Wir haben unser Bestes getan!

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Der jüngste Anrufer war sechs, die älteste Anruferin 89 Jahre alt. Insgesamt waren es über 11000 Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, die zwischen Mai 2010 und März 2011 die Nummer der Hotline wählten, die Christine Bergmann sofort nach ihrer Berufung zur „Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“ einrichten ließ.

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Die AnruferInnen berichteten von dem Schrecklichen, das ihnen passiert war. Fast jedeR Dritte sprach zum ersten Mal in seinem bzw. ihrem Leben über den Missbrauch, der oft schon Jahrzehnte zurück lag und trotzdem immer noch schwer auf ihnen lastete. Am anderen Ende der Leitung saßen PsychologInnen oder PädagogInnen, und sie vermittelten die AnruferInnen nicht nur an Beratungsstellen, sondern fragten sie auch, was sich ­ändern muss. Was passieren muss, damit Kinder, denen sexuelle Gewalt angetan wird, schneller und bessere Hilfe erhalten. Und damit Erwachsene, denen „es“ passiert ist, die Möglichkeit bekommen, das Trauma zu verarbeiten.

Andere Betroffene schrieben Briefe an die Missbrauchs-Beauftragte. Es waren über 2000, und Christine Bergmann hat sie alle gelesen. Was in diesen Briefen stand, „übersteigt mein Vorstellungsvermögen“, sagt sie. Bergmann traf sich mit ­Selbst­hilfegruppen und Betroffenen-Initiativen; sie ließ 2500 TherapeutInnen und 1300 Beratungsstellen befragen; sie startete eine anonyme Erhebung an Schulen, Internaten und Heimen: Wie häufig wurden Missbrauchsfälle bekannt und wie ist die jeweilige Institution damit umgegangen?

Jetzt hat die Missbrauchs-Beauftragte (unter Gerhard Schröder Ministerin für „Frauen und Gedöns“) nach einem Jahr Arbeit ihren Abschlussbericht vorgelegt: ein telefonbuchdicker Katalog mit Empfehlungen an den Runden Tisch. „Ein großartiges Dokument!“ jubelt Ursula Enders, die als Mitbegründerin der Organisation „Zartbitter“ seit 1987 Missbrauchsopfer berät. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass in Deutschland die Belange der Betroffenen einmal so genau und umfassend formuliert werden.“

Dabei ist die viel debattierte Frage nach finanzieller Entschädigung derjenigen, die in Kirchen oder Heimen Opfer von sexuellem Missbrauch wurden, nur eine von vielen. Zunächst widmet sich Bergmann den unzureichenden Hilfsangeboten. Hier liegt vieles im Argen: Opfer warten zu lange auf Therapieplätze. Mindestens drei Monate beträgt die Wartezeit, nicht selten dauert es aber auch bis zu einem Jahr, bis ein Opfer mit der Aufarbeitung des Erlittenen beginnen kann. „Das ist, als ob man ein Kind nach einem Autounfall blutend auf der Straße liegen lässt und sagt: ‚In drei Monaten bekommst du einen Verband‘“, klagt Zartbitter-Beraterin Ursula Enders.

Aber auch für erwachsene Frauen oder Männer, die, oft nach langen und schmerzlichen Prozessen, an den Punkt gelangen, sich dem Schmerz zu stellen, ist das lange Warten kaum zumutbar. Hinzu kommt der Kampf um die Kostenübernahme. Oft reichen die Stundenkontingente, die die Krankenkassen finanzieren, nicht aus, denn Missbrauchsopfer entwickeln oft ­besonders schwere Symptome wie Angst- und Zwangsstörungen, Essstörungen oder Depressionen, bis hin zur Suizidalität. „Erforderlich ist deshalb eine Erweiterung der Stundenkontingente in der Regelversorgung, insbesondere für komplex traumatisierte Betroffene“, fordert die Missbrauchs-Beauftragte. Außerdem müssten die Krankenkassen in diesen Fällen auch spezielle traumatherapeutische Verfahren in ihren Leistungskatalog aufnehmen.

Für viele Opfer scheitert eine Therapie aber schon daran, dass es in ihrer erreichbaren Umgebung schlicht keine qualifizierte therapeutische Hilfe oder Beratungsstelle gibt. Zum Beispiel in ländlichen Gebieten. Auch spezialisierte Angebote für Jungen und Männer, alte Frauen oder Migrantinnen und ihre Töchter fehlen. „Diese Versorgungslücken müssen geschlos­sen werden.“

Manchmal verbirgt sich die massive Kritik an den Zuständen hinter einer recht bürokratisch geratenen Formulierung. „Beratungsangebote für von sexuellem Missbrauch Betroffene sollten keiner engen zeitlichen Beschränkung unterliegen“, steht dort mit Blick auf die chronisch überlaufenen und unterfinanzierten Beratungsstellen, die manchmal nur wenige Stunden Hilfe pro Woche anbieten können. Wenn man Christine Bergmann persönlich nach diesem Missstand fragt, wird sie deutlicher: „Es kann nicht sein, dass die Beratungsstellen jedes Jahr wieder darum kämpfen müssen, dass ihre Arbeit irgendwie weitergehen kann!“

Weil sich aber Bund, Länder und Kommunen den Schwarzen Peter für die Finanzierung der Beratungsstellen gern gegenseitig zuschieben und die Angebote immer wieder den klaffenden Haushaltslöchern zum Opfer fallen, empfiehlt die Missbrauchsbeauftragte die „verbindliche Verankerung einer öffentlichen Finanzierung spezieller Beratungsangebote für Kinder und Erwachsene“. Für Kinder fordert Bergmann einen eigenen „Rechtsanspruch auf Beratung“. Das bedeutet: Die Regierung müsste endlich tun, was die Beraterinnen an der Basis seit Jahren fordern: ein Gesetz erlassen, das die Hilfe für Opfer sexueller Gewalt zur Pflichtaufgabe macht. Bisher ist sie lediglich eine „freiwillige Leistung“.

