Shirin Ebadi: Ich habe keine Angst

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Im Herbst 2000, beinahe ein Jahrzehnt nachdem ich meine Arbeit als Anwältin aufgenommen und damit begonnen hatte, vor den Gerichten des Irans Gewaltopfer zu verteidigen, durchlebte ich die zehn quälendsten Tage meines Lebens. Die Fälle, mit denen ich es normalerweise zu tun hatte – misshandelte Kinder, missbrauchte Ehefrauen, politische Gefangene –, führten mir täglich menschliche Grausamkeit vor Augen, doch bei dem Fall, um den es nun ging, hatte ich es mit einer Bedrohung ganz anderer Art zu tun.

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Die Regierung hatte vor kurzem eine Mittäterschaft bei den Ende der Neunzigerjahre vorsätzlich verübten Morden an Dutzenden von Intellektuellen eingestanden. Einige waren erdrosselt worden, andere waren in ihren Häusern erschlagen worden. Ich vertrat die Familien von zweien der Opfer und wartete darauf, die Akten der richterlichen Ermittlungen einsehen zu können.
Der vorsitzenden Richter hatte den Anwälten der Opfer nur zehn Tage Zeit gegeben, die gesamte Akte zu lesen – nur zehn Tage – die unsere einzige Chance waren, Beweismaterial zusammenzutragen. Die Versuche, die Beteiligung des Staates zu verschleiern, der mysteriöse Selbstmord eines Hauptverdächtigen im Gefängnis, all das machte es uns noch schwerer, zu rekonstruieren, was tatsächlich geschehen war: von den fatwas, religiösen Edikten, die die Morde anordneten, bis zur Hinrichtung der Betroffenen. Es hätte nicht mehr auf dem Spiel stehen können.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Islamischen Republik hatte der Staat zugegeben, seine Kritiker ermordet zu haben, und zum ersten Mal sollte ein Prozess stattfinden, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Regierung selbst hatte zugegeben, dass eine Gruppe eigenmächtig handelnder Mitarbeiter des Informationsministeriums für die Morde verantwortlich sei, doch der Fall war bislang noch nicht vor Gericht gekommen.

Nachdem wir den Umfang der Akten gesehen hatten – mannshohe Berge -, war uns klar, dass wir sie gleichzeitig würden lesen müssen. Ich las langsam und konzentriert die Abschrift einer Unterhaltung zwischen einem Regierungsminister und einem Mitglied des Todeskommandos. Als mein Blick auf den Satz fiel, der mich viele Jahre lang verfolgen sollte, glaubte ich zunächst, mich verlesen zu haben. Ich blinzelte einmal, doch der Satz stand noch immer da: "Die nächste Person, die getötet werden soll, ist Shirin Ebadi." Ich.
Ich las diese Zeile immer und immer wieder. Die gedruckten Wörter verschwammen vor meinen Augen. Die einzige weitere Frau im Raum, Parastou Forouhar, deren Eltern zu den Ersten gehört hatten, die in ihrem Teheraner Haus mitten in der Nacht getötet – erstochen und verstümmelt – worden waren, saß neben mir. Ich fasste sie am Arm und deutete mit dem Kopf auf die vor mir liegende Seite.

"Hast du das gelesen? Hast du das gelesen?", flüsterte sie immer wieder.Wir lasen gemeinsam weiter, lasen, wie der Mann, der mein Mörder werden wollte, zum Informationsminister ging und um die Erlaubnis bat, mich ermorden zu dürfen. Nicht im Fastenmonat Ramadan (im persischen Tamazan), hatte der Minister geantwortet, aber jederzeit danach. Aber sie fasten doch sowieso nicht, hatte der Söldner argumentiert, diese Leute haben sich von Gott abgewandt. Dieses Argument – dass die Intellektuellen, dass ich, mich von Gott abgewandt hätte -, diente ihnen dazu, die Morde als ihre religiöse Pflicht zu rechtfertigen. Es ist halal, von Gott gestattet, unser Blut zu vergießen.

