Türkei: Frauen entscheiden die Wahlen

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Mit Verkin Anoba ist die Verwirrung perfekt: eine Frau, engagierte Verfechterin der Meinungsfreiheit, eine christliche Türkin armenischer Abstammung, will bei den für den 22. Juli angesetzten Neuwahlen für die Regierungspartei AKP kandidieren. Für eine Partei also, die im Verdacht steht, das Land islamistisch unterwandern zu wollen und gegen die seit Wochen Millionen Menschen - vor allem Frauen – in Ankara, Istanbul, Izmir und Samsun auf die Straße gegangen sind. 

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Im Wahlkampf zeigt Erdogan sich versöhnlich, reformistisch, westlich orientiert. Von seinen Gegnerinnen jedoch wird ihm Verschleierung vorgeworfen. In Wahrheit verfolge er ganz andere Ziele.

Der Protest der Bevölkerung eskalierte, als Erdogan Ende April Abdullah Gül für das Amt des Staatspräsidenten nominierte: Weil mit dem derzeitigen Außenminister ein orthodoxer Muslim in den Präsidentenpalast einziehen würde, der vor wenigen Jahren noch in einem Interview mit dem britischen Guardian die Demokratie als ein "Übergangsmodell" beschrieben hatte - und dessen Frau ein Kopftuch trägt.

"Ich habe nichts dagegen, wenn eine Frau aus religiösen Gründen ein Kopftuch trägt", sagt Semra Pelek vom Istanbuler Wochenmagazin Tempo. "Doch es gibt Bereiche, da haben religiöse Motive und Symbole nichts zu suchen. Ich will nicht von einer Frau repräsentiert werden, die diese religiösen Signale nach außen trägt. Das gäbe ein falsches Bild von der Türkei, das ist nicht unser Land."

Die 30-Jährige, lange Gerichtsreporterin bei einer türkischen Tageszeitung, bezeichnet sich selbst als "religiös". Doch sie besteht gleichzeitig darauf: "Der Glaube ist eine Sache zwischen Gott und einem einzelnen Menschen."

Der Säkularismus - die Trennung von Staat und Religion - gehört zu den Fundamenten der von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten türkischen Republik. Deshalb werden im Wahlkampf überall, auf der Straße wie in Banken und Geschäften, türkische Fahnen ausgestellt. Die Fahnen-Hersteller kommen schon nicht mehr nach mit dem Liefern. Es heißt, in den vergangenen Wochen wurden mehr türkische Fahnen verkauft als amerikanische nach dem 11. September 2001.

Die Massenproteste auf den Straßen haben ein neues Kräfteverhältnis in der Gesellschaft zutage gefördert. "Dass die Armee Ende April schließlich noch eine offizielle Warnung an die Regierung ausgab, war im Grunde völlig überflüssig, da war die Bevölkerung längst schon auf der Straße", sagt Sedef Cakmak. Die 24 Jahre alte Soziologie-Studentin schreibt zur Zeit ihre Abschlussarbeit über die iranische Revolution. "Die Situation hier in unserem Land ist nicht so dramatisch, wie manche es sagen. Viel zu viele Menschen stehen bereit, sich für die Erhaltung des säkularen Systems einzusetzen. Ich bin da ganz optimistisch."

Cakmak gehört zu denen, die "von unten" für ihre Freiheit kämpfen. "Denen da oben traue ich nicht." Sie arbeitet für Menschenrechtsorganisationen und für "Lambda", einen Verein, der sich für die Rechte von Homosexuellen in der Türkei einsetzt. "Paradoxerweise hat sich in diesem Bereich in den letzten Jahren sehr viel verbessert, unter der jetzigen Regierung wurden drei neue Vereine für Homosexuelle gegründet. Das war vorher undenkbar. Aber heißt das, dass alles gut ist? Ganz bestimmt nicht."

Etwas Entscheidendes jedoch hat sich verändert: Die Einstellung der Bevölkerung zum Militär. "Früher bedeutete die Armee Sicherheit", sagt Cakmak. "Das hat sich spätestens mit meiner Generation geändert. Wir wehren uns dagegen, mit Waffen regiert zu werden. Was wir brauchen, ist eine funktionierende Demokratie. Vor wem wollen die uns dann noch schützen? Vor uns selbst?"

