Ein Weltgastrecht für Frauen

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Ein Wort wird zentnerschwer: K-R-I-E-G.

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Natürlich kennen wir das Wort, aber für die meisten von uns bezeichnet es Nachrichten von anderswo. Oder ein Etwas aus Geschichtsbüchern. Der 1. Weltkrieg ist ein fernes Gespenst. Der 2. Weltkrieg endete 1945, unsere Mütter oder Großmütter haben ihn noch erlebt. Aber wenn wir jünger als 70 Jahre alt sind? Dann sind wir Friedenskinder.

Wir kennen Erzählungen und Fotos von Elend und Luftschutzkellern. Vereinzelt noch Baulücken in Städten. Hinzu kommen aktuelle aber ferne Kriege aus zweiter Hand, Nachrichtenschnipsel, wackelige Kamerafahrten, KommentatorInnen vor hastig arrangiertem Hintergrund.

Krieg ist die Katastrophe schlechthin

Wir misstrauen den Bildern, während sie uns zugleich gefangen halten. Wenn wir aber hinsehen: Was wäre zu tun? Scham und Ohnmacht mischt sich mit der gleichwohl vorhandenen Erleichterung, „hier“ sicher zu sein.

Ein diffuser Schrecken: Krieg ist die Katastrophe schlechthin. Ich zum Beispiel empfinde neben den Bombentoten oder Schusswaffen das als ­besonders fürchterlich, was zwischen Uniformierten und Zivilisten passiert, was marodierende Milizen anrichten. Dazu das, was Schmerzen, Verletzungen, Tod wie eine Lache umgibt, die auch in Jahrzehnten nicht trocknen wird: Angst, Grauen, Trauer, Panik, Verrat. Der Zerfall jeglicher Freundschaft und Fürsorge. Zu lindern ist das nicht – oder eben durch Hass.

Hass wiederum treibt Kriegsbereitschaft und Kriegsgeschäfte weiter voran. Überhaupt, ja: die Geschäfte. „Sicherheit“ ist ein Gut, dessen Aktienkurse man durch Kriegsangst und Krieg hochtreibt. Es gibt Ökonomien des Krieges, Branchen, für die sich Krieg rechnet, und militärische Eliten, deren Handwerk er ist. Die Soldaten und neuerdings auch Soldatinnen sind nur zu verheizendes Material.

Und Waffen sind Material, das verbraucht sein will, zumal in Zeiten, in denen es kein teures (also lukratives) Wettrüsten mehr gibt. Die „neuen“ Kriege gehen darum so: Immer seltener steigen heute ganze Staaten offiziell ein. Stattdessen toben heute, wo geschossen, vergewaltigt, verstümmelt wird, die Wölfe: Warlords, Clanchefs, Milizen, Söldner, Mafia. Ein schmutziger Alptraum mit leisem Beginn und ohne Ende.

Krieg ist nach wie vor Männersache, auch das macht ihn gespenstisch. Trotz Frauen im Soldatenberuf: In der Eskalation fallen die Geschlechterrollen wieder brutal auseinander. Schon lange sterben in Kriegen prozentual mehr Zivilpersonen als Militärs. Systematische Vergewaltigungen sind ein Instrument auch der Kriegführung des 21. Jahrhunderts. Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern, die das Vergewaltigen und Morden professionell betrieben haben? Frauensache. Das Grauen geht auch nach Kriegsende im Kleinen weiter.

Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern?

Wohin also mit dem Krieg? Einfach nur hoffen, dass er uns nicht trifft? Und wenn ich etwas tun will: Wie kann ich heute noch friedenspolitische Zeichen setzen? Gibt es Friedensdemonstrationen, die hie die Waffenproduzenten und da die Warlords, marodierende Milizionäre, die Mafia beeindrucken? Oder auch nur den Sohn meiner Nachbarin, der mit Kumpels weltweit World of Warcraft spielt? Ist ja nur ein Spiel, meinte die Nachbarin, eine überzeugte Pazifistin. Unlängst meldete ihr Sohn sich als Zeitsoldat zum Bund. Gewalt öffentlich anprangern, Heroisierung verweigern, Bilderkonsum hinterfragen. Reicht das aus?

Ich habe einen Traum: Lasst uns in großem Stil weibliche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aufnehmen! Öffnet die Kindergärten für afghanische Mädchen, bietet ihren Müttern Wohnraum und einen Job, schafft Studienplätze für syrische Studentinnen, holt weibliche afrikanische Vertriebene – kurzum: Schafft ein Weltgastrecht für Frauen! Aufenthalt so weit und so lange sie es wollen. Nehmen wir den kriegführenden Parteien die andere Hälfte der Menschheit weg, ihr Ruhekissen und ihre Zukunft.

Angenommen, diejenigen, zu denen Soldaten, Waffenschmuggler, Milizionäre zurückkehren wollen, könnten mit den Füßen abstimmen.

Angenommen, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Töchter wären keine Geiseln des Territoriums mehr. Dann endlich würde Krieg sich nicht mehr lohnen.

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Libyen: Folter und Sklaverei!

Heidi Anguria mit den gerade Geretteten. Foto: Patrick Bar/Sosmediterranee
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"Im Moment liegen wir rund 40 Kilometer vor der libyschen Küste. So weit etwa kommen die meisten Flüchtlingsboote, auf die die Schlepper die Menschen lotsen. Mit dem Versprechen, sie bis nach Italien zu bringen. Aber dafür haben die Boote überhaupt nicht genug Benzin. Hochseetauglich sind sie schon gar nicht. Das wissen die Schlepper genau. Denen ist schon bei Abfahrt klar, dass die Flüchtlingsboote niemals in Italien ankommen werden. Die Menschen, die das Boote besteigen, wissen das nicht.

