Susan Neiman warnt vor Rache

Die deutsch-amerikanische Philosophin Susan Neiman. - Foto: James Starrt
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Susan Neiman, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von den schrecklichen Nachrichten aus Israel erfahren haben?
Ich war zunächst einfach sprachlos. Das Wochenende habe ich damit verbracht, jüdische und israelische Freunde zu kontaktieren und die Nachrichten zu verfolgen. Interessanterweise ging mir immer wieder ein hebräisches Lied durch den Kopf, das Shir LaShalom, Song for peace, heißt. Ich kannte natürlich das Lied und habe dann dazu recherchiert – es wurde bald nach dem Sechstagekrieg geschrieben, was es noch radikaler macht. Das Lied ist aus der Perspektive der getöteten Soldaten geschrieben, die sich an die Lebenden richten und singen: „Hört auf zu beten, das wird uns nicht zurückbringen, vergesst die ganzen Helden-Geschichten, vergesst uns! Ihr sollt nur für den Frieden arbeiten.“ Das Lied wurde in Israel eine Zeitlang zensiert. Jitzchak Rabin, der vor seiner Zeit als Ministerpräsident Generalstabschef des israelischen Militärs war, hat dann den Friedensprozess so weit vorangebracht, dass er das Lied öffentlich gesungen hat, und zwar an dem Abend, an dem er ermordet wurde. Man hat in seiner Tasche den Text gefunden, voller Blut. Auf seiner Trauerfeier und in den Wochen danach wurde das Lied immer wieder gesungen. Danach musste ich daran denken, dass ich kurz vor dem Osloer Friedensvertrag Zwillingsmädchen zur Welt gebracht habe. Aus der damaligen Hoffnung habe ich einem einen hebräischen Namen gegeben, dem anderen einen arabischen Namen. Nun bekommen beide Schwierigkeiten mit den Namen, aus unterschiedlichsten Richtungen.

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Wenn man versucht, die Ereignisse einzuordnen, dann besteht ja schon ein Konflikt darüber, wie man überhaupt benennen sollte, was gerade passiert. Wie würden Sie die Ereignisse beschreiben?
Nun, man muss zwei Dinge zugleich im Kopf behalten, und das fällt offenbar vielen Menschen schwer. Den Palästinensern geschieht seit Jahrzehnten Unrecht. Und gleichzeitig verletzt der Terror der Hamas jede Vorstellung von Menschenrechten und Menschenwürde. Man muss verabscheuen, was die Hamas getan hat. Leider gibt es jetzt auf der einen Seite die Postkolonialisten, und zwar von Harvard über Europa bis nach Indien, die die Hamas feiern. Das ist kaum auszuhalten. Sie sehen Israel als Siedlerkolonie und werfen es in einen Topf mit Südafrika und Algerien, was alle historischen Fakten über die Entstehung des Staates Israel verkennt. Den Begriff „Apartheid“ benutze ich hingegen selbst, er hat eine klare Bedeutung, nämlich „Zwei verschiedene Rechtssysteme für zwei verschiedene Völker“, und das ist mindestens in den besetzten Gebieten der Fall. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die in Deutschland sehr dominant sind und die sagen, „Israel über alles“ ist unsere Staatsräson und wir üben keinesfalls Kritik an der israelischen Regierung. Das sind beides sehr einfache, einseitige Ideen.

