TIERRECHTE: Vom Tierschutz zum

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Vom Mitleiden zur Aktion schritten die Tierrechtlerinnen auch hierzulande in den letzten Jahren. Allen voran die Frauen. Was kein Zufall ist.

Die Sprecher der "biomedizinischen Wissenschaften" jammern zunehmend lauter über die (hoffentlich) geplante Änderung des Tierschutzgesetzes: Wenn das durchkäme, könnten sie gleich auswandern. Denn dann sei der Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland in akuter Gefahr!

Dass Forschung und Industrie überhaupt jammern müssen, ist der hartnäckigen Kleinarbeit von Tausenden. ja Hunderttausenden von Bürgerinnen zu danken. Die Tierversuchsgegnerinnen. die sich in Deutschland erst vor zehn Jahren zu organisieren begannen, haben das Thema, ganz ohne Werbeetat, an die Öffentlichkeit gezerrt und zu einem Politikum gemacht.

Allein in Deutschland werden alljährlich rund 2,5 Millionen Tiere für die Forschung gequält, gefoltert, getötet. So die offizielle Zahl. Die wahre Zahl schätzen Tierrechtler auf 10 Millionen das wären 30.000 täglich. Jüngst meldete Allensbach: JedeR zweite Deutsche ist gegen Vivisektion. 72 Prozent aller befragten Frauen lehnen Tierversuche für Kosmetik strikt ab. Und Medikamente, deren Erprobung auf Tierversuche  verzichtete, würden doppelt so viele Westdeutsche bevorzugen (38 Prozent) als Ostdeutsche (18 Prozent). Und in der Schweiz war bei einer Volksabstimmung 1993 fast ein Drittel der Bevölkerung (29 Prozent) für ein totales Verbot aller Tierversuche.

Tierfreunde, Tierschützer. Tierversuchsgegner, Tierrechtler, Natur- und Umweltschützer, Greenpeace. WWF und Brigitte Bardot - den Zeitungsleserinnen und Fernsehzuschauerinnen gerät das alles leicht durcheinander. und die Journalistinnen tun das Ihre dazu. die Begriffsverwirrung zu vergrößern. Die sprachliche Behandlung des Themas spiegelt die tatsächliche Verwirrung und die breite Skala heutiger Einstellungen von Menschen zu Tieren. Und: die männliche Sprache über "die Tierschützer" verdeckt, dass im "Tierschutz" hauptsächlich Frauen aktiv sind.

Der klassische Tierschutz, wie er im 19. Jahrhundert begann, war von Anfang an eine Domäne der Frauen. Er war im wesentlichen karitativer Natur, ein Feld. das den Frauen ohnehin überlassen war, da damit weder Geld noch Ehre zu holen war. Vor allem Frauen sind es, die unzähligen Tieren aus der schlimmsten Not geholfen, unzählige Leben gerettet haben. Es bleibt auch das unbestreitbare Verdienst des klassischen Tierschutzes und der Tierschutzvereine, dass die öffentlich sichtbare Grausamkeit gegen Tiere, wie sie in Südeuropa und auf anderen Kontinenten noch immer zum Alltag gehört, auf unseren Straßen verschwunden ist.

Wenn heute jemand seinen Hund auf offener Straße schlägt oder ihn im heißen Auto warten lässt, läuft gleich das ganze Viertel zusammen. Und weniges hat die breite Bevölkerung so aufgeregt wie die Berichte darüber, dass der feine Reitersmann und Olympiasieger Schockemöhle seine Pferde durch "Barren", also Stockschläge auf die Beine trainiert. Keine Schlagzeilen machte es hingegen, dass derselbe Herr Schockemöhle kürzlich daran ging. in Mecklenburg eine Legebatterie für Millionen Hühner zu errichten (was immerhin verhindert werden konnte). Dieses Beispiel zeigt die Grenzen des traditionellen Tierschutzes. Den ins Gigantische gewachsenen Tierproblemen der Industriegesellschaft ist er nicht gewachsen.

Wir da oben, ihr da unten - an diesem Wertsystem haben die Tierschützerinnen der herkömmlichen Art nie gerüttelt. Und genau hier setzt ein neues Denken an, das im deutschsprachigen Raum erst vor zehn, fünfzehn Jahren begann, im angelsächsischen schon Jahrzehnte früher. Dort heißt es schon lange "Animal Rights Movement", hier hat sich in den letzten Jahren der Begriff "Tierrechtsbewegung" eingebürgert.

