Buchauszug: Das andere Geschlecht

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Einleitung
Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben. Das ist ein Reizthema, besonders für Frauen, und es ist nicht neu. In der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen. Jetzt ist sie nahezu abgeschlossen: Reden wir nicht mehr darüber. Es wird aber doch weiter darüber geredet, und es sieht nicht so aus, als hätte die in den letzten hundert Jahren produzierte Flut von Sottisen das Problem geklärt. Gibt es überhaupt ein Problem? Und worin besteht es? Gibt es überhaupt Frauen? Die Theorie vom Ewigweiblichen hat zwar noch Anhänger, die sich zuflüstern: "Sogar in Russland bleiben sie Frauen", aber andere gutinformierte Leute - manchmal auch dieselben - seufzen: "Das Frauliche geht verloren, es gibt keine Frauen mehr. Man weiß nicht mehr genau, ob es noch Frauen gibt, ob es sie immer geben wird, ob dies wünschenswert ist oder nicht, welchen Platz sie in dieser Welt einnehmen, welchen sie einnehmen sollten." (...)

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Doch zunächst einmal: Was ist eine Frau? "Tota mulier in utero: eine Gebärmutter", sagt der eine. Über manche Frauen urteilen Kenner jedoch: "Das sind keine Frauen", obwohl sie einen Uterus haben wie alle anderen. Von allen wird einmütig anerkannt, dass es innerhalb der menschlichen Spezies "Weibchen" gibt. Sie stellen heute wie ehedem etwa die Hälfte der Menschheit. Und doch sagt man uns, die Weiblichkeit sei "in Gefahr", man ermahnt uns: "Seid Frauen, bleibt Frauen, werdet Frauen."

Nicht jeder weibliche Mensch ist also zwangsläufig eine Frau; er muss an einer geheimnisvollen, bedrohten Realität, der Weiblichkeit, teilhaben. Wird diese von den Eierstöcken produziert? Oder ist sie eine abgehobene platonische Idee? Genügt ein aufreizender Unterrock, um sie auf die Erde herunterzuholen?

Obwohl manche Frauen sich eifrig bemühen, sie zu verkörpern, wurde ein Gebrauchsmuster nie festgelegt. Das Weibliche wird gern in unbestimmten, schillernden Ausdrücken beschrieben, die dem Wortschatz von Seherinnen zu entstammen scheinen. Zur Zeit des Thomas von Aquin galt es als ebenso eindeutig definierte Essenz wie etwa die einschläfernde Wirkung des Mohns. Aber der Konzeptualismus hat an Boden verloren: Die Biologie und die Sozialwissenschaften glauben nicht mehr an die Existenz unwandelbarer Anlagen, die gegebene Charaktertypen wie die Frau, den Juden oder den Schwarzen hervorbringen; sie betrachten den Charakter als Sekundärreaktion auf eine Situation.

Wenn es heute keine Weiblichkeit mehr gibt, so, weil es nie eine gegeben hat. Bedeutet das etwa, dass das Wort "Frau" keinerlei Inhalt hat? Das jedenfalls behaupten die Anhänger der Aufklärung, des Rationalismus und des Nominalismus, indem sie nachdrücklich erklären, die Frauen seien unter den Menschen nur jene, die willkürlich mit dem Wort "Frau" bezeichnet werden.

Vor allem die Amerikanerinnen hängen an dem Gedanken, die Frau als solche komme nicht mehr vor. Und wenn eine Rückständige sich immer noch für eine Frau hält, raten ihr die Freundinnen zu einer Psychoanalyse, um diese Zwangsvorstellung loszuwerden. Dorothy Parker schreibt (...): "Ich kann Büchern, die die Frau als Frau behandeln, nicht gerecht werden ... Nach meiner Auffassung müssen wir alle, Männer wie Frauen, als Menschen betrachtet werden. "Aber der Nominalismus ist eine Doktrin, die etwas kurz greift, und die Gegner des Feminismus haben leichtes Spiel nachzuweisen, dass Frauen keine Männer sind.

Mit Sicherheit ist die Frau wie der Mann ein Mensch: Aber eine solche Behauptung ist abstrakt. Tatsächlich befindet sich jeder konkrete Mensch immer in einer einzigartigen Situation. Die Begriffe vom Ewigweiblichen, von der schwarzen Seele, vom jüdischen Charakter abzulehnen, bedeutet ja nicht zu verneinen, dass es heute Juden, Schwarze, Frauen gibt: Diese Verneinung wäre für die Betroffenen keine Befreiung, sondern eine Flucht ins Unauthentische. Selbstverständlich kann keine Frau, ohne unaufrichtig zu sein, behaupten, sie stünde jenseits ihres Geschlechts. (...)

