Die Antwort auf die Diktatur

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Diktator Pinochet ließ einst Michelle Bachelets Vater ermorden. Heute ist die Tochter die erste demokratisch gewählte Präsidentin Chiles.

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"Dieses Kabinett ist ein historischer Schritt auf dem Gebiet der Gleichheit von Mann und Frau in Chile", sprach die Präsidentin und löste ihr Wahlversprechen ein. Schon am Abend der triumphalen Wahl am 15. Januar hatte sie angekündigt: "Ich werde mit euch, mit allen Chilenen, ehrlich sein und direkt." Michelle Bachelet scheint es ernst zu meinen.
Die 54-jährige Sozialistin ist die erste Präsidentin Chiles, sie ist sogar die erste demokratisch gewählte Präsidentin in Südamerika. Entsprechend selbstbewusst stellte Bachelet ihre Weiblichkeit in den Mittelpunkt ihrer Kampagne. "Zeit der Frauen" stand auf einem ihrer Plakate. Zeit der Frauen? Chiles Frauen, argumentiert die Kandidatin, hätten in der Bildung mit den Männern gleichgezogen. In der Justiz, den Streitkräften, den Universitäten und den Gewerkschaften seien sie auf dem Vormarsch. "Es bleibt nur noch, den Anteil der Frauen in der Arbeitswelt sowie der Politik auszubauen."
Als Präsidentin will sie jetzt Arbeitsplätze für Frauen und zusätzliche Kindergarten- und Krippenplätze für deren Kinder schaffen. Und sie will das Prinzip des gleichen Lohns – und der gleichen Rente – für die gleiche Arbeit durchsetzen. Bachelet sprach auch im Wahlkampf in einfachen, klaren Worten. Demagogie ist ihr fremd, damit hob sie sich bewusst von ihren männlichen Kollegen ab.
Michelle Bachelet verkörpert eine neue politische Generation in Chile und in der ganzen Region. Es ist eine Art 68er-Generation Lateinamerikas, die der in Südamerika so tief verwurzelten Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen zu Leibe rücken und mehr Chancengleichheit für Männer und Frauen, für Arme und Reiche schaffen will. Von europäischen 68ern unterscheiden sich ihre südamerikanischen Genossen dadurch, dass sie in den Jahrzehnten der Diktaturen oftmals selbst Folterungen und Misshandlungen erlitten und Freunde und Verwandte verloren haben.
Bachelets Vater, der es unter Salvador Allende zum Luftwaffengeneral gebracht hatte, wurde nach dem Militärputsch von 1973 von den Schergen des Diktators Augusto Pinochet zu Tode gefoltert. Michelle, damals Medizinstudentin an der Universität Chile in Santiago, blieb zunächst der Heimat und auch der sozialistischen Bewegung treu, die im Untergrund operierte. Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters wurden Michelle und ihre Mutter von zwei Agenten der Geheimpolizei Dina abgeholt und zum Verhör in die berüchtigte Folterzentrale Villa Grimaldi gebracht. Nicht zuletzt durch internationalen Druck wurden sie nach wenigen Wochen freigelassen. Die beiden gingen ins Exil, zunächst nach Australien, dann in die DDR.
Michelle Bachelet setzte ihr Medizinstudium an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin fort und brachte ihren ersten Sohn Sebastian in Deutschland zur Welt. "Wunderbare Erinnerungen" habe sie "an die Solidarität vieler Personen, die mich damals in Deutschland aufgenommen haben", sagt die Chilenin, die auch viele Jahre nach ihrer Rückkehr noch gut Deutsch spricht.
Vor fünf Jahren machte der amtierende Präsident Ricardo Lagos die ausgebildete Kinderärztin zunächst zur Gesundheitsministerin, kurz darauf wurde sie zur ersten Verteidigungsministerin Chiles und ganz Lateinamerikas befördert.
Zum 30. Jahrestag des Putsches im September 2003 sorgte sie dafür, dass Generäle rehabilitiert wurden, die wie ihr Vater in den 70er Jahren dem gewählten Präsidenten Allende treu geblieben waren. Unter ihrer Ägide gab es die ersten deutlichen Schuldeingeständnisse aus der Militärführung, die sich nun endlich auch selbst darum bemüht, die Schicksale der vielen "verschwundenen" Opfer Pinochets aufzuklären.
Doch die größte Herausforderung für die Präsidentin ist das enorme Einkommensgefälle. Zwar ist Chile wirtschaftlich und politisch das stabilste Land Südamerikas, dennoch ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie sonst nur in wenigen Ländern. Doch die Präsidentin hat einen so großen finanziellen Spielraum wie kaum eine demokratische Regierung vor ihr. Dank des Kupferbooms auf dem Weltmarkt erwirtschaftet Chile große Überschüsse.
Wer nun befürchtete, die Sozialistin Bachelet werde das Land durch eine dirigistische Politik in die Krise treiben, sah sich schon durch ihr Wahlprogramm eines Besseren belehrt. Es war ein Muster der Ausgewogenheit. Bachelet kann der gängigen Alternative Markt oder Staat wenig abgewinnen. "In Chile braucht es mehr Markt und mehr Staat", sagt sie. "Mehr Markt, weil einige Wirtschaftszweige sehr konzentriert sind. Aber auch mehr Staat, denn wir wissen, dass der Markt sich nicht selbst reguliert: Er hilft nicht denjenigen, die in der Entwicklung zurückgeblieben sind, und er sorgt auch nicht von selbst für Umweltschutz."
Die außenwirtschaftliche Öffnung, die Chile seit vielen Jahren effizient betreibt, wird unter ihrer Ägide weitergeführt, allerdings ergänzt durch ein soziales Netz für die Verlierer der Gesellschaft. Das private Rentensystem Chiles, das Selbstständige und Geringverdiener praktisch ausschließt, will Bachelet kräftig reformieren.
Bachelets Wahlsieg kommt im bigotten Chile einer Revolution gleich. Nicht nur, weil sie eine Frau ist. Ihr ganzer Lebensstil ist für konservative Chilenen eine Provokation. Michelle Bachelet ist geschieden. Sie ist alleinerziehende Mutter dreier Kinder von zwei Vätern. Und sie bezeichnet sich auch noch als Agnostikerin. "Es ist offensichtlich, dass meine Person nicht in das 'traditionelle Modell' passt", sagt sie. 53,5 Prozent der WählerInnen wollen dieses Modell offensichtlich ändern. Mit ihrer Hilfe.
Anna Grüttner, EMMA 2/2006

 

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