Alice Schwarzer schreibt

Abtreibung: Kampf seit 53 Jahren

Frauenprotest in Berlin: "Weg mit dem § 218!" - Foto: Sebastian Gollnow/dpa
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Im Jahr 2023 ist der „Fortschrittsregierung“ nichts anderes eingefallen, als eine neunköpfige „Kommission“ einzusetzen, ausschließlich Frauen, die erkunden soll, was nun mit dem § 218 zu geschehen habe. Und nach 53 Jahren Argumentieren und Debattieren in der ganzen westlichen Welt sagen soll, was vom § 218 zu halten ist. Im Ernst. Die westliche Welt hat, bis auf wenige Ausnahmen, derweil schon vor Jahrzehnten die Fristenlösung eingeführt: Das Recht auf einen selbstbestimmten Abbruch von ungewollt Schwangeren in den ersten zwölf Wochen.

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Frankreich ist jüngst noch einen Schritt weiter gegangen. Das katholische, jedoch laizistische Land hat das Recht auf Abtreibung in die Verfassung geschrieben – damit auch konservative politische Mehrheiten, die für 2027 drohen, es nicht mehr kippen können.

In einer ganz ähnlichen Lage wird Deutschland schon 2025 sein. Es steht eine konservative Mehrheit ins Haus, für die das Nein zu dem elementarsten Recht der Frauen unverrückbar ist. Wenn Fristenlösung in Deutschland, dann also jetzt!

Übrigens: Es ist kein Zufall, dass das katholische Frankreich so konsequent ist. Denn Studien haben auch für Deutschland immer wieder belegt: Niemand treibt so häufig ab wie Gläubige. Warum? Weil Katholikinnen am häufigsten ungewollt schwanger werden; dank Verhütungsverbot, Druck und Einschüchterung.

Die Stern-Aktion wurde nicht zufällig zum Auslöser der Frauenbewegung

Wenn eine Frau ungewollt schwanger ist und überzeugt, das kommende Kind nicht in ihr Leben integrieren zu können – dann treibt sie ab, unter allen Umständen. Auch bei Todesgefahr durch Engelmacherinnen oder drohender Todesstrafe (wie im Nationalsozialismus). Zwei von drei Frauen, die in Deutschland abtreiben, sind Mutter, nicht selten vielfach. Wer weiß besser als eine Mutter, was ein Kind bedeutet?

Weltweit sterben laut WHO jährlich über 39.000 Frauen an illegalen, weil verbotenen Abtreibungen. Dabei sind die Frauen, die durch die Stümpereien der Engelmacherinnen krank und unfruchtbar werden, noch nicht mitgezählt.

Dass wir Frauen das wieder und wieder sagen müssen, nach 50 Jahren erneutem Kampf für das Recht auf Abtreibung, ist mehr als eine Zumutung!

Demo für das Recht auf Abtreibung, Anfang der 70er Jahre. - Foto: Abisag Tülmann
Demo für das Recht auf Abtreibung, Anfang der 70er Jahre. - Foto: Abisag Tülmann

In Frankreich hat der erneute Kampf, ganz wie in Deutschland, Anfang der 1970er Jahre begonnen. Mit der von Feministinnen organisierten provokanten Erklärung der 343: „Ich habe abgetrieben und fordere das Recht für jede Frau dazu!“ Diese Aktion habe ich dann nach Deutschland exportiert. Sie erschien am 6. Juni 1971 im Stern, erschütterte die Nation und wurde nicht zufällig zum Auslöser einer breiten Frauenbewegung.

Denn das Recht, eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen zu können, ohne Demütigung und Lebensgefahr, ist elementar für jede Frau. Eine Mehrheit der Frauen hat es getan oder hätte es getan, wenn sie in die Situation geraten wäre.

Die FDP war einst führend bei der Forderung nach dem Recht auf Abtreibung

Es folgten in Deutschland Jahrzehnte der Debatten und Winkelzüge. Dabei waren die Machtverhältnisse von Anbeginn an klar: Für die CDU/CSU war im Schatten des Vatikans der Schwangerschaftsabbruch immer schon sakrosankt und wird es bleiben. Die Hoffnung der Frauen waren die SPD und FDP (die Grünen gab es erst ab 1983). Die FDP war einst, frau höre und staune, die Partei der Menschenrechte. Sie war führend bei der Forderung nach dem Recht auf Abtreibung. Die SPD musste man schon damals zum Jagen tragen. Die Genossinnen waren dafür, aber die Genossen… Schließlich sprach der Parteivorsitzende Wehner 1974 ein Machtwort. Die SPD hätte sonst die Frauen (und auch etliche Männer) verloren und damit die Wahlen.

Kaum war die Fristenlösung, das Recht auf Abtreibung in den ersten drei Monaten, Gesetz, strengten CDU/CSU eine Verfassungsklage an. Sechs Verfassungsrichter erklärten das Gesetz für „verfassungsfeindlich“, zwei VerfassungsrichterInnen hielten dagegen und verkündeten mit ihrem „Minderheitenvotum“ das Gegenteil: Waltraud Rupp-von Brünneck und Helmut Simon.

Heraus kam die sogenannte Indikationslösung, die Abtreibung nur bei Behinderung des Fötus, nach einer Vergewaltigung und bei eine „sozialen Notlage“ der Frau erlaubte.

Bei der FDP änderte sich 1982 mit dem neuen, konservativen Koalitionspartner die Stimmung. Die SPD duckte sich weg, ja bejubelte den Rückschritt. Und die 1983 hinzukommenden Grünen hatten von Anbeginn an ein ambivalentes Verhältnis zu dem Recht auf Abtreibung: Die Frauenrechtlerinnen waren dafür, etliche Naturtümelnde dagegen. Und so ist es geblieben.

