Mit dem Blick des Täters

Gewalt aus Täterperspektive: Jennifer Lopez mit Serienkiller in "The Cell".
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Die Vermutung, früher sei alles besser gewesen, stimmt so gut wie nie. Das Kino jedenfalls ist früher nicht besser mit Frauen umgegangen. In David Finchers „Sieben“ (1995) ahndet ein Serienkiller Todsünden, und für die Wollust wird selbstverständlich eine Prostituierte bestraft und nicht etwa ihr Freier. Der rückwärts erzählte Film „Irreversibel“ (2002) hätte kaum Furore gemacht, hätten bei der Premiere in Cannes angesichts einer 15-minütigen Vergewaltigungsszene nicht weite Teile des Publikums die Flucht ergriffen. Im Jahr 2000 wurde „The Cell“ von weiten Teilen der Filmkritik gefeiert. Darin spielte Jennifer Lopez eine Art Superpsychologin, die in das Bewusstsein von Komapatienten einsteigen kann. Das FBI engagiert sie, um sich in der Gedankenwelt eines komatösen Serienkillers umzutun und dort nach Hinweisen zu suchen, wo er sein letztes, möglicherweise noch lebendes Opfer versteckt hat. Sie wird Teil seiner Träume und kommt fast nicht mehr dort heraus, was den Teil zu einer Aneinanderreihung von Szenen mit Jennifer Lopez in Ketten und allerlei anderer Gewaltakte gegen Frauen macht.

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Wenn man als Frau darauf hinwies, dass eine sinnentleerte Aneinanderreihung von Bildern ästhetisierter Gewalt gegen Frauen aus der Täterperspektive noch kein Kunstwerk ausmacht, traf man bei vielen männlichen Kollegen auf Verwunderung. Kaum einer hatte vorher schon mal darüber nachgedacht, wer da immerzu wen malträtiert. Das ist zwar schon 23 Jahre her, aber auch damals war Susan Brownmillers Standardwerk „Against Our Will“, in dem es auch um die popkulturelle Vereinnahmung von Gewalt gegen Frauen ging, nicht mehr ganz neu. Man hätte es also kennen können.

Wir stecken knietief im Krimisumpf, mit Frauenleichen so weit das Auge reicht

Das Kino, das Fernsehen und die gesellschaftliche Wahrnehmung haben sich seither verändert, Frauenquälen in Endlosschleife ginge heute nur noch mit Mühe als Arthouse-Juwel durch. Andererseits gibt es mehr Sender und Streamingportale, und man hat manchmal das Gefühl, wir steckten alle knietief im Krimisumpf, und die Leichen sind verdammt oft Frauen. Kann es sein, dass es bei Gewaltdarstellungen doch immer noch ein mörderisches und brutales Ungleichgewicht zu Ungunsten von Frauen gibt? Noch höher als in der Realität?

Christine Linke und Ruth Kasdorf von der Hochschule Wismar haben zwei Wochen Hauptprogramm in den wichtigsten Sendern ausgewertet, 450 Stunden Material. Sie fanden: Vergewaltigung, Mord, Körperverletzung. Ihre Studie zeigt, wie viel Gewalt gegen Frauen es zu sehen gibt. Es ist ungeheuer viel. Fazit: „Männer werden in Fiktionen Opfer von Gewalt, weil sie Verbrechen begehen oder ermitteln, Frauen werden Opfer von Gewalt, weil sie Frauen sind.“ Und: Von Gewalt gegen Frauen werde fast ausschließlich aus der Täterperspektive erzählt.

Dabei gibt es in der Fiktion überproportional häufig Sexualmorde, dafür aber viel weniger Alltagsgewalt als in der Wirklichkeit. Insgesamt fanden die beiden Wissenschaftlerinnen in rund einem Drittel (34 Prozent) der Sendungen geschlechtsspezifische Gewalt. „Häufig handelt es sich dabei“, schreiben sie, „um explizite und schwere Gewalt gegen Frauen und Kinder.“ Zu zwei Dritteln finden diese Darstellungen in fiktionalen Programmen statt – und in nur acht Prozent der Darstellungen kommt auch das Opfer zu Wort.

Man kann leicht nachvollziehen, worum es geht, wenn man zwei sehr unterschiedliche „Tatort“-Folgen gegenüberstellt. Nummer eins: „Borowski und der Schatten des Mondes“. In der Folge, die im April 2022 gelaufen ist, wird eine Vergewaltigungsszene permanent wiederholt, am Ende soll man sich noch das Selbstmitleidsgelaber des Täters anhören, kurz bevor er auf seine eigene Frau losgeht.

Das Grundproblem bei dieser „Tatort“-Episode: Das eigentliche Opfer ist in dieser Erzählung nicht Borowskis Freundin aus Teenager-Zeit, die im Wald vergewaltigt, ermordet und vergraben wurde – sondern Borowski, der seither an ihrem Verschwinden gelitten hat. Selbst wenn im Zentrum einer solchen Geschichte das Leid eines Hinterbliebenen steht: Vielleicht wäre der Film weniger Frauen sauer aufgestoßen, wenn er irgendwann zwischendurch auch Empathie für das eigentliche Opfer aufbrächte.

