Familien mit Töchtern oder alleinstehende Mütter gewandt und sie gefragt hat, ob sie ihnen im Austausch für besseres oder mehr Essen nicht ihre Töchter zur Verfügung stellen wollten. 

Maria Das habe ich auch gehört. Und dann sind da noch Leute aus Mytilini, die mit ihrem Auto in das Camp gefahren kommen und Mädchen, aber auch Jungen Geld für sexuelle Handlungen anbieten. 

Kann denn einfach jeder unkontrolliert in das Camp gehen?
Maria Ja! Und das ist eben die Frage: Warum hat denn jeder so einfach Zugang zum Bereich, in dem die Minderjährigen untergebracht sind? Und warum dürfen Minderjährige nachts das Camp verlassen? Wie kann es sein, dass sie Zugang zu Alkohol und Drogen bekommen? 

Wie ist die Lage im neuen Camp?
Maria Im neuen Camp ist die Polizei sehr präsent, aber die Lage ist immer noch sehr chaotisch, so dass nach wie vor jeder in das Camp kommen kann. Es fehlt immer noch am Bewusstsein, dass Frauen und Kinder konsequent geschützt werden müssen. 

Mariam Und dann gibt es eine Menge Häuslicher Gewalt. Das ist natürlich auch den wahnsinnig beengten Verhältnissen geschuldet. Sie stopfen acht oder zehn Familien in einen Container, der eigentlich für eine Familie gedacht ist. Hinzu kommt: Weil es für die Frauen so gefährlich ist, sich draußen zu bewegen, verbieten ihnen die Männer, allein zur Toilette zu gehen oder wollen, dass sie sich verschleiern. 

Das heißt, die Unterdrückung der Frauen geht nach der Flucht aus diesen patriarchalen Ländern hier in Europa weiter?
Mariam Ja. Die Menschen sind zwar jetzt körperlich in Europa, aber ihre Seelen sind hier nicht angekommen. Unter diesen Bedingungen können sie es aber auch nicht. Und ich bin so wütend darüber! Ich habe in Afghanistan viel Gewalt gegen Frauen gesehen, aber ich muss sagen: Hier ist es noch schlimmer! Denn hier gibt es angeblich Demokratie. Ich habe in Afghanistan für eine schwedische NGO gearbeitet und dort so viel über „Gender Based Violence“ (geschlechtsabhängige Gewalt, Anm.d.Red.) gelernt. Und jetzt bin ich in Europa - und Frauen werden immer noch nicht geschützt! 

Maria Alle Beteiligten müssten begreifen, dass ein Flüchtlingscamp ein Ort sein sollte, an dem die Menschen ihre körperlichen und seelischen Kräfte wiedergewinnen können. Ein Ort, an dem sie wirklich geschützt sind. Sie verlassen das Camp sonst mit mehr Schäden als sie gekommen sind.

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Ein Weltgastrecht für Frauen

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Ein Wort wird zentnerschwer: K-R-I-E-G.

Natürlich kennen wir das Wort, aber für die meisten von uns bezeichnet es Nachrichten von anderswo. Oder ein Etwas aus Geschichtsbüchern. Der 1. Weltkrieg ist ein fernes Gespenst. Der 2. Weltkrieg endete 1945, unsere Mütter oder Großmütter haben ihn noch erlebt. Aber wenn wir jünger als 70 Jahre alt sind? Dann sind wir Friedenskinder.

Wir kennen Erzählungen und Fotos von Elend und Luftschutzkellern. Vereinzelt noch Baulücken in Städten. Hinzu kommen aktuelle aber ferne Kriege aus zweiter Hand, Nachrichtenschnipsel, wackelige Kamerafahrten, KommentatorInnen vor hastig arrangiertem Hintergrund.

Krieg ist die Katastrophe schlechthin

Wir misstrauen den Bildern, während sie uns zugleich gefangen halten. Wenn wir aber hinsehen: Was wäre zu tun? Scham und Ohnmacht mischt sich mit der gleichwohl vorhandenen Erleichterung, „hier“ sicher zu sein.