In diesem Moment öffnete sich knarrend die Tür. Wir bekamen noch einmal Tee, der zwar nach nichts schmeckte, uns aber wach hielt. Ich lenkte mich damit ab, die vor mir liegenden Papiere neu zu ordnen, völlig benommen von dem , was ich gelesen hatte. Ich hatte keine Angst, wirklich nicht, und ich war auch nicht wütend. Ich erinnere mich vor allem an das überwältigende Gefühl, es nicht glauben zu können. Warum hassen sie mich so sehr? fragte ich mich. Was habe ich getan?

Wir sprachen damals nicht sofort darüber. Wir konnten es uns nicht erlauben, die begrenzte, kostbare Zeit, die uns für das Studium der Akten zu Verfügung stand, zu vergeuden. Ich nippte an meinem Tee und las weiter, obwohl meine Finger wie gelähmt waren und ich nur mit Mühe die Seiten umblättern konnte. Gegen zwei Uhr hörten wir auf, und erst dann, während wir über den Hof nach draußen gingen, erzählte ich es den anderen Anwälten. Sie schüttelten den Kopf und murmelten "Alhamdulellah": Gott sei Dank, dass ich im Unterschied zu den Opfern der Familien, die wir verteidigten, dem Tod entkommen war.

Ich nahm ein Taxi und ließ mich vom Rütteln des staubigen Wagens einlullen, bis wir mein Haus erreichten. Ich rannte hinein, zog mich aus und blieb eine Stunde lang unter der Dusche, ließ das kalte Wasser an mir herabströmen, damit es den Schmutz dieser Akten wegwusch, der sich in meinem Kopf und unter meinen Fingernägeln eingenistet hatte. Erst nach dem Abendessen, nachdem meine Töchter ins Bett gegangen waren, erzählte ich es meinem Mann: "Heute ist mir bei der Arbeit etwas Interessantes passiert", begann ich.
Die "Einladung" zum Kopftuch war die erste Warnung, dass diese Revolution ihre Schwestern fressen könnte. Schwestern, so hatten die Frauen einander in der Zeit genannt, in der sie für den Sturz des Schahs agitierten.

Stellen Sie sich folgende Szene nur wenige Tage nach dem Sieg der Revolution vor: Ein Mann namens Fathollah Bani-Sadr wurde zum vorläufigen Leiter des Justizministeriums ernannt. Voller Stolz überfielen ihn ein paar von uns an einem klaren, windigen Nachmittag in seinem Büro, um ihm zu gratulieren. Wir marschierten hinein, man wechselte herzliche Begrüßungsworte und blumige Glückwünsche. Dann fiel Bani-Sadrs Blick auf mich. Ich ging davon aus, dass er mir vielleicht danken oder zum Ausdruck bringen würde, wie viel es ihm bedeutetet, dass eine engagierte Richterin wie ich die Revolution unterstützt hatte.

Stattdessen sagte er: "Finden Sie nicht, dass es aus Hochachtung vor unserem geliebten Imam Khomeini, der den Iran mit seiner Rückkehr beehrt hat, besser wäre, wenn Sie ihr Haar bedecken würden?"

Ich war schockiert. Da standen wir im Justizministerium, nachdem eine veraltete Monarchie durch einen Volksaufstand abgesetzt und durch eine moderne Republik ersetzt worden war, und der neue Leiter des Justizministeriums sprach über mein Haar. Mein Haar!

"Ich habe noch nie im Leben ein Kopftuch getragen", sagte ich. "Es wäre scheinheilig, jetzt damit anzufangen." - "Dann heucheln Sie nicht, sondern tragen Sie es aus Überzeugung!", erwiderte er. - "Hören Sie, was soll das?", entgegnete ich. "Man sollte mich nicht zwingen, einen Schleier zu tragen, und wenn ich nicht daran glaube, werde ich es auch nicht tun." - "Ist Ihnen klar, wie sich die Situation entwickelt?", fragte er nun etwas lauter. - "Doch, aber ich will nicht vorgeben, etwas zu sein, was ich nicht bin", antwortete ich. Und dann verließ ich den Raum.