Längst aber sind auch viele deutsche Tierschützerinnen in Wahrheit kämpferische Tierrechtlerinnen. So die "Autonomen Tierschützer", die Hochsitze umsägen oder wie im Juli 93 beim Militaryreiten Buttersäure auf die Zuschauertribüne in Luhmühlen gießen.

Gleichzeitig wächst nicht nur die Zahl der Vegetarier, sondern sogar die der "Veganer", der strengste Flügel der Vegetarier. Veganerinnen bemühen sich. überhaupt keine Produkte tierlicher Herkunft zu essen oder zu benutzen. Fleisch sowieso nicht, auch nicht als gekörnte Brühe in der Kartoffelsuppe versteckt. Aber auch keine Milchprodukte, keinen Honig, keine Wolle, keine Seife und selbstverständlich kein Leder, nicht mal als Gürtelschlaufe.

Doch bedrückende Realität ist: In keinem Land der Erde wird (pro Kopf) soviel Fleisch gegessen wie. in Deutschland. Jahr für. Jahr müssen dafür ihr Leben lassen: 40 Millionen Schweine, 40 Millionen Hühner und eine Million Kälber dazu kommen Millionen Rinder und Lämmer und Tausende von Rehen. Hirschen. Wildschweinen, Hasen, Rebhühnern usw. Die meisten Tiere kommen aus der sie quälenden und verstümmelnden Massentierhaltung, wo die Hälfte der Weltproduktion der Antibiotika für die Mast verwendet wird.

Das Neue an der Tierrechtsbewegung ist die Einstellung, dass Tiere Lebewesen mit eigenen elementaren Rechten sind und nicht beliebig verfügbare Objekte im Dienst des Menschen. Zuende gedacht ist dieser Gedanke wahrhaft umstürzlerisch. Denn fast die gesamte menschliche Zivilisation beruht ja auf der Versklavung und Entrechtung der Tiere.

Seit etwa 1978 hat sich der "neue Tierschutz" zum Tierrechtsdenken entwickelt. In Deutschland löste ein unscheinbares 100-Seiten-Buch des Ehepaars Dr. Margot und Dr. Herbert Stiller, beide Fachärzte für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. das erstmals dem vagen Unbehagen über Tierversuche fundierte Argumente bot, eine Springflut von Bürgerinitiativen aus, Titel: "Tierversuch und Tierexperimentator". Bis dahin war nur gerüchteweise etwas von "grausamen Tierversuchen" an die deutsche Öffentlichkeit gedrungen. Man/frau war geneigt, dies als Horrorphantasien zu verdrängen.

Die Bürgerinnen eines Landes, das Krieg und Nazizeit hinter sich gebracht hatte, waren mit dem Wiederaufbau und den diversen Fress-, Einrichtungs- und Reisewellen so beschäftigt, dass sie die Entstehung der neuen Barbarei schlicht übersahen und ohne Aufsehen in den Nachkriegsjahrzehnten eine Unzahl von Tierversuchslaboratorien, Massentierhaltungen und Pelztierzuchtanstalten aufgebaut werden konnten. Genauer gesagt: Tier-KZs. Auch die 68er-Bewegung nahm die Tiere nicht wahr. sowenig wie die Frauen (obwohl die Mentoren der Bewegung, Adorno und Horkheimer. zumindest zum Tierrecht Hervorragendes geschrieben haben).

Der Schock, den die Berichte. Zahlen und Bilder über Tierversuche dann bewirkten, war groß. Ich selbst erinnere mich genau an die erste Zahl. die mich 1982 elektrisierte: Sechs Millionen Tierversuche jährlich in der Bundesrepublik. Der Gedanke an sechs Millionen ermordeter Juden war zwingend für mich. Und die äußeren Ähnlichkeiten der modernen Tiervernichtungsanstalten mit KZs wird niemand bestreiten können. Es gibt alles von der Massenfolter bis zu den Vergasungsöfen und Krematorien, einschließlich der ordentlichen Buchführung.

Übrigens mit der gleichen Begründung: Es diene dem Wohl der Menschheit. Nur ein bisschen schicker ist alles geworden. mit viel Chrom und HighTech. Die Opfer aber sind noch immer aus Fleisch und Blut. Manche stiegen gleich in die direkte Aktion ein und befreiten Tiere aus Labors, aus der Vorratshaltung von Versuchtierhändlern und bald auch aus Pelz"farmen". Das brachte Schlagzeilen.

