Alice Schwarzer in anderen Medien

Alice Schwarzer fordert Taten!

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In der Landesvertretung Baden-Württemberg ist der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Stimmung ist erwartungsvoll. Und ein bisschen kämpferisch. Im Publikum sitzen vor allem Frauen mittleren Alters. Kurz nach 19 Uhr betreten Alice Schwarzer und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) den Saal. Die Gespräche verstummen, die Blicke richten sich nach vorn. Im dritten Jahr in Folge wird an diesem Dienstagabend der HeldInnen Award der Alice-Schwarzer-Stiftung verliehen.

Der mit 10.000 Euro dotierte Preis zeichnet „außergewöhnlich mutige Frauen“ aus, die Haltung zeigen, wo andere wegsehen. In diesem Jahr geht er an Sabine Constabel aus Stuttgart und Cathrin Schauer-Kelpin aus Niedersachsen. Beide arbeiten seit Jahrzehnten als Streetworkerinnen, unterstützen Frauen beim Ausstieg aus der Prostitution und kritisieren eine Politik, die die Realität der Prostituierten oft mit dem Schlagwort „Selbstbestimmung“ verwechselt.

Doch bevor es um Politik geht, zeigt Bettina Flitner, Fotografin und Mitbegründerin der Stiftung, ihre Arbeiten. Auf der Leinwand sieht man Frauen, die in der Prostitution arbeiten, daneben ihre Beweggründe. Anschließend die Orte des Geschehens: Bordelle, Wohnwagen, sogenannte Verrichtungsboxen, die unter anderem in Berlin stehen. Zum Schluss laufen Bilder von Freiern über die Leinwände. Flitner zeigt sie mit Vornamen, Alter, Beruf, Beziehungsstatus. Ein Querschnitt der Gesellschaft, doch Scham ist auf keinem der gezeigten Gesichter zu erkennen.

Dann betritt Alice Schwarzer die Bühne. Mit fester Stimme spricht sie über Mütter in der Prostitution, über Frauen aus Osteuropa, über den Alltag in einem System, das sie als ausbeuterisch bezeichnet. „Jeder vierte Mann in Deutschland ist Freier“, sagt sie. Viele kämen in der Mittagspause, zwischen Büro und Kantine. Deutschland sei, so Schwarzer, längst „ein Einreiseland für Freier“. Früher seien Männer nach Thailand geflogen – „heute kommen sie aus ganz Europa nach Deutschland“.

Schwarzer blickt zurück. 1968 habe sie als Volontärin zum ersten Mal ein Bordell betreten. „Ich war empört, dass die Frauen Steuern zahlen mussten“, erzählt sie. In der Bordellküche habe sie mit ihnen über ihr Leben gesprochen. Zwei Tage später rief eine der Frauen sie an und habe sie gefragt, ob sie nicht zusammen eine Zeitung machen wollten.

Dann wird Schwarzer politisch: das Prostitutionsgesetz von Rot-Grün im Jahr 2001, sagt sie, habe den „Handel mit Frauen“ faktisch legitimiert. Mit fatalen Folgen. Heute seien viele Frauen schutzloser als zuvor, die Polizei könne kaum noch eingreifen. „Deutschland ist die Drehscheibe des europäischen Frauenhandels“, sagt Schwarzer. Schweden dagegen habe den Spieß umgedreht: Dort werden Freier bestraft und die Zahlen sprechen für sich: „Nur noch jeder zehnte Mann ist Freier.“

Dann zieht Schwarzer Bilanz: Seit 1977 habe Emma 385 Artikel zur Aufklärung über Prostitution veröffentlicht. Applaus im Saal. Anschließend erinnert sie daran, dass es ausgerechnet die CSU gewesen sei – insbesondere die Frauen in der Partei –, die früh eine Bestrafung von Freiern gefordert hätten. Vor den Wahlen habe man lautstark dafür geworben, ein solches Gesetz umzusetzen, sobald man an der Macht sei.

„Aber was ist daraus geworden?“ Schwarzer richtet die Frage direkt an Julia Klöckner, die im Publikum sitzt. „Will die Bundestagspräsidentin mehr dazu sagen?“. Danach hebt Schwarzer erneut die Stimme: „Solange es Prostitution gibt, gibt es keine Gleichberechtigung.“ Wieder applaudiert das vorwiegend weibliche Publikum.

Bettina Flitner tritt ans Mikrofon, um Cathrin Schauer zu ehren. Sie erinnert an das Jahr 2004, als Alice Schwarzer ihren „Wer wird Millionär?“-Gewinn von 145.000 Euro an Schauers Verein spendete. „Das war unser Startkapital, du hast uns damals gerettet, Alice“, sagt Schauer-Kelpin, als sie die Bühne betritt.

Dann setzt die Preisträgerin an und sagt: „Ich bleibe empört, wenn Politik und Gesellschaft wegsehen.“ Empört, wenn darüber nachgedacht werde, das Prostitutionsgesetz auf Minderjährige auszuweiten. Empört, wenn an Universitäten Plakate hängen, die für Prostitution werben; finanziert mit Steuergeldern, versehen mit dem Logo des Freistaats Sachsen. Die Menschen im Saal stehen auf, klatschen, jubeln.

Danach ist die Bundestagspräsidentin an der Reihe. Als Laudatorin für Sabine Constabel beginnt sie mit einem prägnanten Satz: „Deutschland ist, so hart es klingt, der Puff Europas.“ Prostitution, sagt sie, sei ein „Verstoß gegen die Menschenwürde und gegen Menschenrechte“. Wenn die Politik Frauen helfen wolle, müsse sie in Ausstiegshilfen investieren. „Wir müssen die Prostitution endlich verbieten“, sagt sie und erntet Applaus.

Auf eine Frage geht Julia Klöckner in ihrer Ansprache jedoch nicht ein – eine, die Schwarzer zuvor gestellt hatte: Was tut sich politisch? Die Union hatte in ihrem Programm angekündigt, Freier bestrafen zu wollen, „wenn sie an der Macht ist“. Sie ist es längst. Konkrete Schritte folgten darauf nicht. Klöckner lässt das Thema liegen, bittet Constabel auf die Bühne und überreicht den Preis. Die Preisträgerin bedankt sich und wendet sich Klöckner zu: „Unsere ganzen Hoffnungen liegen auf Ihren Schultern, Frau Klöckner.“ Ein Satz, der wie eine Mahnung klingt.

SINEM KOYUNCU, Berliner Zeitung

 

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