Ich wollte nichts davon hören und schon gar nicht darüber nachdenken, welche Art von Realität "die Situation" für uns bereithielt. Ich war mit privaten Problemen beschäftigt. In diesem Frühjahr hatten Javad und ich nach einer zweiten Fehlgeburt im vergangenen Jahr eine Reise nach New York geplant, um einen Facharzt für Reproduktionsmedizin aufzusuchen. Wir hatten die Termine lange im Voraus vereinbart, vor dem völligen Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung, und nun war es beinahe unmöglich zu reisen. Niemand durfte das Land verlassen. Ich wandte mich mit einem Brief des Büros des Oberstaatsanwaltes an Abbas Amir-Entezam, den Regierungssprecher. Amir-Entezam – der kurz darauf verhaftet wurde und bis heute im Gefängnis sitzt – erteilte uns die Erlaubnis.

Im April flogen wir in die USA. Teherans Flughafen Mehrabad, auf dem es gewöhnlich von Passgieren wimmelte, die nach Europa flogen, wirkte wie eine Kombination aus Geisterstadt und Militärstützpunkt. Unsere Taschen wurden genauestens durchsucht, ob sie auch ja keine Antiquitäten oder unerlaubten Geldsummen enthielten, und zusammen mit den anderen fünfzehn Fluggästen bestiegen wir die Boeing. Als wir uns in den leeren Reihen breit machten, schaute ich aus dem Fenster auf das unter uns in der Ferne verschwindende Teheran und fragte mich, welche Art von Iran wir bei unserer Rückkehr vorfinden würden.

Am Tag nachdem wir nach Teheran zurückgeflogen waren, ging ich sofort wieder zu Arbeit. Wir waren nur knapp einen Monat lang weg gewesen, aber Teheran war bereits eine andere Stadt. Die Straßen – lange Boulevards mit Namen wie Eisenhower, Roosevelt, Queen Elizabeth und Pfauenthron – waren umbenannt worden nach schiitischen Imams, Geistlichen, die den Märtyrertod gestorben waren, und Helden der Dritten Welt, die den antiimperialistischen Kampf geführt hatten.

Während unserer kurzen Abwesenheit hatten die Menschen begonnen, ihre Unterstützung für die Revolution ganz offen zu zeigen. Als mein Taxifahrer an den Regierungsgebäuden im Zentrum von Teheran vorbeikroch, fiel mir auf, dass die Dienstwagen des Ministeriums fehlten, die normalerweise die Bordsteine säumten. Stattdessen stand dort eine lange Reihe von Mopeds und Motorrädern. Beim Gericht angekommen, ging ich von einem Flur zum nächsten und schaute ungläubig in verschiedene Büros. Die Männer trugen nicht länger Anzüge und Krawatten, sondern einfache Freizeithosen und kragenlose Hemden, von denen viele reichlich verknittert waren und manche sogar Flecken hatten.

Ich konnte den Unterschied sogar riechen. Der leichte Duft von Eau de Cologne oder Parfüm, der vor allem morgens in den Fluren gehangen hatte, war verschwunden. Ich traf eine meiner Kolleginnen im Flur und flüsterte ihr zu, wie sehr mich dieser plötzliche Wandel schockiere. In dieser neuen Atmosphäre strebte jeder danach, arm zu wirken, und das Tragen schmutziger Kleidung war zu einem Zeichen politischer Integrität, einem Zeichen des Mitgefühls mit den Enteigneten geworden.

"Was sind das für Stühle!", hatte Ayatollah Taleghani, einer der führenden revolutionären Geistlichen sich lautstark beschwert, als er kam, um im Senatsgebäude die Verfassung umzuschreiben, und einen Raum voller eleganter, mit Brokat bezogener Stühle vorfand. Sie seien bereits da gewesen, verteidigten sich seine Helfer, sie hätten sie nicht gekauft. Tagelang saßen der Ayatollah und seine Leute, während sie an der Verfassung schrieben, im Schneidersitz auf dem Boden. Schließlich gaben sie auf und ließen sich auf den korrupten Stühlen nieder.

Man kam sich damals vor wie im Theater. Doch ich war abgelenkt von den Gerüchten, die im Justizministerium kursierten. Gerüchte, die so entsetzlich waren, dass ich jedes Mal, wenn ich sie hörte, tief durchatmen musste, um meiner Verzweiflung Herr zu werden. In den Korridoren erzählte man sich, der Islam verbiete es, dass Frauen ein Richteramt bekleiden. Ich versuchte, diese Gerüchte mit einem Lachen abzutun. Zu meinen Freunden zählten viele bedeutende Revolutionäre, und ich redete mir ein, ich hätte ausgezeichnete Beziehungen und war die angesehenste Richterin am Teheraner Gericht. Darüber hinaus hatte ich die Revolution öffentlich unterstützt. Mir werden sie sicher nicht an den Kragen gehen, dachte ich.

