Über die Dekonstruktion der Geschlechter

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Die Zwangsheterosexualität setzt sich selbst als das Original, das Wahre, das Authentische. Die Norm, die das Reale bestimmt, impliziert, Lesbisch-"Sein" sei immer eine Art Nachahmung, ein vergeblicher Versuch, an dem unfaßlichen Überfluß naturalisierter Heterosexualität Anteil zu haben; ein Versuch, der immer und in jedem Fall fehlschlagen wird. Und obwohl die Idee der Mimesis nahelegt, daß es zunächst ein Modell geben muß, das kopiert wird, kann die Mimesis auch bewirken, daß dieses a priori vorhandene Modell als rein phantasmagorisch entlarvt wird.

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So kann ich mich noch genau erinnern, wie ich in Esther Newtons "Mother Camp: Female Impersonators in America" (1972) zum ersten Mal las, daß Travestie keine Imitation oder Kopie einer a priori existierenden und wahren Geschlechtsidentität ist. Nach Newton inszeniert die Travestie genau jene Struktur der Nachahmung, mit der jede Geschlechtsidentität angenommen wird.

Travestie ist nicht das "Übernehmen" einer Geschlechtsidentität, die eigentlich einer anderen Gruppe gehört, das heißt kein Akt der Expropriation oder Appropriation, der voraussetzt, daß Geschlechtsidentität eine rechtmäßige Eigenschaft des Geschlechts ist, daß "maskulin" zu "männlich" und "feminin" zu "weiblich" gehört. Es gibt keine "richtige" Geschlechtsidentität, eine, die zu dem einen statt zu dem anderen Geschlecht gehören würde und die, in welchem Sinne auch immer, dessen kulturelles Eigentum wäre.

Wo diese Vorstellung des "Richtigen" operiert, da wird sie immer, und jeweils unrichtigerweise, als Effekt eines Zwangssystems eingesetzt. Die Travestie konstituiert die profane Form, in der Geschlechtsidentitäten appropriiert, theatralisiert und angelegt werden; sie impliziert, daß jedes "Gendering", jedes Spiel mit der Geschlechtsidentität, eine Form der Darstellung und der Annäherung ist. Wenn das stimmt, so scheint es, dann gibt es keine durch die Travestie imitierte originäre oder primäre Geschlechtsidentität, sondern die Geschlechtsidentität selbst ist eine Imitation, zu der es kein Original gibt.

Mit anderen Worten: die naturalistischen Effekte heterosexualisierter Geschlechtsidentitäten werden durch Imitationsstrategien produziert. Die Heterosexualität befindet sich immer im Prozeß der Imitation der phantasmagorischen Idealisierung ihrer selbst und der Annäherung an sie - und sie scheitert daran. Gerade weil sie scheitern muß und doch erfolgreich sein will, wird das Projekt der heterosexuellen Identität in eine endlose Wiederholung seiner selbst getrieben.

Mit anderen Worten: obligatorische heterosexuelle Identitäten, jene ontologisch gefestigten Phantasmen "Mann" und "Frau", sind theatralisch produzierte Effekte, die als Grundlagen, als Originale, als normatives Maß des Realen posieren.

Betrachten wir also den homophoben Vorwurf, Tunten und butches und femmes seien Imitationen des heterosexuellen Realen. Der Begriff "Imitation" wird hier im Sinne von "abgeleitet" oder "sekundär" gebraucht, im Sinne der Kopie eines Originals, das selbst Grundlage aller Kopien ist, aber selbst keine Kopie von etwas ist. Diese Auffassung eines "Originals" ist logisch zweifelhaft, denn wie kann etwas als Original funktionieren, wenn es keine sekundären Konsequenzen gibt, die seine Originalität rückwirkend bestätigen?

Das Original braucht seine Ableitungen, um sich als Original zu bestätigen, denn Originale sind nur insoweit sinnvoll, als sie sich von dem unterscheiden, was sie als Ableitungen produzieren. Wenn es also die Vorstellung der Homosexualität als Kopie nicht gäbe, dann hätten wir auch keine Konstruktion von Heterosexualität als Original. Heterosexualität setzt Homosexualität hier voraus. Und wenn das Homosexuelle als Kopie dem Heterosexuellen als Original vorausgeht, dann ist es nur fair zuzugeben, daß die Kopie vor dem Original kommt und daß Homosexualität daher das Original ist und Heterosexualität die Kopie.

Tatsächlich sind so einfache Umkehrungen nicht möglich. Denn man kann nur sagen, daß Homosexualität als Kopie der Heterosexualität als Original vorausgeht. Mit anderen Worten, das gesamte Gerüst von Kopie und Original erweist sich als extrem instabil, da jede Position in die andere invertiert, sich umkehrt und damit die Möglichkeit einer stabilen Verortung der zeitlichen oder logischen Priorität einer der beiden Begriffe vereitelt.