Kann man sich die gleichen Szenen mit Männern als Opfer vorstellen?

Der andere „Tatort“ ist die Episode „Wegwerf-Mädchen“, die Kommissarin ist Charlotte Lindholm, gespielt von Maria Furtwängler. Maria Furtwängler setzt sich, unter anderem mit ihrer Malisa-Stiftung, ja tatsächlich ein dafür, dass sich die Bilder auf den Bildschirmen ändern. Diese Lindholm-Episode ist ein mustergültiges Beispiel dafür, wie es besser geht: Hier ging es um den Mord an einer Zwangsprostituierten, die eigentliche Tat wird nur erzählt, man sieht sie nie, und merkwürdige Rechtfertigungsreden der Täter bleiben einem auch erspart. Mit so viel Bewusstsein für einen sensiblen Umgang wird Fernsehen aber leider eher selten gemacht. Der „Tatort“ ist ein langlebiges Beispiel, zumal ja auch ältere Folgen permanent wiederholt werden. Beispielsweise „Schneetreiben“ von 2005 – diese Episode beginnt mit einer nackten Frau, die nachts im Wald durch einen Schneesturm torkelt, im Scheinwerferlicht ihres Peinigers, und dann erfriert. Kann man sich diese Szene mit einem Mann als Opfer vorstellen?

In „House of the Dragon“, der Prequel-Serie zu „Game of Thrones“, im vergangenen Sommer mit großem Erfolg gestartet, wird einer Frau ein Baby aus dem Bauch geschnitten, woran sie stirbt – was so ziemlich die einzige Form sexualisierter Gewalt sein dürfte, die in „Game of Thrones“ noch nicht vorkam.

Das ist ja die Crux beim Zeigen und Nicht-Zeigen: Es kann nicht das Ziel sein, gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt in Filmen und Fernsehserien unmöglich zu machen. „Angeklagt“ mit Jodie Foster hätte 1988 wahrscheinlich nicht eine so heftige Debatte ausgelöst, hätte sich der Film um die Vergewaltigungsszene herumgedrückt. Aber die Gewalt darf nicht wiederholt werden.

Nicht jede Unterhaltung kann gesellschaftliche Auseinandersetzung sein, muss sie auch nicht. Das Fernsehen ist keine Erziehungsanstalt – aber es muss bestehende Stereotype und Hierarchisierungen nicht auch noch verstärken, ja propagieren.

Bilder von Gewalt gegen Frauen verstärken die Angst von Frauen

Und was sagt die Wissenschaft: Hat das, was wir sehen, wirklich einen Einfluss auf das, was wir denken oder gar tun? Es gibt eine Rezeptionsstudie von Jutta Röser, die schon einige Jahre alt ist: Der zufolge verstärken Bilder von Gewalt gegen Frauen vor allem die Angst der Frauen, die zusehen. Der Bayerische Landesfrauenrat hat Ende 2022 aufgrund der Studie aus Wismar den Bayrischen Rundfunk aufgefordert, solche Rezeptionsstudien endlich in Auftrag zu geben – zusammen mit Analysen geschlechtsspezifischer Gewalt und Sensibilitäts-Schulungen.

Es ist aber auch gar nicht so leicht, einen Film tatsächlich aus der Sicht des Opfers zu erzählen: Die Kamera ist ein Stalker, der Blick aus der Täterperspektive auf ein Opfer, das er verfolgt, ist naheliegender als der Blick über die Schulter des potenziellen Opfers, denn da sieht man im Zweifelsfalle nichts. Wer das ändern will, braucht halt Einfallsreichtum.
Kreative filmische Ansätze zu dem Thema sind selten. Auf Netflix startete kürzlich „Luckiest Girl Alive“ mit Mila Kunis. Und der Film, der von einer Jahre zurückliegenden Gruppenvergewaltigung erzählt, löste vor allem in den USA eine Debatte aus über die Grenzen des Zeigbaren. Doch ist ausgerechnet dieser Film tatsächlich etwas Besonderes: Er nimmt vom Anfang bis zum Schluss die Perspektive der Frau ein, die gleichzeitig cool und kaputt ist – kein typisches Opfer. So erzählen Filme diese Geschichten fast nie.

Immer wieder einmal gelingt es einem Film ja, tatsächlich dafür zu sorgen, dass etwas heftig diskutiert wird und sich Sichtweisen vielleicht ein bisschen ändern, so wie damals in den Achtzigern, als „Angeklagt“ ins Kino kam. Das ist ja das, was Filme tun sollen: Uns aufwühlen und Tränen der Freude oder Wut in unsere Augen treiben. Filme sollen uns nicht indoktrinieren – sie sollen uns dazu bringen, die Welt zu verändern. Das ist die nobelste Aufgabe von Kunst.

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