Von der Leyen rügt sexistische Justiz!

Ursula von der Leyen im Gespräch mit einer Soldatin. Foto: Bettina Flitner
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Das hat es in der Geschichte der Bundeswehr noch nicht gegeben: Ein Verteidigungsminister, in diesem Fall ganz sicher nicht zufällig eine Ministerin, macht einen Fall sexueller Belästigung öffentlich. Und kritisiert die Wortwahl, mit der die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens begründet, als „völlig inakzeptabel“.

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Was war passiert? Im September 2015 hatte eine Soldatin im Landkreis Friesland Strafanzeige gegen einen Hauptmann gestellt. Er soll sie während eines Festes sexuell belästigt haben. Jetzt stellte die Staatsanwaltschaft Oldenburg das Verfahren ein. Zwar sei das Verhalten des Soldaten „übergriffig, distanzlos und unverschämt“ gewesen. Aber nach „vorwiegend männlichem Verständnis“ habe der Mann mit seinen Griffen an den Po und seinen Aufforderungen zum Sex lediglich „sein Interesse bekunden“ wollen. Diese Einschätzung kommt übrigens von einer Staatsanwältin.

Tatsächlich konnten sexuelle Übergriffe nach dem alten Sexualstrafrecht nicht bzw. nur als „Beleidigung“ geahndet werden. Erst am 1. Juli 2016 beschloss der Bundestag, dass sexuelle Belästigung ein eigener Straftatbestand ist. Dass Verteidigungsministerin von der Leyen sich dennoch so klar und deutlich zu Wort meldete, zeigt, dass es ihr nicht nur um den Einzelfall geht. Sondern um das gesamte Klima in der Bundeswehr. Nicht erst seit den jüngsten skandalösen sexuellen Misshandlungen von Pfullendorf und Bad Reichenhall ist klar: Sexuelle Belästigung ist in der Bundeswehr kein Einzelfall, sondern ein ernsthaftes Problem: Jede zweite Soldatin klagt über „verbale Belästigungen“, jede vierte über das „sichtbare Anbringen pornografischer Darstellungen“, hatte 2014 eine Studie des „Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften“ der Bundeswehr ermittelt. Ebenfalls jede vierte wurde Opfer von "unerwünschten, sexuell bestimmten körperlichen Berührungen". Wie die Soldatin in Friesland.

Nun sprach die oberste Dienstherrin der SoldatInnen Klartext, nicht nur adressiert an die Staatsanwaltschaft, sondern auch an potenzielle Täter: „Ich dulde in der Bundeswehr kein Verhalten, das die Würde, die Ehre und die Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung von Soldatinnen oder Soldaten und der zivilen Beschäftigten verletzt.“

Hier ihr Offener Brief im Wortlaut:  

Wir haben in der Bundeswehr in den letzten Wochen und Monaten viel über die Themen respektvoller Umgang miteinander, Prinzipien der Inneren Führung versus Diskriminierung und Herabwürdigung diskutiert. Auch um ein klares Zeichen zu setzen, haben wir am 3. Februar 2017 die Ansprechstelle „Diskriminierung und Gewalt in der Bundeswehr“ im Ministerium eingerichtet. Sie hat ein offenes Ohr für alle aktiven und ehemaligen zivilen und militärischen Bundeswehrangehörigen, die Mobbing, Diskriminierung, körperliche oder seelische Gewalt in unseren Reihen erfahren oder erfahren haben. Wir wollen sicherstellen, dass wir in der Bundeswehr respektvolle und menschenwürdige Umgangsformen pflegen; dass wir ein Umfeld schaffen, in dem sich alle wohl und respektiert fühlen, ob Soldatin oder Soldat, zivile Mitarbeiterin oder ziviler Mitarbeiter.

Nun hat mich eine umsichtige militärische Gleichstellungsbeauftragte auf den Fall einer Soldatin hingewiesen, die von einem Kameraden körperlich bedrängt und sexuell belästigt wurde. Und dies zur Anzeige brachte – wie ich finde, der richtige Weg. Was dann folgte, möchte ich als Vorgesetzte aller Soldatinnen und Soldaten wie zivilen Beschäftigten der Bundeswehr nicht unkommentiert stehenlassen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Zu der Bewertung kann sie als unabhängige Behörde kommen. Was aber völlig inakzeptabel ist, ist die Wortwahl, mit der die zuständige Staatsanwaltschaft ihre Entscheidung gegenüber der betroffenen Soldatin begründet: „Bei dem von Ihnen beschriebenen ,Imponiergehabe‘ des Beschuldigten (Posen, Muskelspiel, Aufforderung zum Sex, Griff an das Gesäß) ist jedoch nach allgemeinem (vorwiegend männlichem) Verständnis davon auszugehen, dass der Beschuldigte sein ,Interesse‘ an Ihnen damit kundtun und nicht, dass er Sie beleidigen wollte.“

Alles nur Imponiergehabe? Alles nur aus Interesse?