Ein paar Monate lang – eine Zeit, in der ich auch schwanger geworden war – behauptete ich mich eisern auf meinem Posten. Eines Tages bestellte mich der provisorische Justizminister Bani-Sadr, von dem die "Einladung" zum Kopftuch stammte, in sein Büro. In freundlichem Ton schlug er mir meine Versetzung ins Ermittlungsbüro des Ministeriums vor. Ich lehnte das Angebot ab. Bani-Sadr warnte mich, dass möglicherweise ein Säuberungskomitee gebildet werde, und ich dann zur Gerichtsassistentin zurückgestuft werden könnte. "Ich gebe mein Amt nicht freiwillig auf", erklärte ich.

An einem jener entsetzlich eintönigen Tage in der Geschäftsstelle – noch bevor die Langeweile mich in den Wahnsinn zu treiben drohte und ich meinen Streik aufgab – las ich in der Tageszeitung Engbelab-e Eslami, Islamische Revolution, einen sensationellen Text: einen Entwurf des islamischen Strafgesetzbuches. Ich glaubte zunächst Halluzinationen zu haben. Wie ist das möglich?, dachte ich. Die Einführung eines islamischen Strafgesetzbuches würde die Beziehung der Bürger zu Gesetzen sowie die Ordnungsprinzipien und Sozialverträge, die das gesellschaftliche Zusammenleben regeln, von Grund auf verändern. Es wäre ein Wandel von solch allumfassender Bedeutung, dass er von den Stadtmauern verkündet und darüber abgestimmt werden sollte. So ein Entwurf sollte nicht eines Tages einfach in der Morgenzeitung auftauchen.

Ich schob meine Teetasse beiseite, breitete die Zeitung sorgfältig auf meinem Schriebtisch aus und las den Artikel noch einmal von vorne. Die grauenvollen Gesetze, gegen die ich bis heute ankämpfe, starrten vom Papier aus zurück: Das Leben einer Frau war im Vergleich zu dem eines Mannes nur die Hälfte wert; die Aussage einer Frau bei Gericht als Zeugin eines Verbrechens galt nur halb so viel wie die eines Mannes; eine Frau musste ihren Mann um Erlaubnis bitten, wenn sie sich scheiden lassen wollte, etc.. Kurz gesagt, die Gesetze drehten die Uhr um 1400 Jahre zurück zu den frühen Tagen der Ausbreitung des Islam, den Tagen in denen das Steinigen von Ehebrecherinnen und das Abhacken der Hände von Dieben als angemessene Strafen erachtet wurden.
Ich spürte, wie mir vor grenzenloser Wut heiß wurde. Ein dumpfer Schmerz in einer meiner Schläfen wuchs sich innerhalb einer Stunde zu einem unerträglichen einseitigen Pochen aus. Ich ging mit der ersten vieler folgender Migränen nach Hause, lag stundenlang auf dem Bett, die Vorhänge zugezogen. Javad war für einige Monate zu einem Ausbildungskurs in Europa. Wenigstens brauchte ich nicht zu kochen oder den Tisch zu decken.

Ich bereitete mich auf all die möglichen Auswirkungen vor, die die Umsetzung des islamischen Rechts auf mein Leben haben könnte, dachte über alle Bereiche nach, in denen die Änderungen spürbar werden würden: die Gerichtssäle, in denen ich nun nicht länger den Vorsitz haben würde; das Ministerium, in dem es von Geistlichen wimmeln würde, die religiösen Werke, die ich nun als rechtliche Quellen verwenden würde. Bei all meinen bangen Spekulationen hätte ich mir nie vorstellen können, dass die Angst vor einem neuen Rechtssystem, mochte es noch so katastrophal sein, mir bis in mein Wohnzimmer folgen würde, bis in meine Ehe. Aber es ließ sich nicht leugnen.

