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Kopftuch: Doppelter Zwang

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Die Botschaften des Islamismus werden nicht mehr (oder kaum noch) von finsteren Rauschebärten verbreitet. Um Welten erfolgreicher sind darin verführerische Gestalten, die einen Diskurs voller Uneindeutigkeiten und dialektischer Schliche zu fabrizieren verstehen, um das System, das unsere Mütter einsperrte, attraktiv wirken zu lassen. Sie posieren vor der Smartphone-Kamera oder machen sorgfältig komponierte Selfies, um einen Islam ins beste Licht zu setzen, der ganz anders zu sein scheint als jener der zahnlosen und von der Sonne zerknitterten Großmütter, die uns hüteten, als wir kleine Kinder waren. 

Bei Instagram wimmelt es von „Hidschabistinnen“, die sich unentwegt mit ihren präzise gebundenen Kopftüchern ablichten. Sie verfallen dem Schlimmsten an der virtuellen „flüssigen Moderne“, dem Narzissmus; doch mit der Bedeutung des Symbols, das sie zur Schau stellen, setzen sie sich nicht wirklich auseinander. Sie hätten sich für das Tuch entschieden, sagen sie, um dem brutalen Druck zu entgehen, dem die Körper westlicher Frauen ausgesetzt seien. Und gerne lassen sie noch einen Satz der marokkanischen Schriftstellerin Fatima Mernissi folgen: „Die Kleidergröße 40 ist die Burka der westlichen Gesellschaft.“

Auf diese Weise wollen sie uns davon überzeugen, das Kopftuch bewahre sie vor dem gnaden­losen Räderwerk von Kontrolle und Zensur, in das die Werbeindustrie die westlichen Körper stürzt, und vor den rigiden Schönheitsvorschriften, denen zufolge „jedes Kilo zu viel“ ein Verbrechen ist. Eine verlockende Vorstellung.

Doch die Annahme, wir Töchter muslimischer Familien seien gegen diesen Druck gefeit, ist schlicht falsch. Dass du dein Haar verbirgst, heißt noch lange nicht, dass du frei bist von unbarmherzigen Normen für deine Anatomie. Das Stück Stoff auf deinem Kopf schützt dich nicht vor der anderen Art der Unterwerfung. Im Gegenteil: Wir akkumulieren den Druck.

Nirgends habe ich eine größere Obsession mit den eigenen Haaren erlebt als bei Frauen mit Kopftuch. Ein kurzer Blick auf irgendeine der Hidschab-Influencerinnen reicht aus, um zu erkennen: Sie sind besessen von ihrem Erscheinungsbild, sie begraben ihr Gesicht unter zig Schichten Schminke, um zu beweisen, dass sie beides zugleich sein können, hübsch und verhüllt, Musliminnen und topmodisch. Doch in Wahrheit ordnen sie sich zwei Patriarchaten zugleich unter – dem der ästhetischen Diktatur des Westens und dem des islamistischen Kopftuchs.

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Es handelt sich um ein postmodernes Phänomen: zu sagen, etwas sei nicht das, was es ist. Der Islam sei nicht sexistisch, auch wenn seine Texte eine Endlosschleife von Normen sind, um uns Frauen zu unterdrücken. Und das Kopftuch soll nicht nur eine freie Wahl sein (in Verleugnung der enormen Bedrängnis, der die Körper muslimischer Frauen ausgesetzt sind, gleich, ob in Marokko oder irgendwo in Europa), es wird als ein Instrument der Selbstermächtigung dargestellt, als Zeichen des identitären Widerstands.

Wenn ich Gelegenheit habe, mit jungen Frauen über dieses Thema zu sprechen, stelle ich ihnen eine Frage, die mir bislang keine von ihnen beantworten konnte: Warum musst du, und nur du, die muslimische Identität zur Schau stellen? Warum liegt es allein an dir, den Islam in der westlichen Gesellschaft sichtbar zu machen? 

Warum musst du deine Haare verstecken und dein Bruder nicht? Warum müssen Männer nicht überall, wo sie hingehen, ihre Identität zeigen? Wenn das Kopftuch Identität ist, dann ist es die Identität des Sexismus und nicht die der Frauen.    

Der Text ist ein Auszug aus „Wir wollen die ganze Freiheit!“ (orlanda, 17 €)

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