Alice Schwarzer schreibt

Zu jung für Sex?

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Es begann beim Mittagessen in der Redaktion. Eine aus der mittleren Generation erzählt so ganz nebenher, der Freund der 15-jährigen Tochter ihrer Freundin übernachte ja jetzt am Wochenende immer bei der. Ich stutzte. Und fragte nach. Wie alt denn der Freund sei. Achtzehn. Und das Mädchen, wirklich erst fünfzehn? Ja. Aber wie die Eltern das denn erlauben könnten, dass in dem Alter bei ihrer Tochter ein Mann übernachtet?

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Prompt schallte mir das gutmütige Gelächter der Jüngeren entgegen (die sind bei EMMA in der Mehrheit). Aber Aaaalice. Das ist heutzutage nicht mehr wie früher. Da ist doch gar nichts dabei. Und zur Illustration wusste eine andere die Geschichte ihrer tollen Nachbarin beizutragen, deren 15-jähriger Sohn ein Verhältnis mit einer 13-Jährigen hat, und dem Muttern immer fürsorglich Kondome besorgt. Neulich hatte er sich sogar beklagt, dass sie nur fünf gekauft hatte: Damit komme ich aber nicht weit, Mama! Ja, so groß ist das Vertrauen dieses Jungen zu seiner Mutter.

Jetzt reichte es mir! Auf die Gefahr hin, für völlig von gestern gehalten zu werden, sagte ich klar und deutlich: Ich finde das falsch. Wie kann eine Mutter es auch noch fördern, dass ihr halbwüchsiger Sohn ein Verhältnis mit einem Kind hat?! Nun schlugen die Wellen hoch.

Hauptargument der permissiven Fraktion: Sie tun es ja eh, dann doch lieber zu Hause und mit Verhütungsmitteln. Da ist was dran. Aber das kann doch nicht alles sein, was verantwortungsvolle Erwachsene dazu zu sagen haben?

Mich packte der Ehrgeiz. Denn ich weiß ja, dass sich in den letzten zwei, drei Generationen zwar einiges geändert hat, und das nicht zuletzt dank der Frauenbewegung – aber Grundlegendes gleich geblieben ist. Zu gegenwärtig ist mir die halbwüchsige Alice und ihre Gefühle – und zu präsent sind mir die Briefe, die ich täglich bekomme, überwiegend von sehr jungen Frauen und Mädchen. Lassen wir die etwa allein?

Ich begann nach Argumenten zu suchen. Bleibt Eltern und Pädagogen wirklich nichts anderes übrig, als sich resigniert ins Gegebene zu schicken, ja es sogar noch zu fördern? Oder wäre nicht auch ein kritischer Dialog denkbar zwischen Erwachsenen und ihren Kindern? Ein Austausch, in den Erwachsene ihren Erfahrungsvorsprung und ihr Wissen einbringen – und vor allem: in dem sie Haltung beziehen! Eine Haltung, die eine echte Alternative wäre zu den Einflüsterungen von Medien, Mode und Gruppendruck. Eine Haltung, die den Mädchen und Jungen eine Chance gäbe zur Besinnung auf eine eigene, ihnen wirklich gemäße Position.

Eine solche Haltung hat wenig mit dem von modernen Eltern so gemiedenen moralischen Zeigefinger zu tun, der nur das Gegenteil bewirkt; und schon gar nichts mit Kontrolle, die so wenig möglich wie wünschenswert ist. Aber eine solche Haltung könnte Jugendlichen den Druck nehmen und eine Alternative zur galoppierenden Beliebigkeit sein.

Sexualität ist Vehikel für vieles. Die traditionelle, christlich geprägte Moral suggerierte uns: Sex ist Sünde. Die aktuelle, ökonomisch motivierte flüstert uns: Konsum ist sexy. Und durch alle Zeiten hindurch gilt bis heute der doppelte Standard für Frauen und Männer, auch wenn die Fronten in Bewegung geraten sind. Noch immer gilt es als cool für Jungs, viele Mädchen zu haben – und gelten Mädchen, die viele Jungs haben, als Schlampen. Verschärfend hinzu kommt bei den körperlich immer früher geschlechtsreif werdenden Mädchen die Gefahr der ungewollten Schwangerschaft. Auch in Deutschland steigt die Zahl der schwangeren Minderjährigen unaufhaltsam.

Vor allem aber: Sexualität ist so viel mehr als eine körperliche Übung. Der wahre Orgasmus findet auch im Kopf statt – und dazu braucht es nicht nur körperliche, sondern auch seelische Reife. Die Palette erotischer Annäherung ist breit, die genitale Sexualität sollte erst am Ende dieser Erfahrung stehen – und vor allem auch von den Mädchen wirklich aus eigener Lust gewollt sein, meine ich.

In dieser Ausgabe darum nun ein 22 Seiten umfassendes Dossier das die Frage: Ab wann ist Sex nicht mehr zu früh? unter all seinen Aspekten und aus der Sicht Jugendlicher wie Erwachsener beleuchtet. Wir sind sehr gespannt auf die Meinung unserer LeserInnen!

 

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