Der lange Weg des Leslie Feinberg

Leslie Feinberg
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So hingeschrieben, klingt das eigentlich banal, für mich allerdings war meine Kindheit mit Angst und Schrecken erfüllt. Ich wuchs in den 50ern auf, einer Zeit, die geprägt war von strengem gesellschaftlichen Konformismus und der Angst vor Andersartigkeit.

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Unsere Familie lebte in einer Arbeiterwohnsiedlung des Flugzeugherstellers Bell Aircraft. Ich lernte schon sehr früh, daß Jungen "Männerkleider" tragen mußten. Mädchen war das verboten. Und wenn ein Mann ein Frauenkleid  anzog, war er eine  Witzfigur.

Die Frage: "Ist das ein Junge oder ein Mädchen?" verfolgte mich während der ganzen Kindheit. In den 50ern war es keine Kleinigkeit, anders zu sein als die anderen. McCarthys Kommunistenhatz war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Wie die meisten Kinder schnappte ich hier und da Gesprächsfetzen der Erwachsenen auf und hatte große Angst, die Kommunisten könnten sich unter meinem Bett verstecken und in der Nacht nach meinen Füßen greifen. In Radio und Fernsehen hörte ich schwere zornige Anschuldigungen gegen Heranwachsende, die vor einem Bürgerkomitee Rede und Antwort stehen mußten.

Ich schnappte die Bezeichnungen "commie" (Roter), "pinko" ("Sozi") und Jude auf. Ich bin Jüdin. Wir waren die einzigen Juden in der Siedlung. In unserer Familie waren die Erinnerungen an die Greuel noch frisch, die Verwandte und Freunde im zaristischen Rußland vor der Oktoberrevolution 1917 und in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg erleiden mußten. Meine Familie lebte in Angst vor dem Faschismus, und die McCarthy-Ära roch nach Nazis. Ein bißchen viel auf einmal.

Jedesmal, wenn uns jemand auf der Straße fragte: "Ist das ein Junge oder ein Mädchen?", zuckten meine Eltern, die um keinen Preis auffallen wollten, zusammen. Kein Wunder! Sie hatten Angst, ich würde wie ein hochgeschossener, freistehender Baum den Blitz anziehen. In ihrer vermeintlichen Machtlosigkeit gegen "die da oben" machten sie mich und meine Andersartigkeit für ihre Familienprobleme verantwortlich. Mir wurde klar, daß ich mich um mein Fortkommen selbst kümmern mußte.

Pfiffe und Spötteleien verfolgten mich vom Kindergarten bis zur High School. Oft mußte ich mir meinen Weg durch Teeny-Horden an den Straßenecken bahnen. Und ich hielt dem Geglotze der Erwachsenen Stand. Es war wirklich schwer, in den 50ern ein männliches Mädchen zu sein. Die verfügbaren Rollenmodelle ließen nur einen Schluß zu: Ich mußte vom Mars stammen.

Als Teenager entdeckte ich dann die Homo-Bars in Niagara Falls, Buffalo und Toronto. In diesen rauchverhangenen Kneipen stieß ich auf eine ganze Gemeinde von Drag Queens, Butches und Femmes. Das war die Welt, in die ich paßte! Ich war nicht mehr allein. Aber die Clubs waren keine sichere Zuflucht. Ich merkte schnell, daß Polizei und andere Feinde hier auf uns Jagd machten. Bis wir unsere Gegenwehr organisiert hatten, waren wir nur Freiwild, das gezielt gejagt und verprügelt wurde.

Aber wir haben uns organisiert. Wir kämpften für das Recht auf Arbeit, das Recht, die Straße entlangzugehen, in einem Restaurant bedient zu werden, im Laden Milch zu kaufen, Baseball zu spielen oder zu bowlen.

Ich erinnere mich noch an das Frühlingspicknick, das in den 60ern alljährlich von der Lesben- und Schwulengemeinde von Erie/Pennsylvania organisiert wurde. Als ich zum ersten Mal dabei war, hielt plötzlich ein Auto mit quietschenden Reifen am Weg. Der fröhliche Partylärm erstarb, als die Männer, bewaffnet mit Baseballschlägern und Brecheisen, auf uns zukamen. "Kommt mit!" befahl eine der silberhaarigen Butches. Sie nahm ihren Baseballschläger in die Hand und ging geradewegs auf die Männer zu.

Wir alle schnappten uns Schläger und Bierflaschen. Langsam bewegten wir uns den Berg hinauf auf die Männer zu, die uns zunächst noch verspotteten. Bald aber tauschten sie ängstliche Blicke. Sie sprangen wieder in ihr Auto, das mit quietschenden Reifen davonraste. Einen Augenblick lang standen wir schweigend da und genossen das Gefühl, gemeinsam stark zu sein. Die Party ging weiter.