Und welche Perspektive haben Sie?
Ich denke, die Ereignisse zeigen gerade vor allem eines: Wenn man sehen möchte, wohin es führt, wenn ein Land ausschließlich nationalistisch agiert – aufgrund erlittenen Unrechts –, dann muss man sich nur den jetzigen Staat Israel anschauen. Die rechten israelischen Regierungen haben deren Gewalt immer mit dem Hinweis auf den Holocaust gerechtfertigt: "Schaut mal, was die Welt uns angetan hat." Und das bedeutet andererseits, dass diese postkoloniale Argumentation „Schaut, was die Israelis den Palästinensern angetan haben, die sind die wahren Opfer“, problematisch ist. Übrigens reagiert der indische Präsident Modi genau so auf Vorwürfe, dass seine Regierung Menschenrechte verletze: "Wir wurden von euch kolonisiert, ihr habt uns nichts zu sagen.“ Es stimmt, dass Israels Regierung den Palästinensern Schreckliches angetan hat. Aber Juden waren auch Opfer, es gab nicht nur den Holocaust, sondern Pogrome in der Ukraine und in Russland, was zur ersten jüdischen Einwanderungswelle ins damalige Palästina geführt hat. Aber es ist das Festhalten an diesem Opferstatus in der Netanjahu-Regierung und die Idee, dass Opfersein einen zu allem berechtigt, die ein großes Problem im Staat Israel sind. Avrum Burg, der Präsident der Knesset war, als es noch eine sozialdemokratische Regierung in Israel gab, hat ein Buch geschrieben: Der Holocaust ist vorbei. Das hieß: Wir müssen aus diesem Opfer-Bewusstsein zu einer Haltung kommen, die universalistisch ist. Und wenn jetzt die Postkolonialisten kommen und sagen, wegen des Leids der Palästinenser ist alles, was die Hamas getan hat, gerechtfertigt, dann ist das einfach genauso falsch. Deshalb finde ich, dass der Universalismus, das Festhalten an der Würde aller Menschen, die einzige Antwort ist. Es hat sich nichts an meiner Position geändert.

Sie sagen also, dass man sowohl das Leid der Palästinenser als auch das Leid der Israelis sehen und zugleich darauf achten muss, aus diesem Leid keine Berechtigung zu Racheakten abzuleiten. Doch viele würden Ihnen wohl entgegenhalten, dass man den aktuellen Konflikt nicht symmetrisch beschreiben sollte, sondern dass der Angriff am 7. Oktober klar von der Hamas ausging und sie unfassbar grausam dabei vorgingen, während Israel jetzt darauf reagiere und die Bevölkerung im Gaza-Streifen auch vor den Luftangriffen warne.
Ja, aber das ist absurd. Die Bevölkerung wird gewarnt, aber sie haben überhaupt keinen Ort, wo sie hingehen können, sie sind eingesperrt. Die Diplomaten könnten möglicherweise etwas tun, es gibt geheime Verhandlungen, sie zeigen leider bisher kaum Erfolg. Ich habe mich vor 20 Jahren in meinem Buch „Das Böse denken“ gegen die Idee ausgesprochen, dass man das Böse quantitativ aufwiegen könnte. Die israelische Besatzung nimmt jedenfalls auch den Tod von Kindern in Kauf. Vor drei Jahren wurden 67 Kinder im Gaza-Streifen bei Luftangriffen ermordet, das war damals auf der ersten Seite der New York Times, mit Bildern von allen 67 Kindern. In Deutschland wurde darüber in den großen Medien gar nicht berichtet. Aber ich bin nicht interessiert an der Frage, ist dieses schlimmer als jenes? Man muss verstehen, dass beide Seiten Unrecht begangen haben.

Sie haben sich viel mit dem Bösen beschäftigt. Wäre das die Kategorie, die Sie für beides, sowohl für den Terror der Hamas als auch die Unterdrückung der Palästinenser verwenden würden?
Ja, das würde ich tun. In gewisser Weise glaube ich, dass das, was Hannah Arendt das „banale Böse“ genannt hat, die gefährlichere Form des Bösen ist: weil sie von Menschen ausgeübt wird, die keine böse Absichten haben, und das ist die große Mehrheit von uns. Wie Bettina Stangneth gezeigt hat, lag Arendt zwar mit Bezug auf Eichmann falsch, aber für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung war ihre These absolut richtig. Wenn man die banaleren Formen des Bösen abschaffen würde, hätten die zwei, drei Prozent der Menschheit, die wirklich zu Brutalität fähig sind, keine Macht. Allerdings, was mich gerade wirklich beschäftigt, ist, dass ich einfach nicht verstehe, wie man ein Baby ermorden kann. Ich verstehe, wie das bei Luftangriffen passieren kann. Aber dass man Babys ermordet, die man vor sich sieht – wie es die Hamas getan hat – ist mir völlig unverständlich. Für die meisten Menschen, und das hat wohl evolutionsbiologische Gründe, haben Babys eine natürliche Anziehungskraft, die sie auch brauchen, um in ihrer Hilflosigkeit zu überleben. Ich weiß wirklich nicht, wie ein Mensch so was tun kann. Das hat nichts mit Banalität zu tun.