Wir wollen diese problematische Inversion jedoch aus einer psychisch-politischen Perspektive heraus betrachten. Wenn die Struktur der Imitation der Geschlechtsidentität so beschaffen ist, daß das Imitierte bis zu einem gewissen Grad durch die Imitation erst produziert - oder besser gesagt: reproduziert - wird, dann bedeutet die Behauptung, schwule und lesbische Identitäten seien in heterosexuellen Normen oder in die hegemoniale Kultur allgemein verwickelt, nicht, daß Schwul- oder Lesbisch-Sein vom Hetero-Sein abgeleitet wird. Im Gegenteil, durch Imitation wird nicht kopiert, was bereits vorhanden ist, sondern werden die Begriffe der Priorität und des Abgeleitetseins selbst erst produziert und invertiert.

Wenn Heterosexualität eine unmögliche Imitation ihrer Selbst ist, eine Imitation, die sich selbst performativ als Original konstituiert, dann ist die imitative Parodie der "Heterosexualität" (falls sie und überall, wo sie in schwulen oder lesbischen Kulturen existiert) immer und lediglich die Imitation einer Imitation, die Kopie einer Kopie, von der es kein Original gibt. Die Tatsache, daß Heterosexualität immer dabei ist, sich selbst zu erklären, ist ein Indiz dafür, daß sie ständig gefährdet ist, das heißt, daß sie um die Möglichkeit des eigenen Kollapses "weiß": daher ihr Wiederholungszwang, der zugleich ein Verwerfen dessen ist, was ihre Kohärenz bedroht.

Daß sie dieses Risiko niemals beseitigen kann, bezeugt ihre tiefgreifende Abhängigkeit von der Homosexualität, die sie völlig auszulöschen versucht (aber nicht auslöschen kann) oder die sie zweitrangig machen will, die jedoch als a priori existierende Möglichkeit immer schon da ist.

Ich will damit nicht andeuten, Travestie sei eine "Rolle", die willkürlich angenommen oder abgelegt werden kann. Hinter der Mimesis gibt es kein willensbegabtes Subjekt, das sozusagen beschließt, welche Geschlechtsidentität es heute haben wird. Im Gegenteil erfordert gerade die Möglichkeit, ein intelligibles Subjekt zu werden, daß eine bestimmte Mimesis der Geschlechtsidentität schon im Gange ist. Das "Sein" des Subjekts ist nicht stärker mit sich selbst identisch als das "Sein" einer Geschlechtsidentität; mehr noch: Eine kohärente Geschlechtsidentität, die durch die scheinbare Wiederholung ihrer Selbst erzielt ist, produziert als ihren Effekt die Illusion eines a priori existierenden und willensbegabten Subjekts.

In diesem Sinne ist Geschlechtsidentität nicht eine Performanz, die zu vollziehen sich ein vorher bestehendes Subjekt erwählt, sondern sie ist performativ in dem Sinne, daß sie das Subjekt, das sie zu verwirklichen scheint, als ihren eigenen Effekt erst konstituiert. Eine obligatorische Performanz ist sie in dem Sinne, daß den heterosexuellen Normen zuwiderlaufende Handlungen Ächtung, Bestrafung und Gewalt mit sich bringen - vom Genuß der Übertretung, den eben diese Verbote mit sich bringen, ganz zu schweigen.

Es stimmt nicht, daß es eine Art Geschlecht (sex) gibt, das in verschwommener biologischer Form existiert, die sich irgendwie durch den Gang, die Haltung, die Gestik ausdrückt, und daß die Sexualität der betreffenden Person dann diese scheinbare Geschlechtsidentität bzw. jenes mehr oder weniger magisch vorhandene Geschlecht ausdrückt. Wenn Geschlecht gleich Travestie ist und eine Imitation, die regelmäßig das Ideal, dem sie nahezukommen sucht, produziert, dann ist es auch eine Performanz, die die Illusion eines inneren Geschlechts, einer Essenz oder eines psychischen Kerns erst produziert.

Auf der Oberfläche produziert sie die Illusion einer inneren Tiefe durch Gestik, Bewegung, Gang (jenes Arsenal körperlicher Requisiten also, die wir als Darstellung der Geschlechteridentität verstehen). Als Folge davon werden Geschlechtsidentitäten naturalisiert, indem sie zum Beispiel als innere psychische Notwendigkeit konstruiert werden. Trotzdem ist es immer ein Zeichen an der Oberfläche - eine Bezeichnung auf dem und mit dem öffentlich sichtbaren Körper - das diese Illusion einer inneren Tiefe, Notwendigkeit oder Essenz produziert, die irgendwie magisch und kausal verwirklicht wird.

Obwohl die Zwangsheterosexualität oft suggeriert, es gebe zunächst ein Geschlecht, das sich in einer Geschlechtsidentität und dann in einer Sexualität ausdrückt, kann es sein, daß wir diesen Denkvorgang an diesem Punkt vollständig umkehren und modifizieren müssen. Wenn ein Sexualitätsregime die obligatorische Performanz des Geschlechts verfügt, so ist es möglich, daß das binäre System der Geschlechtsidentität und das binäre System des Geschlechts nur durch diese Performanz überhaupt erst verständlich werden.

Der Text ist ein Auszug aus dem Aufsatz "Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität", erschienen in der von Sabine Hark herausgegebenen Sammlung "Grenzen lesbischer Identitäten" (Quer Verlag). - Übersetzung: Claudia Brusdeylins.

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1991 erschien von Judith Butler "Gender Trouble", zuletzt "Hass spricht. Zur Politik des Performativen" (Berlin Verlag).

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