Vergessene Komponistinnen

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Dass Kreativität nur dann sichtbar werden und sich durchsetzen kann, wenn genügend Freiraum, Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit und der Platz da ist, kreative Anlagen zu entwickeln, auf diesen Gedanken kamen wir Frauen bisher nicht. Und auch nicht auf den, dass es vielleicht doch geniale Frauen gegeben hatte, sie nur rascher in Vergessenheit gebracht und totgeschwiegen wurden. Misstrauisch geworden, begab ich mich trotzdem auf die Suche in Literatur, Lexika und Bibliotheken. Siehe da: Ich entdeckte eine Menge von Komponistinnen, deren Werke vergessen, nicht mehr aufgelegt oder nie gedruckt worden waren.

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Wer kennt zum Beispiel Francesca Caccini (1587-1640), eine Zeitgenössin Claudio Monteverdis, eine Allroundbegabung, die als Sängerin auch Protagonistin seiner Opern war? Sie schrieb Opern, Ballette, gab Lehrbücher für Komposition heraus und übte einen enormen Einfluss auf die Komponisten ihrer Zeit aus.

Elisabeth de la Guerre (1644-1729) aus Paris, die eine große Zahl von Werken hinterließ für Harfe, Triosonaten, Violinsonaten, Kantaten, Opern?

Fanny Mendelsson-Hensel (1805-1847), die Schwester des bekannten Felix, war ebenso Komponistin wie ihr Bruder, der seinen „Lieder(n) ohne Worte“ sechs Kompositionen seiner Schwester zugesellte und sie unter seinem Namen veröffentlichte… Ihr selbst riet er von einer Veröffentlichung ihrer Werke ab. Argument: Sie würde dann ihre Pflichten als Hausfrau vernachlässigen.

Clara Schmumanns Genie
Und wer weiß von den Kompositionen der Clara Schumann, Robert Schumanns Frau, die auch veröffentlicht und gespielt wurden? Wer kennt die Klaviertrios und Quartette, Liederzyklen und ihr Klavierkonzert in a-moll mit großer Orchesterbesetzung? Sicher, im Zuge des verkaufsträchtigen „Jahres der Frau“ erschien 1975 eine Biografie über Clara Schumann. Dietrich Fischer-Dieskau schrieb ein Vorwort zu diesem Buch: Er beschäftigt sich darin groteskerweise ausschließlich mit Robert Schumanns Einfluss auf die Romantik. Clara wird mit keinem einzigen Wort erwähnt!

Die Namen der Komponistinnen lassen sich endlos fortsetzen: Anna Amalia, Prinzessin von Preußen (1723-1787), Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar (1739-1807), Maria Theresia von Paradies (1759-1824), Maria Malibran (1708-1836), Josephine Lang (1815-1880), Pauline Viardot-Garcia (1821-1910), Lili Boulanger (1893-1918). Man muss sie nur suchen. In den Schulbüchern stehen sie nicht.

Auch heute lebende Komponistinnen sind weitgehend unbekannt. Aleida Montija, Alice Samter, Hanni Schön-Knauff, Eva Schorr, Felicitas Kuckuck zum Beispiel. Auch heute veröffentlichen sie oft noch unter Pseudonym oder mit abgekürztem Vornamen, um eine Chance bei Wettbewerben oder Eingaben in Verlage zu haben. Denn Komponieren, das ist nach wie vor Männersache.

Die Geschichtsschreibung vergaß frühere Komponistinnen nicht etwa, weil sie unbedeutend waren. Alle waren zu ihren Lebzeiten anerkannt und als Lehrerinnen wichtig. Man ließ sie nur dann rasch in Vergessenheit geraten. So blieb der Eindruck erhalten, Komponieren sei reine Männersache. Jede Frau, die sich dazu berufen fühlt, ist ohne geschichtliche Identität, ohne Vorbild. Jede heute lebende Komponistin muss in ihrem Berufskampf ganz von vorne anfangen. Das verhindert sicher oft den Entschluss, überhaupt Komponistin werden zu wollen.