Mit dieser Einschätzung bedeutet die Staatsanwaltschaft letztendlich einer Soldatin, sie müsse sich übergriffiges und unverschämtes Verhalten von Kameraden gefallen lassen, weil ein Griff ans Gesäß nach „vorwiegend männlichem Verständnis“ nicht beleidigend gemeint sei. Solche Interpretationen sind abenteuerlich und aus der Zeit gefallen. Denn sie machen den Mut zunichte, sich gegen sexuelle Belästigung zu wehren, und zerstören das Vertrauen von Opfern sexueller Übergriffe, an übergeordneter Stelle Verständnis und Schutz zu finden. Und es signalisiert potenziellen Tätern, dass Übergriffe schon okay sind, wenn es „nur“ darum geht, „Interesse“ an einer Frau oder einem Mann zu bekunden.

Ich möchte hier klarstellen: Für mich ist der Fall, so wie ihn die Gleichstellungsbeauftragte an mich herangetragen hat, – unabhängig von der Bewertung ziviler Instanzen – vor allem auch ein grober Verstoß gegen die Pflicht zur Kameradschaft. Und ich dulde in der Bundeswehr kein Verhalten, das die Würde, die Ehre und die Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung von Soldatinnen oder Soldaten und der zivilen Beschäftigten verletzt. Ich sehe alle Vorgesetzten in der Pflicht, diesen Werten im Alltag Geltung zu verschaffen – unabhängig von der neuen Möglichkeit der Ansprechstelle im Ministerium, an die sich Betroffene jederzeit auch in solchen Fällen wenden können. Wir wollen in der Bundeswehr ein Klima des Vertrauens, der Offenheit, des Respekts und der Unterstützung pflegen. In einer großen Organisation wie der Bundeswehr gab und gibt es immer wieder Vorkommnisse, die diesem Geist widersprechen. Aber die übergroße Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten wie auch der zivilen Beschäftigten lebt diese Haltung jeden Tag. Nicht zuletzt ihrem guten Ruf sind wir es schuldig, dass wir uns klar abgrenzen gegen jede Zweideutigkeit und jeden Zweifel.

Ich bitte Sie, dabei zu helfen!

Dr. Ursula von der Leyen
Bundesministerin der Verteidigung

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Ursula von der Leyen über Sexismus

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Wenn es um den Kampf gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geht, blicken wir in unseren Debatten über kurz oder lang fast zwangsläufig über den Atlantik.

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Von "amerikanischen Verhältnissen" ist dann die Rede – mal mit bewunderndem, mal mit empörtem Unterton. "Amerikanische Verhältnisse", was bedeutet das? Wenn Manager aus Sorge vor unberechtigten Vorwürfen lieber den Fahrstuhl verlassen, statt allein mit einer Mitarbeiterin in der Kabine zu bleiben; wenn Arbeitern im Rahmen von Benimm-Kursen beigebracht wird, Kolleginnen nicht länger als fünf Sekunden anzuschauen, weil dies sonst als Belästigung mit Blicken gewertet werden könnte – dann ist dies zunächst einmal… überhaupt kein Drama.

Für Frauen gehört es seit jeher zum Alltag, sich vor dem Betreten eines Fahrstuhls zu fragen, was das denn für ein Mann ist, mit dem sie die nächsten Sekunden oder Minuten allein auf engstem Raum verbringen werden. Frauen fragen sich jeden Morgen, welche Signale sie mit ihrer Kleidung in der Firma aussenden – und ob diese missverstanden werden könnten.

In den USA hat sich dieses Bewusstsein unter dem Druck einer Rechtsprechung entwickelt, die den Arbeitgeber in Fällen von "sexual harassment" mit in Haftung nimmt. Nicht nur, dass Belästigern klare Konsequenzen bis hin zur Kündigung drohen. Die Firmen werden von den Gerichten auch zur Verantwortung gezogen, wenn sie das Entstehen eines "hostile environment" nicht unterbinden, also eines Arbeitsklimas, in dem Beschäftigte leichter zu Opfern sexueller Belästigung werden. Da die Beweislast inzwischen bei den Unternehmen liegt und Schadensersatzzahlungen leicht Millionenhöhe erreichen, kann es sich kein amerikanischer Arbeitgeber mehr leisten, das Thema auf die leichte Schulter zu nehmen.