Am meisten fürchtete ich die Polizeirazzien in den Bars, denn das Gesetz war auf der Seite der Uniformierten. Die Polizei war das Gesetz. Ich brach jedes Mal das Gesetz, wenn ich Hosen trug, die den Schlitz vorn hatten, Boxershorts oder T-Shirts. Laut Gesetz hatte ich damals mindestens drei "Frauen-Kleidungsstücke" zu tragen - und meine Drag-Queen-Schwester drei "Männer-Kleidungsstücke" (gut möglich, daß man diesen Passus auch heute noch in den Gesetzen von Buffalo findet).

Häufig erhob man nach der Festnahme nicht einmal offiziell Anklage. Und oft wurden die "Urteile" auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens oder auf dem kalten Betonboden einer Zelle vollstreckt. Warum wurde ich dafür bestraft, wie ich ging oder mich anzog und wen ich liebte? Wer gab den Cops grünes Licht für ihre Aktionen? Und wer entschied überhaupt, was normal war?

Als maskuline Frau galt ich für Jobs wie Kellnerin oder Sekretärin als unvermittelbar. Also rief ich eine der älteren Butches an, die als Mann bei einer Baufirma arbeitete. Ich bekam von ihr falsche Koteletten, die ich mir anklebte. Dann fuhr ich zur Albright-Knox-Galerie. Keiner mehr schien mich anzustarren! Das war eine große Erleichterung. Später hieß es, man halte mich für einen "guten Mann". Er stellte mich sofort ein.

Derselbe Habitus, der mir als Frau nur Haß eingebracht hatte, bewirkte, daß man mich als "guten Mann" beurteilte. Mit dem Arbeitsbeginn als Mann veränderte sich mein Leben dramatisch. Endlich war ich befreit vom tagtäglichen Kleinkrieg! Aber ich lebte auch mit der permanenten Angst vor der Entdeckung. Welche Strafe musste ich befürchten, wenn ich aufflog? Aus dieser Angst heraus traf ich eine weitreichende Entscheidung: Ich begann, männliche Hormone zu nehmen, verschrieben im Rahmen eines örtlichen "Programms zur Geschlechts-Neuzuordnung".

Hier erfuhr ich von einem Chirurgen, der Brustverkleinerungen durchführte. Ein Jahr nach Beginn der Hormontherapie wuchs mir ein Bart, mit dem ich mich sicherer fühlte - im Beruf wie privat. Inzwischen habe ich die Hormone wieder abgesetzt.

Mein Führerschein weist mich als Mann aus. Das Antragsformular ließ mir nur die Wahl zwischen "M" und "W". In meinen 30 Jahren als Autofahrer heulten dreimal die Polizeisirenen hinter mir auf. Jedesmal verlangte der Polizist an meinem Fenster: "Führerschein und Fahrzeugschein bitte, Sir." Man stelle sich den Alptraum vor, reichte ich ihm einen Führerschein, der mich als Frau ausweist! Um dieser Gefahr zu entgehen, brach ich das Gesetz und füllte das Formular "falsch" aus. Das könnte mir eine Geldstrafe einbringen, Führerscheinentzug und bis zu sechs Monate Gefängnis - nur weil ich "männlich" angekreuzt habe.

Dann gibt es noch das Problem mit dem Ausweis. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich mich als Frau ausweise. Wenn ich den Ausweis als Mann beantrage, mache ich mich eines noch ernsteren Verbrechens schuldig. Deshalb habe ich gar keinen, was wiederum meine Reisefreiheit einschränkt. Ich könnte zur Umgehung dieses Problems meine Geburtsurkunde ändern lassen, aber ich sehe nicht ein, warum ich mein Geschlecht von dem Gesetz einengen lassen soll - besonders, da es gilt, eine solche Politik zu bekämpfen.

Als Kind musste ich auch noch in allen Papieren die "Rasse" angeben, also schwarz oder weiß. Viele Kämpfe waren nötig, bis man diese Frage aus den Dokumenten entfernte. Die Frauenbewegung hat später erreicht, daß Stellenangebote für beiderlei Geschlecht ausgeschrieben sein müssen. Warum müssen wir also immer noch auf allen Formularen "männlich" oder "weiblich" ankreuzen?

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Leslie Feinberg: "Transgender Warriors. From Joan of Arc to RuPaul" (Bacon Press, Boston). - Übersetzung: Antje Görnig.
Auf Deutsch erschien Feinbergs erster Roman "Stone Butch Blues" unter dem Titel "Träume in den erwachenden Morgen" (Krug & Schadenberg).

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