Berühmte Dirigentinnen
Bis zur frühen Romantik war das Amt des Dirigenten mit der Tätigkeit des Cembalisten oder Konzertmeisters verbunden. Seine Eigenständigkeit hat sich in der Musikgeschichte erst spät durchgesetzt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Carl Maria von Weber der erste große Dirigent. Noch heute ist das Dirigieren und das Berufsbild des Dirigenten verbunden mit der Vorstellung von Macht und absoluter Führung – alles Fähigkeiten also, die die Gesellschaft dem Mann zugeteilt hat. Deshalb ist es hier besonders schwierig für eine Frau, in diese Domäne einzudringen und sich einen dauerhaften Namen oder gar Posten zu verschaffen.

Nadja Boulanger aus Paris, 1887 geborene Musikpädagogin, Komponistin und Dirigentin, reiste als Dirigentin durch Europa, Kanada und die USA. Sie bildete Dirigenten und Komponisten aus, die heute weltberühmt sind, unter anderem Leonard Bernstein. Nadja Boulanger war eine der ersten Dirigentinnen großen Stils.

Heute sind Dirigentinnen noch immer rar. In Deutschland war Gisela Jahn die erste namhafte Dirigentin. Sie leitete von 1953-1960 das Städtische Symphonieorchester in Gotha (Thüringen) und ist seit 1966 Musikalischer Direktor der Lübecker Kammeroper. Genannt werden muss auch Ellinor von der Heyde-Dohrn, die von 1957-1969 Kirchenmusikdirektorin am Braunschweiger Dom war, wo sie sich besonders als Dirigentin profilierte. Zum ersten weiblichen Generalmusikdirektor wählte die Stadt Solingen vor wenigen Wochen Sylvia Caduff, die 1966 den 1. Preis im Dimitri-Mitropoulos-Wettbewerb in New York gewonnen hat.

Das sind noch immer Ausnahmeerscheinungen. Von meiner eigenen Teilnahme an Internationalen Dirigentenkursen kann ich berichten, dass Dirigentinnen nur vereinzelt vertreten sind. Bei Hans Swarowsky war ich 1973 unter 70 Bewerbern die einzige Frau, bei meiner Teilnahme 1973 am Karajan-Wettbewerb waren unter 65 Bewerbern immerhin zwei Frauen.

Dirigenten untereinander sind ausgeprägte Rivalen: sie bekämpfen sich gegenseitig und streben Führungspositionen an. Frauen, die in „ihren“ Beruf eindringen wollen, unterstellen sie, dass es mit unlauteren Mitteln (Aussehen, erotische Ausstrahlung etc.) geschehe. Es wird als besonders krasse Niederlage empfunden, wenn eine Dirigentin einem Dirigenten vorgezogen wird.

Macht und Führungsqualitäten will man einer Frau absprechen, deren Auswirkungen ja vorwiegend Männern zuteil wird. Denn man darf nicht vergessen, dass auch innerhalb des Orchesterapparates Männern der Vorzug gegeben wird und sie auch dort in großer Mehrzahl vertreten sind. Selbst die namhaften Orchester wie die Berliner und die Wiener Philharmoniker dulden keine Frau in ihren Reihen.

Hat aber nun eine Frau diese Position erreicht, so stellen sich weitere Probleme, die mit ihrem Können und ihrer Musikalität nichts zu tun haben. Ausweisung und Kritik von einer Frau nehmen Männer nicht gerne zur Kenntnis. Es hängt hier sehr viel ab von der Bereitschaft und Fairness der Orchestermitglieder. Möchte man von den männlichen Führungsallüren abweichen und die Musiker mitentscheiden lassen, in Strichgebung, Artikulation und anderen rein musikalischen Punkten (denn es richtet sich vieles nach den jeweiligen Begabungen und Besonderheiten des Spielers, oder sollte es zumindest), so muss man mit dem Vorwurf rechnen, man wisse nicht, was man will. Und so wird man gerade als Frau – will man anerkannt werden – quasi dazu gezwungen, in das Führungsgehabe männlicher Dirigenten zu verfallen. Leider…