Sie haben es vorhin schon gesagt, Sie sehen sich in der Tradition des Universalismus, der die Würde aller Menschen betont. Und mit diesem Blick schauen Sie auch auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern und sagen, dass man die Rechte der Palästinenser unbedingt wahren muss. Aber können Sie verstehen, dass es schwierig ist, diese universalistische Perspektive beizubehalten, wenn es angesichts des Terrors der Hamas offensichtlich ist, dass die Hamas nicht den geringsten Respekt vor der Menschenwürde hat?
Ja. Aber soll ich es erlauben, dass die Hamas mich zu ihresgleichen macht? Absolut nicht! Ein Bekannter aus Israel, der neulich mein Buch "Links ist nicht Woke" hochgelobt hatte, schrieb mir gerade: „Tja, jetzt hat die Hamas nicht nur Menschen, sondern auch die Vernunft umgebracht.“ Und ich sagte: "Nein, die Nazis haben das nicht geschafft, und wir dürfen es auch der Hamas nicht erlauben, die Vernunft zu ermorden." Er hat mir schreckliche Videos geschickt mit den Worten: „Komm in unseren Dschungel hier und rede weiter von Deiner Vernunft“. Und ich sagte: "Nein, man muss gerade in solchen Momenten unbedingt von Vernunft reden." Es gibt übrigens eine tiefe jüdische Tradition des Universalismus. In der Bibel steht: „Ihr wart Fremde in Ägypten, ihr wart Sklaven, deshalb müsst ihr Euch besonders um die Fremden sorgen.“ Ich bin selbst aufgewachsen mit der Vorstellung, dass wir – gerade als Juden - an die Seite der Fremden gehören.

Inwiefern?
Ich bin in Georgia während der Bürgerrechtsbewegung aufgewachsen. Wir Juden waren besser gestellt als Schwarze, aber nur ein bisschen besser. Für meine Mutter war klar, dass wir eine universalistische Pflicht haben, die Nachfahren der Sklaven, die noch unterdrückt wurden, zu unterstützen. Unsere Synagoge wurde bombardiert, weil der Rabbiner eng mit Martin Luther King zusammengearbeitet hat. Diese jüdisch-universalistische Haltung ist in Deutschland fast vergessen, zu meinem Ärger, obwohl alle großen deutschen jüdischen Intellektuellen, denen man nachtrauert, Moses Mendelssohn, einst der deutsche Sokrates genannt, Karl Marx, Albert Einstein oder Hannah Arendt, Universalisten waren. In Deutschland denkt man, wenn man Jude ist, sollte man besonders nationalistisch sein, weil wir unterdrückt und ermordet wurden, und vergisst, wie zentral diese Tradition im Judentum ist.

Und trotzdem bleibt ja die Frage, wie man reagiert, wenn man angegriffen wird. Ist es nicht irgendwie nachvollziehbar, dass Israel sich jetzt erstmal verteidigen will und muss?
Gott sei Dank gibt es selbst bei der New York Times gute Journalisten, die vor einer überzogenen militärischen Reaktion warnen. Netanjahus Regierung verspricht seit 25 Jahren Sicherheit durch militärische Aggression – und dieses Versprechen ist jetzt weg! Es braucht ein dauerhaftes Konzept für die Sicherheit Israels. Das wird sicher nicht passieren, wenn Gaza jetzt in Schutt und Asche gelegt wird. Ich bete dafür, obwohl ich kein wirklich gläubiger Mensch bin, dass Israel wieder überlegt, wie es reagiert. Es gibt schreckliche Luftangriffe, aber die Bodenoffensive hat begonnen. Alles kann sich jede Stunde ändern. Der Hamas ist es völlig egal, was den Bürgern in Gaza passiert. Umso fataler, dass Netanjahu seit langem systematisch die Palästinensische Autonomiebehörde, die Partei im Westjordanland, schwächt. Die PA ist eine Alternative zur Hamas, keine tolle Alternative, sehr korrupt, aber sie schließen immerhin einen Frieden mit Israel nicht aus, sondern wollen eine Zweistaatenlösung – im Gegensatz zur Hamas, deren Programm bekanntlich die Auslöschung von Israel ist und die auch eine Unterscheidung von Zivilbevölkerung und Militär in Israel ablehnt, weil in Israel jeder Wehrdienst leisten muss. Die PA war mal eine Alternative, wird aber seit Jahren von Netanjahu unterminiert.  