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Unser Job ist es dann, sie vor dem Ertrinken zu retten. Wir betreuen die Geflüchteten medizinisch und seelisch. Vor einigen Tagen haben wir in nur einer Nacht über tausend Menschen gerettet. Das ging um drei Uhr nachts los. Darunter rund 130 Frauen und Kinder. Das Wetter war tagelang schlecht und die Schlepper haben einfach alle, die auf eine Überfahrt gewartet haben, auf einmal auf diese wackligen Schiffe geladen. Um mal die Dimensionen klar zu machen: Unsere Crew auf der Aquarius besteht aus 30 Leuten, vier davon sind mit mir im medizinischen Team. Hinzu kommen ein kultureller Mediator, eine Verantwortliche für die Kommunikation und unser Projektkoordinator. So ein Rettungseinsatz ist vielfältig und anstrengend, sowohl körperlich als auch mental.

Es gibt im Prinzip zwei Zustände, in denen die Flüchtlinge bei uns ankommen: Es gibt die einen, die völlig euphorisch sind. Weil sie begreifen, dass sie jetzt endlich gerettet sind. Und es gibt die anderen, die es gerade noch an Deck schaffen und dann zusammenbrechen.

Insgesamt haben in diesem Jahr bis Ende April rund 43.000 Menschen die Überfahrt nach Italien gewagt, etwa ein Drittel sind Frauen. Die meisten kommen nicht aus Nordafrika, sondern aus Nigeria, dem Senegal, von der Elfenbeinküste oder aus Eritrea, einige sogar aus Bangladesch.

Seelische Untersützung für die Geretteten.
Seelische Untersützung für die Geretteten.

Letztens habe ich mit einer Frau aus Gambia gesprochen, das war eine ganz typische Geschichte. Sie ist schwanger geworden, hat aber keine Unterstützung von ihrer Familie bekommen. Also haben sie und ihr Mann sich auf den Weg nach Libyen gemacht, weil man ihnen in Gambia erzählt hat, dass sie dort leicht Geld verdienen können. Ja, das erzählen die Schlepper den Menschen in solchen Ländern. Die wissen häufig gar nicht, dass in Libyen ein blutiger Bürgerkrieg herrscht, und sie dort gar nicht bleiben können. Diesen Schleppern geben die Menschen dann ihre gesamten Ersparnisse, damit sie sie durch die Sahara bringen. Und wenn sie dann endlich an der Küste Libyens ankommen, werden sie dort wieder an neue Menschenhändler übergeben. Und die wollen dann auch wieder Geld sehen. Geld, dass die Männer und Frauen zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr haben.

Und dann passiert das, was auch dem Paar aus Gambia passiert ist: Die Menschen werden gekidnappt und voneinander getrennt. Die Menschenhändler in Libyen nehmen ihnen ihre Pässe weg und stecken sie in die zahlreichen Gefangenenlanger, die es inzwischen gibt. Dort werden sie vergessen und verhungern – oder sie werden versklavt. Die Männer müssen auf den Bau, die Frauen werden als Sexsklavinnen gehalten und tagelang vergewaltigt. So sollen sie sich ‚freikaufen‘.

Das Paar aus Gambia hat es übrigens tatsächlich irgendwann auf ein Boot geschafft. Aber dann wollte die libysche Küstenwache auch wieder Geld sehen. Und die Tortur ging von vorne los. Erst beim dritten Anlauf haben sie mit einem der Flüchtlingsboote abgelegt. Das Boot ist gekentert. Sie hatten also noch Glück im Unglück: Wenn wir sie nicht gerettet hätten, wären sie ertrunken. So wie gerade erst wieder 200 Menschen.

Wir haben auch Fälle mitbekommen, bei denen die Geflüchteten dazu gezwungen wurden, ihre Verwandten in Europa anzurufen – und die mussten dann am Telefon zuhören, wie sie in den Gefängnissen gefoltert werden. Und dann werden die Verwandten um Geld erpresst.

Wenn man solche Geschichten gehört hat, wundert man sich wirklich über die Pläne der Bundesregierung, die sie auf den Konferenzen wie in Malta oder in Rom fassen. Das ist doch alles überhaupt nicht machbar. Dafür müssen sich die Situationen ja nicht nur in Libyen stabilisieren. Was – wenn es überhaupt möglich ist – Jahre dauern wird. Sondern auch in den Ländern, aus denen die Menschen aufbrechen. Nehmen Sie alleine nur die Situation der Frauen: Die fliehen vor Armut, Misshandlungen und sexueller Gewalt in ihren Familien, vor Zwangsheirat, vor Genitalverstümmelung, vor Ehrenmorden. Die können nicht zurückgeschickt werden. Und sie können auch nicht in einem Land wie Libyen bleiben. Das kostet diese Frauen ihr Leben.

Nachdem wir die Menschen gerettet haben, bringen wir sie nach Italien. Dort gehen sie von Bord und in ihre sehr ungewisse Zukunft. Wir sind froh, dass wir helfen konnten. Aber ich mache mir schon sehr viele Gedanken, was aus ihnen wird."

Protokoll: Alexandra Eul, aktualisierte Fassung vom 27.11.2017

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