Rabia Cinkara: Macht Mut

Rabia Cinkara hilft als "Berufslotsin" Jugendlichen mit Migrationsgeschichte. Foto: Marc Zimmer
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An einem Mittwochnachmittag klopft es an der Bürotür der 29-jährigen Berufslotsin Rabia Cinkara. Es ist Eren. Der 15-jährige Hauptschüler kommt mit hängenden Schultern und sucht vor allem eins: seinen Mut. Den hat er innerhalb der letzten Woche in seinem Schulpraktikum in einem kleinen Friseursalon vollständig verloren. Ein Riesenkerl ist Eren, groß, breit, dunkel gekleidet. An diesem Mittwoch hat er Tränen in den Augen. „Die wollen mich fertigmachen“, sagt er und versinkt im Polsterstuhl vor Cinkaras Schreibtisch.

Eren ist nicht in sein Praktikum zurückgekehrt. Der erste Kontakt mit der Arbeitswelt hat ihn verschreckt. Für Cinkara bedeutet das: wieder von null anfangen. Wochenlang haben die beiden versucht herauszufinden, welcher Job zu Eren passen könnte. Zu seiner kreativen Ader und seinem freundlichen Wesen. Aber auch zu seiner Fünf in Mathe und seiner Impulsivität. Hier, an einer Haupt- und Realschule in Ludwigshafen, soll Rabia Cinkara Jugendlichen wie Eren das geben, woran es vielen von ihnen mangelt: Orientierung.

Cinkaras Job ist so unscheinbar wie das Büro, in dem sie sitzt. Ein kleiner Raum, zwei Schreibtische, drei Computer. Überall liegen bunte Broschüren mit Möglichkeiten, die auf den zweiten Blick für viele der Teenager, die hier im 45-Minuten-Takt einfallen, jedoch nicht infrage kommen. Auch wenn sie mit dem Hauptschulabschluss die passende Qualifikation hätten, gibt es mit 15 Prozent der 20- bis 24-Jährigen immer noch zu viele, die weder eine Ausbildung abgeschlossen haben noch studieren oder weiter die Schule besuchen.

Ein Grund dafür ist, dass viele Hauptabsolventen nicht mehr die Voraussetzungen mitbringen, um die Lücken des Arbeitsmarkts zu füllen. Betriebe beschweren sich über Unzuverlässigkeit, mangelnde Motivation, dürftige Sprachkenntnisse.

Cinkara zeigt, wie Berufsberatung funktionieren kann: 2022 hat sie von 23 Jugendlichen 17 in eine Ausbildung vermittelt. Das spricht sich herum. In Cinkaras Terminkalender reihen sich die roten Kacheln aneinander. Überstunden sind an der Tagesordnung.

Trotz der vielen Arbeit strahlt Cinkara. „Wie die Sonne“, sagt Eren über sie. Und er ist nicht der Einzige, für den sie der Fixstern in einer Welt voller Frust und Missverständnisse ist. Scharen von Jugendlichen grüßen sie auf dem Schulflur, fragen im Vorbeigehen „Wie geht’s Ihnen?“, „Wie war Ihr Wochenende?“, Cinkara winkt, antwortet, strahlt.

Als Tochter türkischer Migranten versteht sie, wie es ist, in einer Umgebung aufzuwachsen, in der die kulturelle Identität auch immer eine Rechtfertigung bedeutet. Um auf dem Arbeitsmarkt einen Platz zu finden, sich selbst aber nicht zu verlieren, brauche es „kultursensible Wegweiser“, sagt Cinkara. Sie selbst denkt dabei vor allem an eine Frau namens Margarete. Cinkaras Mutter hatte als achtjähriges Mädchen diese Frau in den frühen 80er Jahren in gebrochenem Deutsch auf der Straße angesprochen. Ob sie ihr Deutsch beibringen und bei den Hausaufgaben helfen könne, fragte das Kind die fremde Frau. Als Tochter türkischer Gastarbeiter war das Mädchen nicht in den Kindergarten gegangen, sondern hatte sich stattdessen um die kleineren Geschwister gekümmert. Die Frau, Margarete, zögerte nicht. Sie unterstützte Cinkaras Mutter fortan beim Deutsch lernen, wurde zu einer wichtigen Bezugsperson für das Mädchen. Und nicht nur das: Auch als Rabia und ihre beiden
Geschwister zur Welt kamen, war Margarete für sie da. Sie war die Verbindung in die deutsche Kultur und Gesellschaft, die Rabias Familie so dringend brauchte.

Rabia Cinkara hat geschafft, was ihre Eltern sich so sehr für sie gewünscht hatten: ein Studium. Doch was auf dem Papier als steiler Aufstieg gelesen wird, hat sie mehr gekostet als ihre Mitschülerinnen auf dem Gymnasium. Zu oft habe sie sie sich fremd gefühlt, erzählt Cinkara. „Ich kenne das Gefühl, am Rand zu stehen.“

Heute will sie die Wegweiserin für ihre Schüler sein. Und um noch früher die Weichen stellen zu können, ist Cinkara sogar nochmal zurück an die Uni gegangen – um Grundschullehramt zu studieren. Und Eren? Der muss seinen Weg nun ohne sie finden.

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