Man mag solche Verhaltensmaßnahmen für verkrampft halten und für übertrieben. Positiv ist dennoch, dass in den Betrieben ein Bewusstsein für das Thema eingefordert wird und dass eindeutige, klare Regeln die Toleranzschwelle gegenüber sexuellen Belästigungen unmissverständlich markieren.

Um diesen Gedanken sollte sich auch die Debatte bei uns drehen. Wie schaffen wir den offenbar dringend notwendigen Bewusstseinswandel, ohne bei den Instrumenten über das Ziel hinauszuschießen?

Selbstverständlich ist nichts verkehrt daran, dort auf Partnersuche zu sein, wo man einen Großteil seiner Zeit verbringt – wenn dies zwei Menschen auf Augenhöhe betrifft. Und es ist meiner Meinung nach auch nichts gegen einen Flirt einzuwenden – solange beide es wollen und die Machtverhältnisse gleich sind. Aber nichts ist mehr in Ordnung, wenn dies einseitig geschieht und insbesondere in einem Abhängigkeitsverhältnis. Die große Mehrheit der Männer sieht das übrigens auch so und hält sich daran.

Wird dieser Common Sense allerdings gebrochen, tut sich eine Grauzone auf. Wir wissen aus Umfragen: Mindestens jede fünfte Frau hat schon einmal sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz erlebt. Jedoch ist die Zahl derjenigen, die sich tatsächlich wehren, notfalls auch vor Gericht, eher gering. Das spricht für eine hohe Dunkelziffer. Dahinter steht häufig Unkenntnis über die eigenen Rechte, nicht selten auch Scham. Dahinter steht aber auch die konkrete Befürchtung, nach einer Beschwerde erst recht berufliche Nachteile zu erleiden.

Die aktuelle Debatte trägt deshalb auch dazu bei, insbesondere den Frauen deutlich zu machen: Du hast jedes Recht, das nicht zuzulassen! Opfern sexueller Belästigung steht nicht nur im Strafrecht (Straftatbestand der sexuellen Nötigung) oder im Zivilrecht (Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts) die Möglichkeit offen, sich gegen ihre Belästiger zu wehren. Mit dem "Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz" von 2006 besteht auch ein arbeitsrechtlicher Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber, sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz zu verhindern und deren Verursacher zu sanktionieren – per Abmahnung, Versetzung, notfalls auch Kündigung.

Viele Männer fühlen sich durch die aktuelle Sexismusdebatte unter Generalverdacht gestellt. Das darf nicht sein. Aber viele, zu viele Frauen können eine Situation aus ihrem Arbeitsleben schildern, in der sie – meist in jungen Jahren – tiefe Scham, Ohnmacht und Wut gespürt haben, wenn ein Kollege seine Position ausnutzt und die Grenzen überschreitet.

Über die Grenze sollte aber kein Zweifel bestehen. Hier spielt die Atmosphäre in den Betrieben eine ganz große Rolle. Die Furcht vor Gegenwehr ist dort besonders groß, wo das Klima Raum für Zweideutigkeiten lässt, wo sexuelle Belästigung eben nicht eindeutig geächtet ist. Das Gegenteil sollte bei uns Standard sein. Aber wie kommen wir dahin? Braucht es wirklich erst spektakuläre Prozesse und Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe wie in den USA, bevor sich das Klima wandelt?!

Wenn man berücksichtigt, dass Übergriffe dort besonders häufig vorkommen, wo ein großes Machtgefälle zwischen Tätern und Opfern herrscht, wenn man zudem bedenkt, dass eine Unternehmenskultur stets von der Spitze her geprägt wird, lautet meine Antwort: Wir brauchen Unternehmen, die "divers" sind. Unternehmen, in denen Frauen bis in die Spitze hinein ganz selbstverständlich auf allen Führungsebenen vertreten sind. Nicht, weil Frauen die besseren Menschen sind. Sondern weil Monokulturen in einseitigen Blickweisen verharren – und weil diese von inoffiziellen Netzwerken geprägt sind, in denen bemäntelt wird, was offen angesprochen und unterbunden werden müsste.

Deshalb: Weg mit den Monokulturen in den Chefetagen! Ein Klima, das von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt geprägt ist, nutzt nicht nur den Frauen im Betrieb, sondern auch all den Männern, die sich selbst Augenhöhe wünschen und die Herrenwitze schon lange nicht mehr witzig finden. Den meisten also.

Ursula von der Leyen

Der Text wurde zuerst veröffentlicht in dem EMMA-Buch bei KiWi: "Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf", Hrsg. Alice Schwarzer (8.99 €). Im EMMA-Shop kaufen

 

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