Der Kompromiss war von Anfang an faul, aber er hat die Frauen eingelullt

Anfang der 1990er Jahre zogen die Westdeutschen auch in diesem Punkt die Ostdeutschen über den Tisch. Sie schmiedeten ein gesamtdeutsches Recht, in dem den Ex-DDRlerinnen die ihnen 1972 gewährte Fristenlösung wieder geklaut wurde. Seit 1995 gilt: Abtreibung ist „rechtswidrig“. Aber wenn Frauen schön Bittebitte machen und Experten schriftlich zustimmen, dürfen sie in Deutschland in den ersten drei Monaten eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen. Das Recht auf Abtreibung ist in Deutschland bis heute also kein Recht, sondern eine Gnade.

Der Kompromiss war von Anfang an faul und seine Auslegung eine Frage des allgemeinen gesellschaftlichen Klimas bzw. der politischen Machtverhältnisse. Aber er hat die Frauen eingelullt.

Die Frauen in Deutschland lebten in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Kompromiss und wurschtelten sich irgendwie durch. Der wunde Punkt war und sind die Ärzte. Die können den Eingriff aus „Gewissensgründen“ verweigern. Bei diesem Gewissen geht es in der Regel weniger um das Gewissen des Individuums, sondern eher um das Gewissen der katholischen Krankenhäuser. Längst gibt es einen innerdeutschen Abtreibungstourismus, bei dem Schwangere aus Bayern oder Köln zum Beispiel, im Schatten der Kathedralen, nach Berlin fahren, um legal abtreiben zu können.

Bis heute ist der häufigste medizinische Eingriff bei Frauen, die Abtreibung, in Deutschland nicht Teil des Medizinstudiums. Frankreich löste jetzt das Problem der Entrechtung via Ärzte, indem es Hebammen für den Schwangerschaftsabbruch zulässt.

53 Jahre später gibt die Ampel ein "Gutachten" bei einer Kommission in Auftrag.

Und jetzt? 53 Jahre nach Beginn der Auseinandersetzung? Die Ampel hat tatsächlich im Jahr 2023 ein „Gutachten“ bei einer von ihr eingesetzten „Kommission“ in Auftrag gegeben. Neun Gutachterinnen sollten der SPD, FDP und den Grünen endlich erklären, was von der Abtreibung zu halten ist. Nach rund einem Jahr sprachen die neun Frauen. Sie erklärten frank und frei, dass dringlichst die Fristenlösung eingeführt werden sollte. Alles andere wäre lebensfern und falsch. Überraschung. Damit hatten die Herren und Damen PolitikerInnen von der „Fortschrittskoalition“ offensichtlich nicht gerechnet. Sie schienen gehofft zu haben, dass die „Kommission“ irgendwas Wachsweiches orakelt. Dafür werden solche Kommissionen schließlich gegründet.

Und nun? Die Grünen erklärten, befragt von JournalistInnen, sie hätten Sprechverbot (scheint ein grünes Prinzip zu sein: die Zwangseinigkeit). Die FDP ist enttäuscht, dass ihr (zunächst) die erhoffte Legalisierung der Leihmutterschaft versagt wurde und sieht anscheinend nun keinen Grund mehr, sich für das Abtreibungsrecht einzusetzen.

Und die SPD? Fraktionschef Rolf Mützenich „äußerte sich vorsichtig“. „Das gucken wir uns jetzt genau an.“ (Der Spiegel) In echt. Herr Mützenich will sich „das“ nach 50 Jahren mal „genau angucken“. Und Kanzler Olaf Scholz? Der warnt vor Polarisierung: „Sie wissen, dass es ein Thema mit einem großen Potenzial zur Polarisierung ist.“ Ein Argument, das den Kanzler bei der Verabschiedung der aberwitzigen Gesetze zur Cannabislegalisierung und zur „Selbstbestimmung“ bei Transsexualität wenig gestört hat. Aber beim Abtreibungsrecht geht es in der Tat um mehr. Um viel mehr. Es geht um die Hälfte der Bevölkerung.

Kanzler Scholz warnt allen Ernstes vor der dem "Potenzial zur Polarisierung"

Wie kann es sein, dass die „Fortschrittskoalition“ sich solch eine Ungeheuerlichkeit nach einem halben Jahrhundert Ringen um dieses elementare Recht für die Hälfte der BürgerInnen erlaubt? Weil die Frauen keine Lobby haben (wie die Mafia bei Cannabis und die Pharmaindustrie bei Transsexualität)?

Die Polarisierung, Herr Bundeskanzler, ist alt und hinlänglich bekannt. Die CDU/CSU wird dagegen sein (nicht jedes Mitglied und schon gar nicht jedeR WählerIn, aber die Partei). So what. Da wäre es an der sogenannten „Fortschrittskoalition“, voran zu gehen. Endlich auch für Deutschland ein Frauenrecht zu schaffen, das in allen westlichen Nachbarländern seit Jahren und Jahrzehnten selbstverständlich ist!

Übrigens: Niemand hat zum Sinken der Abtreibungszahlen so viel beigetragen wie die Frauenbewegung. Zu Beginn der 1970er Jahre wurde die Zahl noch auf etwa eine Million geschätzt. Seither sinken die Abtreibungen kontinuierlich. Im Jahr 2022 waren es nur noch 103.927. Warum? Weil Frauen heute aufgeklärter, unabhängiger und selbstbewusster sind als noch vor 50 Jahren. Ergo seltener ungewollt schwanger. Frauen wollen im 21. Jahrhundert Wunschkinder oder keine. Das ist der einzige Weg. Für Mütter wie Kinder.

ALICE SCHWARZER

Aktualisiert am 17.4.2024

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