Abgewickelt: Die Schlecker-Katastrophe

Artikel teilen

"Liebe EMMA-Mitarbeiterinnen, vielleicht interessiert es Sie ja, über uns, die so genannten Schlecker-Frauen zu schreiben“, mailte Claudia Schäzle. „Es sind alleinerziehende Mütter, Frauen, die einen kranken Mann zu versorgen haben, und Frauen, die mit für die Ernährung der Familie sorgen."

Anzeige

Davon aber will die Politik offenbar nichts wissen. Nach den 11000 Entlassungen im März wird in diesen Ta­gen nun wohl auch den anderen 13200 Schlecker-Frauen die Kündigung ins Haus flattern. Es ist eine der größten Entlassungswellen der Nachkriegszeit. Dennoch rannten die Verkäuferinnen mit ihren Protesten und ihren Versuchen, Hilfe zu bekommen, komplett vor die Wand.

Als erster wedelte NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider, seines Zeichens sozial­demokratischer IG-Metaller, die Anfrage der Schlecker-Frauen nach finanzieller Überbrückung vom Tisch. Das Land sei „nicht in der Lage, eine Transfergesellschaft oder einen Sonderfonds zu speisen“, erklärte er lapidar und verwies auf den Bund.

Dann meldete sich die Agentur für Arbeit zu Wort. Deren Vorstandsmitglied Heinrich Alt befand: Das Ganze sei eine „normale Dynamik am Arbeitsmarkt“. Der Diskussionsbeitrag der Kanzlerin erschöpfte sich in der Feststellung, dass man den Beschluss der Gläubigerversammlung „zur Kenntnis nehmen“ müsse.

„Ich habe so was noch nie erlebt!“ tobt Leni Breymaier. „Gerade werden in Mecklenburg-Vorpommern wieder Millionen in die Werften gesteckt. Wenn es um Männer-­Arbeitsplätze geht, ist man sehr kreativ und denkt sich so was wie die Abwrack-Prämie aus. Aber die Frauenarbeitsplätze im Niedriglohn-Sektor sind nichts wert!“ Selbstverständlich wäre das endgültige Aus zu verhindern gewesen, meint die baden-württembergische Ver.di-Landesbezirksleiterin.

Aber nachdem nach der ersten Entlassungswelle eine Transfergesellschaft am Einspruch der bayerischen FDP gescheitert war, legten rund 5600 Schlecker-Frauen Klage gegen ihre Ent­lassung ein, was potenzielle Investoren abschreckte. „Und es kann einfach nicht sein, dass ein Unternehmer seine Firma mit über 30000 Angestellten als Eingetragener Kaufmann, also ohne jede Kontrolle führt“, klagt Gewerkschafterin Breymaier.

Am 5. Juni bäumten sich mehrere ­Hundert Schlecker-Frauen noch einmal zu einem Protest auf. In Ulm demonstrierten sie vor der Gläubigerversammlung. Auf ihren Plaka­ten (s. Fotos oben) prangerten sie die schreiende Ungerechtigkeit an: „Keine Transfergesellschaft. Keine Abfindung. Keine Perspektive. Kein Mindestlohn. Hartz IV? Wir sind nicht systemrelevant. Ach, wären wir doch Opel-VW-Audi!“

Sind sie aber nicht. Die Gläubiger beschlossen das endgültige Aus. „Bei einigen Frauen, die im März entlassen wurden, steht schon der Gerichtsvollzieher vor der Tür“, weiß Leni Breymaier. „Die Frauen rutschen voll ins Prekariat. Es ist erbärmlich.“

Aber es ist nicht nur das Geld, das fehlt, sondern auch die Zugehörigkeit. „Jede Schließung ist wie eine Scheidung. Es ist nicht nur das Unternehmen, das man verlässt, sondern auch seine Familie“, schreibt Claudia Schäzle, 50, die nach 16 Jahren Schlecker bald vor verschlossener Ladentür steht. Und nicht nur sie: „Gerade für unsere älteren Kunden ist die Schließung am Ort schlimm. Wir waren ihnen immer eine große Hilfe bei ihren Einkäufen. Ich musste mir das einfach mal von der Seele schreiben, bevor ich daran ersticke.“
 

Spendenkonto
ver.di und die in Stuttgart ansässige Paul-Schobel-Caritas-Stiftung „Arbeit und Solidarität“ den Stiftungsfonds „Schlecker-Frauen“ eingerichtet. Die Spendenkontonummer lautet: Kto.-Nr. 6402003 bei der Liga Bank, BLZ 750 903 00. E-Mail an den Stiftungsfond schreiben.

Weiterlesen
Ganz kalt erwischt (2/12)
Liebe Schlecker-Frauen... (EMMAonline, 1.6.2012)

Artikel teilen
 
Zur Startseite