Auch die Kriterien, mit denen Frauen in der Musik gemessen werden, sind sexistisch. Wer interessiert sich schon für die Haarfarbe von Herrn Karajan? Bei Hortense von Gelmini zum Beispiel sieht man, dass Journalisten ihr Blondhaar ausführlicher beschreiben als ihre Schlagtechnik oder die Wahl ihrer Tempi. Nachdem die Presse sich eingehend mit ihr als Sensation geschmückt hat, ließ sie sie fallen. Im Bereich der Instrumentalmusik ist es ein wenig, aber nicht entscheidend anders: berühmte Interpretinnen auf Violine, Klavier, Cembalo oder Flöte sind selten, Oboistinnen, Hornistinnen gibt es als Solisten nicht. Unter der großen Garde der Organisten gibt es zwei Frauen: Marie Claire Alain, die es als ihr Lebenswerk ansieht, die Kompositionen ihres Bruders bekannt zu machen. Oder Almut Rössler aus Düsseldorf, die die Werke Olivier Messiens spielt – und zwar ausschließlich. Auch diese Fakten sprechen für sich. Mehr oder weniger durchgesetzt haben sich: Johanna Martzy, Edith Peinemann, Susanne Lautenbacher – Violine -, Edith Picht-Axenfeld – Cembalo -, Clara Haskil, Elly Ney, Martha Argerich, Maria Bergmann – Klavier -, Angelika May – Cello -, Roswitha Staege – Flöte.

Im anderen Teil Deutschland sieht es noch trauriger aus: außer Annerose Schmidt, Pianistin aus Leipzig, will mir keine namhafte Instrumentalistin einfallen. In den anderen sozialistischen Ländern sind Galina Stephanska, Tatjana Nikolajewa, Frau Ruzikowa zu erwähnen.

Sängerinnen sind da eine Ausnahme. Sie braucht man, da führt kein Weg dran vorbei. Aber auch das war früher anders: man beraubte junge Männer ihrer „Männlichkeit“, kastrierte sie und der weibliche Sopran war ersetzt. Der Kastrat ist zwar nur noch ein halber Mann, aber eben doch ein Mann. Lieber diese Perversion und Unmenschlichkeit, als das Eindringen der Frau in die Musikgesellschaft. Glücklicherweise war der Geschmack der Musikwelt doch dominierender als ihr patriarchalisches Gesellschaftsbewusstsein. Aber immerhin: der letzte berühmte Kastrat Alessandro Moreschi starb 1922 in Rom. Das spricht für sich.

Solidarische Zuhörerinnen?
Ich möchte mit diesem Artikel Vorurteile abbauen, und Beweise anführen für die Kreativität und Leistungsfähigkeit der Frau in der Kunst – in Vergangenheit und Gegenwart. Ich selbst habe meine beruflichen Erfolge zum Teil auch der Hilfe von Männern zu verdanken, was vorwiegend daran liegt, dass Männer in der Lage sind, Hilfestellungen zu leisten, da sie auf allen führenden Posten sitzen. Ich bin auch einigen begegnet, die der Gleichberechtigung der Frau nicht im Wege stehen wollten. Dies aber war eine erschreckend kleine Minderheit unter denen, die meine Entwicklung behinderten, belächelten, mich nicht ernst nahmen. Außer meiner Mutter, die selbst Musikerin ist, gab es bisher keine Frau, die meine Begabung förderte und mich mit den ihr vorhandenen Mitteln unterstützt hat. Aber auch unter den Musikerinnen gibt es noch kaum ein bewusst solidarisches Verhalten. Ich hoffe auf Sie, die Zuhörerinnen: Dass Sie misstrauisch werden beim Gerede vom fehlenden weiblichen Genie. Und dass Sie in Zukunft besonders aufmerksam hinhören, wenn eine Frau Musik macht: Sie hat einen hindernisreichen Weg hinter sich.

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