In der Vergangenheit ist die türkische Armee immer wieder als Wächterin der Verfassung aufgetreten, als Kämpferin für das säkulare System, indem sie gegen jene Regierungen putschte, die islamistische Tendenzen offenbarten. Zum ersten Mal, so scheint es, waren die Menschen schneller. Cakmak selbstbewusst: "Die Armee hat da etwas falsch verstanden. Wir wollen genausowenig einen Putsch wie einen islamistischen Gottesstaat. Demokratie heißt, dass das Volk etwas zu sagen hat."

Aber wer ist das Volk - und wer sind seine Vertreter? "Istanbul ist nicht die Türkei", sagt Selda Besen "Und selbst innerhalb der Metropolen gibt es Parallelwelten." Die 40 Jahre alte Mutter eines 16 Jahre alten Sohnes arbeitet in Istanbul für die türkische Vertretung von "Europa Donna", eine europäische Organisation gegen Brustkrebs mit Hauptsitz in Mailand. Neben wohlhabenden Frauen kommen viele Frauen zu ihr, die weder lesen noch schreiben können. Sie leben in Istanbul, doch viele bekommen niemals den Bosporus zu sehen, ihr Leben spielt sich in einem Umkreis von knapp 100 Metern ab. "Sie gehen nicht einmal zum großen Basar, das scheint ihnen zu gefährlich."

Darum haben die Massenproteste auf den Straßen nur bedingt Aussagekraft, was den Ausgang der Wahl betrifft. Der größte Teil der Bevölkerung lebt in Dorfstrukturen, ob in den Metropolen oder auf dem Land. Insgesamt leben in der Türkei acht Millionen Analphabetinnen, 640.000 Mädchen erhalten keine Schulbildung und nur drei Prozent bekommen die Chance zu studieren. "Daran muss sich etwas ändern", findet Beser, "am Bildungssystem und an der Gesundheitspolitik. Wir wollen Taten sehen."

Tatsache ist, dass heute und jede zweite Türkin Kopftuch trägt. "Wenn über die Hälfte der Frauen in diesem Land ein Kopftuch tragen, sind diese im Parlament derzeit nicht entsprechend vertreten", schreibt die Kolumnistin Perihan Mägden in der liberalen Tageszeitung Radikal. "Das ist meiner Meinung nach ein untragbarer Zustand."

Ob mit oder ohne Kopftuch – die Frauen sind im türkischen Parlament eklatant untetrepräsentiert: Von den 550 Volksvertretern sind derzeit nur 24 Frauen. Das sind schlappe 4 Prozent. "Die Wahlen werden zeigen, wie weit die Kampagnen und das Werben der politischen Parteien für eine entsprechende Beteiligung von Frauen im Parlament sind", sagte die Vorsitzende des türkischen Industriellenverbandes "Tüsiad", Arzuhan Dogan Yalcindag, im Mai auf einem Treffen der türkischen Vereinigung von Unternehmerinnen (Kagider). Ihrer Ansicht nach sind 30 bis 40 Prozent nur via Quote zu erreichen. Vom amtierenden Ministerpräsidenten erhielt sie daraufhin die Warnung, "die politischen Geschäfte der Politik zu überlassen".

Das Wahlrecht besitzen die Frauen seit 1930. In der Praxis aber sind es die Männer, die die Entscheidungen treffen. ,Muss man ein Mann sein, um ins Parlament zu kommen?' Diese Frage stellten Anfang des Jahres die Mitglieder der Frauenvereinigung "Ka-Der" und sorgten mit einer publikumswirksamen Kampagne für Furore: Erfolgreiche Frauen aus Kultur und Wirtschaft posierten mit Schlips und Schnauzbärten, um auf das Fehlen von Frauen in der Politik aufmerksam zu machen.

Aufgrund  der Zehn-Prozent-Hürde, die eine Partei überwinden muss, um den Sprung ins Parlament zu schaffen, stehen im Grunde nur zwei Parteien zur Wahl: die konservativ-islamische Regierungspartei AKP und die sozialdemokratische CHP, die kürzlich einen Zusammenschluss mit der linksorientierten DSP eingegangen ist.

Um Wählerinnenstimmen zu gewinnen, setzt man im Wahlkampf auf Diversität: So wirbt Erdogan für Frauen und ethnische Mindetheiten im Parlament. Und die Linken geben sich nationalistisch. Sollte das zur Folge haben, dass mehr Frauen und mehr ethnische Minderheiten im Parlament vertreten sein werden, wäre das schon mal ein Fortschritt.

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