Seit ich von dem neuen Strafgesetz in der Zeitung gelesen hatte, verhielt ich mich Javad gegenüber anders. Es war, als habe ich meine Haut verkehrt herum an. Bei der kleinsten Bemerkung, die mir – wenn auch nur ein bisschen – schroff erschien, war ich auf der Hut oder begab mich auf den Kriegspfad Ich konnte nicht anders.

Als Javad und ich heirateten, hatten wir unser gemeinsames Leben als zwei gleichberechtigte Individuen begonnen. Doch laut dieser Gesetze blieb er eine Person, während ich zu einer beweglichen Habe wurde. Sie erlaubten es ihm, sich ganz nach Lust und Laune von mir scheiden zu lassen, das Sorgerecht für unsere zukünftigen Kinder für sich zu beanspruchen und sich drei Frauen zu nehmen, mit denen ich dann in einem Haus leben müsste. Obwohl mein Verstand mir sagte, dass in Javads Innerem kein potenzielles Monster lauerte, das nur darauf wartete, herauszukommen, war ich dennoch sehr bedrückt. Einige Wochen nachdem ich mich in ein mürrisches, abweisendes Wesen verwandelt hatte, hielt ich die Zeit für gekommen, mit Javad zu reden:
"Hör mal, ich ertrage die Situation nicht länger", sagte ich ihm. "Wir haben keine Probleme", antwortete er. Und er hatte Recht damit. Bis vor kurzem noch hatten sich unsere größten Meinungsverschiedenheiten um Hausarbeit gedreht. "Ich weiß", erwiderte ich, "aber das Gesetz ist ein Problem. Früher waren wir gleichberechtigt. Jetzt stehst du dem Gesetz nach über mir, und das ertrage ich einfach nicht. Wirklich nicht."

"Was soll ich also tun?", fragte er und hob die Hände. Und dann hatte ich einen Geistesblitz. Ich wusste, was er tun konnte! Er konnte einen nachträglichen Ehevertrag unterzeichnen, in dem er mir das Recht gewährte, mich scheiden zu lassen, und mir im Fall einer Trennung das Hauptsorgerecht für unsere zukünftigen Kinder überließ.

Am nächsten Morgen standen wir gegen acht Uhr auf und machten uns zum ortsansässigen Notar auf. Wie gewöhnlich steuerte ich den Wagen. Javad fuhr nicht gerne in der Stadt, während ich nichts mehr genoss, als mich durch den chaotischen Verkehr auf Teherans Boulevards zu fädeln. "Du hättest Taxifahrerin werden sollen", sagte Javad immer.
Als wir bei dem Notar eintrafen, schaute der Javad durch seine dicken Brillengläser an, als sei er verrückt geworden. "Wissen Sie, was Sie da tun, guter Mann?", fragte er ihn und nahm wohl an, Javad müsse Analphabet sein, um sich dazu überlisten zu lassen, solch einen Vertrag zu unterschreiben. "Warum tun Sie das?" Javads Antwort werde ich nie vergessen: "Meine Entscheidung ist unwiderruflich. Ich will mein Leben retten."

Um 17 Uhr kam schließlich der Anruf, auf den ich gewartet hatte: "Bitte melden Sie sich in Abteilung 16 des Teheraner Gerichts", sagte der Anrufer. Die Zeit war gekommen. Man würde mich ins Evin bringen.

Während ich mich noch einmal rasch in unserer Wohnung umsah und prüfte, ob ich meine Blutdruckmedikamente und eine zusätzliche Zahnbürste eingepackt hatte, redete ich mir ein, dass ich bald zurück sein würde. "Euer Vater und ich haben heute Abend eine Versammlung", rief ich den Mädchen zu, die im Wohnzimmer fernsahen. "Bestellt euch eine Pizza zum Abendessen."
Die Sitzung mit dem Richter dauerte nicht länger als zwanzig Minuten. Er versprach, meinem Mann, der, wie ich annahm, draußen wartete, davon zu unterrichten, dass man mich ins Gefängnis gebracht hatte. Die Wachen führten mich durch eine Hintertür zu einem Parkplatz, den ich noch nie gesehen hatte.