Also halten Sie die Kriegserklärung von Israel an die Hamas und den Versuch, die Infrastruktur der Hamas zu zerstören, für einen Fehler?
Was Israel derzeit tut – mit deutscher und amerikanischer Unterstützung – ist ein Geschenk an Hamas. Wenn es machbar wäre, nur die Hamas umzubringen, wäre ich dafür. Das Problem ist, dass man nicht nur die Hamas-Führer umbringen kann. Da sie unter der Zivilbevölkerung leben auf diesem winzigen Territorium, wird das nicht ohne unglaublich viele zivile Opfer gelingen. Natürlich wird das zynisch von Hamas instrumentalisiert, aber die toten Palästinenser sind schon da. Und was passiert nun mit den über 200 israelischen Geiseln? Viele sprechen jetzt von Israels 11. September. Überlegen wir, wie die deutschen Reaktionen damals waren.  Alle waren erschüttert von Al Quaidas Terror-Angriff, viele haben dafür plädiert, dass man die Traumatisierung der Amerikaner verstehen musste. Richtig. Die rot-grüne Regierung hat aber dennoch gesehen, dass Trauma keine Basis für vernünftige Politik ist, und hat den Angriff auf Irak kritisiert. Joe Biden hat neulich in Tel Aviv gewarnt, Israel solle nicht reagieren wie einst George Bush mit seinem Angriff auf Irak, denn das hat alles noch schlimmer gemacht. Man hätte damals nur gegen die Taliban vorgehen sollen – die leider davor von den USA gefördert worden waren. Genauso wie Netanjahu die Hamas förderte, denn er meinte, mit den Religiösen könne er umgehen. Doch Bush hat den 11. September als Vorwand genutzt, um Afghanistan und Irak anzugreifen. Ganz viele der Probleme, die wir heute haben -  hin bis zu ISIS und Syrien, und der Immigration, die Europa nicht verkraften kann - gehen darauf zurück. Israel sollte diesen Fehler nicht wiederholen, indem es Gaza in Schutt und Asche legt.

Was denken Sie, wie es jetzt weitergeht?
Das Einzige, was ich im Augenblick weiß, ist, dass niemand diese Frage beantworten kann. Es gibt zu viele Faktoren, die von anderen Faktoren abhängen. Vor allem weil einige der Akteure die Grenzen der Vernunft wirklich verlassen haben – was passiert, wenn die Hamas, die Hisbollah oder Netanjahu dieses oder jenes tut? Man kann sich eine Kette von schlechten Reaktionen, oder vielleicht auch eine Kette von guten Reaktionen, vorstellen, die sich aber jeder Vorhersage entziehen. Wir sind an einem sehr gefährlichen historischen Zeitpunkt, und zwar nicht nur für den Nahen Osten. Vor ein paar Tagen sagte Bernie Sanders, es sei die gefährlichste Zeit, die er je erlebt hat. Und er ist alt genug, um eine Menge erlebt zu haben.

Sie haben am Anfang angedeutet, dass Sie trotzdem noch so etwas wie Hoffnung haben?
Ich folge hier Kant: Hoffnung ist kein Gefühl, sondern eine Pflicht. Wenn wir aufhören zu hoffen, wird die Welt wirklich untergehen. Wir verlieren dann jede Möglichkeit zu handeln, um die Welt besser zu machen. Es ist wahnsinnig schwer, gerade Hoffnung zu haben. Aber wir dürfen sie ebenso wenig aufgeben wie die Vernunft. Beides gehört zusammen.

Gerade erschienen: Susan Neiman: Links ist nicht woke. Ü: Christiana Goldmann (Hanser Berlin, 22 €)

Das hier von Susan Neiman aktualisierte Interview erschien zuerst im PhilosophieMagazin. Die Fragen stellte Theresa Schouwink.

 

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