Ein diffuser Schrecken: Krieg ist die Katastrophe schlechthin. Ich zum Beispiel empfinde neben den Bombentoten oder Schusswaffen das als ­besonders fürchterlich, was zwischen Uniformierten und Zivilisten passiert, was marodierende Milizen anrichten. Dazu das, was Schmerzen, Verletzungen, Tod wie eine Lache umgibt, die auch in Jahrzehnten nicht trocknen wird: Angst, Grauen, Trauer, Panik, Verrat. Der Zerfall jeglicher Freundschaft und Fürsorge. Zu lindern ist das nicht – oder eben durch Hass.

Hass wiederum treibt Kriegsbereitschaft und Kriegsgeschäfte weiter voran. Überhaupt, ja: die Geschäfte. „Sicherheit“ ist ein Gut, dessen Aktienkurse man durch Kriegsangst und Krieg hochtreibt. Es gibt Ökonomien des Krieges, Branchen, für die sich Krieg rechnet, und militärische Eliten, deren Handwerk er ist. Die Soldaten und neuerdings auch Soldatinnen sind nur zu verheizendes Material.

Und Waffen sind Material, das verbraucht sein will, zumal in Zeiten, in denen es kein teures (also lukratives) Wettrüsten mehr gibt. Die „neuen“ Kriege gehen darum so: Immer seltener steigen heute ganze Staaten offiziell ein. Stattdessen toben heute, wo geschossen, vergewaltigt, verstümmelt wird, die Wölfe: Warlords, Clanchefs, Milizen, Söldner, Mafia. Ein schmutziger Alptraum mit leisem Beginn und ohne Ende.

Krieg ist nach wie vor Männersache, auch das macht ihn gespenstisch. Trotz Frauen im Soldatenberuf: In der Eskalation fallen die Geschlechterrollen wieder brutal auseinander. Schon lange sterben in Kriegen prozentual mehr Zivilpersonen als Militärs. Systematische Vergewaltigungen sind ein Instrument auch der Kriegführung des 21. Jahrhunderts. Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern, die das Vergewaltigen und Morden professionell betrieben haben? Frauensache. Das Grauen geht auch nach Kriegsende im Kleinen weiter.

Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern?

Wohin also mit dem Krieg? Einfach nur hoffen, dass er uns nicht trifft? Und wenn ich etwas tun will: Wie kann ich heute noch friedenspolitische Zeichen setzen? Gibt es Friedensdemonstrationen, die hie die Waffenproduzenten und da die Warlords, marodierende Milizionäre, die Mafia beeindrucken? Oder auch nur den Sohn meiner Nachbarin, der mit Kumpels weltweit World of Warcraft spielt? Ist ja nur ein Spiel, meinte die Nachbarin, eine überzeugte Pazifistin. Unlängst meldete ihr Sohn sich als Zeitsoldat zum Bund. Gewalt öffentlich anprangern, Heroisierung verweigern, Bilderkonsum hinterfragen. Reicht das aus?

Ich habe einen Traum: Lasst uns in großem Stil weibliche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aufnehmen! Öffnet die Kindergärten für afghanische Mädchen, bietet ihren Müttern Wohnraum und einen Job, schafft Studienplätze für syrische Studentinnen, holt weibliche afrikanische Vertriebene – kurzum: Schafft ein Weltgastrecht für Frauen! Aufenthalt so weit und so lange sie es wollen. Nehmen wir den kriegführenden Parteien die andere Hälfte der Menschheit weg, ihr Ruhekissen und ihre Zukunft.

Angenommen, diejenigen, zu denen Soldaten, Waffenschmuggler, Milizionäre zurückkehren wollen, könnten mit den Füßen abstimmen.

Angenommen, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Töchter wären keine Geiseln des Territoriums mehr. Dann endlich würde Krieg sich nicht mehr lohnen.

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