Es war ziemlich spät, nach zehn, und das Neonlicht der Straßenlaterne tauchte den Parkplatz in ein seltsames orangefarbenes Glühen. Der Verkehr hatte nachgelassen, sodass die Fahrt über die Schnellstraße nicht lange dauerte. Der Fahrer hielt unterwegs an einem Kiosk an und kaufte mir ein Sodawasser. Ich hatte einen vollkommen trockenen Mund. Schließlich erreichten wir das Evin. Evin, durch dessen Eisentore fast jeder politische Gefangene des letzen halben Jahrhunderts geschritten ist. Evin, in dem mein Schwager Fuad die letzten Jahre seiner Jugend verbrachte.
Ich war völlig unvorbereitet auf die erste Frage, die man mir bei meiner Ankunft stellte: "Sind Sie hier wegen eines moralischen Vergehens?" Frauen, die nach Einbruch der Dunkelheit festgenommen und ins Evin gebracht werden, sind normalerweise Prostituierte. "Nein! Wovon reden Sie? Mein Vergehen ist politischer Natur!" Die Worte erinnerten mich an einen Witz, den wir immer erzählten und dessen Pointe lautete: "Mein Verbrechen ist politischer Natur." Ich begann zu lachen, was den Gefängnisbeamten sehr erzürnte. "Warum lachen Sie?", fragte er wütend. "Mein Verbrechen ist politischer Natur", wiederholte ich immer wieder, und mein Lachen grenzte fast an Hysterie. Er wandte angewidert den Blick ab. "Schreibt irgendwas auf und bringt sie weg."
Eine Wärterin führte mich einen langen Flur entlang zu dem, was sie als ihre "beste Zelle" bezeichnete. Die beste Zelle war völlig verdreckt, und es gab kein fließendes Wasser. Die Ränder der Metalltoilette in der Ecke waren schmutzig und rostig. "Gibt es noch eine bessere?", fragte ich vorsichtig. Die Wärterin ließ mich einen Blick in drei andere Zellen werfen, und ich stellte fest, dass meine tatsächlich das kleinere Übel war. Da ich noch nicht den Mut aufbrachte, in meine Zelle zurückzukehren, hockt ich mich im Flur hin.

Ein paar Insassinnen kamen auf dem Weg zum Geschirrspülen an mir vorbei. "Warum bist du hier?", fragten sie. Die Presse hatte den Fall von Amir Farshad "den Fall der Videomacher" getauft, deswegen flüsterte ich nur, ohne den Kopf zu heben: "Die Videomacher." "Wirklich? Wie hieß der Titel?", fragte eine von ihnen. "Wie viel hat man dir gezahlt?" und "War der Regisseur nett?", wollte eine andere wissen. Sie dachten, ich sei hier, weil ich einen Pornofilm gemacht habe.

Kurze Zeit später kam der Gefängnisarzt, um meinen Blutdruck zu messen. Als er wieder ging und die Zellentür hinter sich zuschlug, starrte ich die narbigen, fleckigen Wände an und spürte, wie die Angst, die mich in den vergangenen Wochen geplagt hatte, langsam nachließ. Es gab niemanden und nichts, zu dem ich Zuflucht nehmen konnte, wurde mir klar, außer Gott.

"Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan", flüsterte ich. "Jetzt bist du an der Reihe." Dann funktionierte ich meine Tasche zum Kopfkissen um, zog den Tschador über mich und schlief ein.
Seit man mir den Nobelpreis verliehen hat, haben die Anschläge auf mein Leben zugenommen, und die iranische Regierung hat rund um die Uhr Bodyguards zu meinem Schutz abgestellt. Es gibt Phasen, in denen die politische Bedrohung in Teheran so dicht, so greifbar wird, dass wir nur noch flüsternd miteinander sprechen, aus Angst vor der puren Luft. In diesen Phasen legen mir Freunde und Verwandten immer wieder nahe, einige Zeit ins Ausland zu gehen. Doch was nütze ich im Ausland, frage ich mich. Kann die Art meiner Arbeit, die Rolle, die ich im Iran spiele, über die Kontinente hinweg weitergeführt werden? Natürlich nicht. Und ich mache mir klar, dass mein größter Feind die eigene Angst ist: Es ist die Angst der Iraner, die unseren Gegnern Macht verleiht.

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