Ein Schritt, den die Bundesjustizministerin bereits getan hat, ist die Verlängerung der Verjährungsfrist im Zivilrecht. Bisher kann ein Opfer den Täter nur drei Jahre nach Vollendung des 21. Lebensjahrs belangen und eine finanzielle Entschädigung von ihm einklagen. Diese Frist ist viel zu kurz, beklagen Opfer und Beraterinnen schon lange. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat nun das „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs“ (StORMG) vorgelegt, in dem die Verjährungsfrist auf 30 Jahre verlängert werden soll.

Die Frage, ob und wie die heute ­Erwachsenen, die als Kinder nicht zu Hause oder im Park, sondern in Heimen, Internaten und Beichtstühlen missbraucht wurden, entschädigt werden können, spielt natürlich auch im Bergmann-Bericht eine Rolle. Die Missbrauchsbeauftragte lehnt es allerdings ab, Entschädigung nur für diejenigen zu fordern, die in Institutionen Opfer wurden. Sie will auch den Missbrauch berücksichtigt wissen, der in der Familie begangen wurde. Denn über die Hälfte der 13000 Menschen, die sich bei der Hotline meldeten oder schrieben, berichteten über Väter, Onkel oder Großväter als Täter.

Frauen, so ergab die Auswertung, wurden häufig in ihrer Familie missbraucht, Männer in Institutionen wie Kirche oder ­Internaten. Als der Runde Tisch und die Missbrauchsbeauftragte ihre Arbeit begannen und die katholische Kirche und die Odenwaldschule die Schlagzeilen ­beherrschten, hatten sich zunächst mehr Männer zu Wort gemeldet. Im Herbst 2010 startete dann die TV-Kampagne „Sprechen hilft – Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter“. Sie ermutigte auch Frauen, ihre Erlebnisse zu benennen. Bis März 2011 war ihr Anteil schließlich auf zwei Drittel gestiegen.

Christine Bergmann schlägt nun angesichts des Ausmaßes des Missbrauchs in Familien vor, ein „Gemeinsames Hilfe­system Rehabilitation“ einzurichten: einen Fonds, in den alle einzahlen. Heime, ­Internate, Kirchen ebenso wie der Bund, der damit Wiedergutmachungen für Opfer familiären Missbrauchs übernehmen würde. Das gilt allerdings nur für Ansprüche, bei denen das Opfer den Täter nicht mehr belangen kann. Eine so genannte „Clearingstelle“ soll die Ansprüche der AntragstellerInnen prüfen.

Damit sexueller Missbrauch in Zukunft gar nicht erst passieren kann, macht Bergmann auch Vorschläge zur Präven­tion. Dazu ­gehört zum Beispiel, dass Pädagogen, die beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern arbeiten, ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen.

„Christine Bergmann hat sich immer wieder beraten lassen und unglaublich gut zugehört“, berichtet Ursula Enders. „Immer wieder höre ich von Betroffenen den Satz: ‚Diese Frau hat uns verstanden.‘“ Nun ist die Frage: Verstehen die Empfänger der Empfehlungen ebenfalls – der Runde Tisch und die zuständigen Ministerien? Und werden sie die Empfehlungen in Taten und Gesetze umsetzen?

„Das ist die Gretchenfrage, die sich uns allen stellt“, sagt Julia von Weiler, Geschäftsführerin der Kinderschutzorgani­sation „Innocence in Danger“. Was die Missbrauchsbeauftragte und ihr Team ­erarbeitet haben, sei in der Tat „­groß­artig“. Dennoch ist die Psychologin skeptisch. „Diese Forderungen sind nicht neu. Der Bericht untermauert viel mehr das, was Opferschutzorganisationen schon seit Jahren fordern.“ Schon 2003 habe sich der Bund in seinem Aktionsplan gegen ­sexuellen Missbrauch auf viele dieser Ziele verpflichtet. Umgesetzt sind die wenigsten. Deshalb plädiert von Weiler für Druck. „Es muss eine gesetzliche Verpflichtung geben, Beratung zu finanzieren. Und es sollte nicht mehr zehn Jahre dauern, bis dieses Gesetz verabschiedet wird.“

Noch ist nicht einmal sicher, ob Christine Bergmanns Task Force erhalten bleibt, um weiterhin Anlaufstelle für Betroffene zu sein. „Wir haben unser Bestes getan“, sagt die Missbrauchsbeauftragte. „Aber es müssen noch sehr viele ihr Bestes tun, damit wir mit dem Problem weiterkommen.“

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Info
Hotline: 0800-22 55 530 (kostenfrei)
www.beauftragte-missbrauch.de

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