Reporterinnern stürzten sich auf die neue Erscheinung, wenn sie auch oft von "Befreiung" in Anführungsstrichen ' schrieben, die Befreierinnen als Einbrecher titulierten und den "Bestohlenen" das letzte Wort gaben etwa dass nun 300.000 Epileptiker in Deutschland nicht geheilt werden könnten, weil elf Katzen aus dem Max-Planck-Institut in München verschwunden waren (Epilepsieversuche mit Katzen werden seit Jahrzehnten gemacht, ohne dass je ein wirksames Medikament entdeckt worden wäre).

Trotzdem war die Sympathie mit den Tierbefreiungen in der Bevölkerung unübersehbar. Überall gründeten sich Bürgerinitiativen. Sie machten Demonstrationen, Fackelzüge. Mahnwachen, Gottesdienste, Vorträge. Podiumsdiskussionen. Informationsstände. Sie griffen die Aktionsformen der Suffragetten und Frauenrechtlerinnen auf. So kettete sich Barbara Rütting mit Gleichgesinnten vor den Werkstoren von Schering in Berlin an. Blockaden, Transparente auf Rathaustürmen Tierbefreiungen und Demonstrationen kennzeichnen die 80er Jahre.

Wie ungeheuer mühsam es ist, auch nur ein Tier zu retten, das in die "Folterkammern der Wissenschaft" geraten ist, lässt sich an einem Beispiel aus Berlin zeigen. Jahrelang bekämpften die Tierversuchsgegner Berlin die grauenhaften Versuche zweier Professoren an Affenhirnen, indem sie massenhaft Stoffaffen und Spielzeugtiere an den Gesundheitssenator schickten, hatte zur Folge, dass Senator Luther die weitere Genehmigung dieser Versuche verweigerte. Die Professoren gingen vor Gericht und bekamen in zweiter Instanz recht. Freiheit der Wissenschaft. Einer von den beiden gab aber genervt von selbst auf, tötete die schon halbtotgequälten Affen und überließ drei noch lebensfähige den Tierversuchsgegnern Berlin, die sie gesund pflegten.

Von ihrer anfänglichen Fixierung auf Tierversuche hat sich die neue Bewegung in schnellem Tempo auf alle anderen Gebiete ausgedehnt, auf denen Tiere zu Opfern werden. Massentierhaltung und Pelz sind die Themen der zweiten Stunde. Es folgen Zirkus. Delphinarien. Jagd. Zoohandel und Militaryreiten, neuerdings Zoo und Schlachthof.

Besonders wirkungsvoll arbeiten reine Tierversuchsgegnergruppen wie die "Tierversuchsgegner Nordrhein-Westfalen", die Hamburger "Bürger gegen Tierversuche" mit ihrer offensiven Leiterin Simone Runde oder der Wiener "Internationale Bund der Tierversuchsgegner". So attackieren die Hamburgerinnen mit gezielten Kampagnen die Universitätskliniken Eppendorf. indem sie konkrete Versuche und Professoren anprangern und damit die Studentinnen sensibilisieren.

Tierbefreiungen sind selten geworden. da die Sicherheitsmaßnahmen enorm verstärkt wurden. Dafür ist Jagdsabotage im Kommen: die Störung von Jagden durch Herumlaufen und Krachmachen. Die Tiere entkommen. und die Jäger ärgern sich grün. Aber die lassen nicht mit sich spaßen, in England sind schon zwei Jagdsaboteure ("Huntsabs") unter Jägerwagen zu Tode gekommen.

Das aktuelle Hauptanliegen deutscher Tierrechtler ist die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz. Es droht, an der CDU/CSU zu scheitern. Eine weitere Forderung ist die Einsetzung unabhängiger Tierschutzbeauftragter. Das Umdenken haben die Tierrechtlerinnen in Gang gesetzt, die Umsetzung fällt noch schwer.

In allen Tierrechtsbewegungen stehen Frauen in der ersten Linie. In England und Amerika haben auch Feministinnen längst erkannt, dass die Sache der Tiere auch Sache der Frauen ist. Wer von Frauenhass redet. kann den Tierhass nicht ignorieren.

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EMMA Kampagne Tierrechte

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