Auf dem Weg zur Befreiung
Nun gibt es heute eine recht große Zahl privilegierter Frauen, die in ihrem Beruf durchaus eine ökonomische und gesellschaftliche Autonomie finden. Auf sie beruft man sich, wenn es um die Frage nach den Möglichkeiten der Frau und nach ihrer Zukunft geht. Aus diesem Grund ist es, auch wenn sie bislang nur eine Minderheit darstellen, von besonderem Interesse, sich mit ihrer Situation näher zu beschäftigen. Sie sind Gegenstand der anhaltenden Diskussionen zwischen Feministen und Antifeministen. Während diese behaupten, den emanzipierten Frauen von heute sei in der Welt nichts Bedeutendes gelungen, sie hätten aber Mühe, ihr inneres Gleichgewicht zu finden, übertreiben jene die erzielten Resultate und sehen über die seelischen Probleme geflissentlich hinweg. In Wahrheit spricht nichts für die Behauptung, diese Frauen hätten die falsche Richtung eingeschlagen, aber es steht auch fest, dass sie sich in ihrer neuen Lage noch nicht bequem eingerichtet haben. Sie sind erst auf halbem Wege.

Eine Frau, die sich ökonomisch vom Mann unabhängig macht, befindet sich darum noch lange nicht in der gleichen sittlichen, sozialen und psychologischen Situation wie er. Die Art und Weise, wie sie in ihren Beruf einsteigt und wie sie sich ihm widmet, hängt von ihrem gesamten Lebenszusammenhang ab. In dem Moment, in dem sie ihr Erwachsenenleben beginnt, hat sie nicht die gleiche Vergangenheit hinter sich wie ein junger Mann, sie wird von der Gesellschaft nicht mit den gleichen Augen angesehen, und die Welt stellt sich ihr in einer anderen Perspektive dar. Die Tatsache, eine Frau zu sein, stellt einen autonomen Menschen heute vor ganz besondere Probleme.

Der Vorteil, den der Mann besitzt und der für ihn von Kindheit an spürbar ist, besteht darin, dass seine Berufung als Mensch keinen Widerspruch zu seiner Bestimmung als Mann darstellt. Durch die Gleichsetzung von Phallus und Transzendenz ergibt es sich, dass seine sozialen oder geistigen Erfolge ihm ein männliches Prestige verleihen. Er ist nicht gespalten. Von der Frau dagegen wird verlangt, dass sie sich, um ihre Weiblichkeit zu erfüllen, zum Objekt und zur Beute macht, das heißt, auf ihre Ansprüche als souveränes Subjekt verzichtet.

Eben dieser Konflikt charakterisiert in besonderer Weise die Situation der befreiten Frau. Sie lehnt es ab, sich auf ihre weibliche Rolle zu beschränken, weil sie sich nicht verstümmeln will. Würde sie aber auf ihr Geschlecht verzichten, wäre dies ebenfalls eine Verstümmelung. Der Mann ist ein geschlechtlicher Mensch. Die Frau kann nur dann ein vollständiges Individuum und dem Mann ebenbürtig sein, wenn auch sie ein geschlechtlicher Mensch ist. Auf ihre Weiblichkeit verzichten hieße, auf einen Teil ihrer Menschlichkeit verzichten. (...) Eine Frau, die nicht schockieren möchte, die sich gesellschaftlich nicht entwerten will, muss ihr Frausein als Frau leben. Sehr oft ist dies sogar eine Voraussetzung ihres beruflichen Erfolgs.

Doch während der Konformismus für den Mann etwas ganz Natürliches ist - nachdem sich die Sitten und Gebräuche mit Rücksicht auf seine Bedürfnisse als autonomes und aktives Individuum ausgebildet haben -, muss sich eine Frau, die ebenfalls Subjekt, Aktivität ist, in eine Welt einfügen, die sie zur Passivität verdammt. Dieses Joch ist um so schwerer, als die auf die weibliche Sphäre beschränkten Frauen deren Bedeutung maßlos übersteigert haben: Sie haben die weibliche Aufmachung, den Haushalt zu einer hohen Kunst gemacht. Der Mann muss sich um seine Kleidung kaum Gedanken machen. Sie ist bequem, seinem aktiven Leben angepasst und braucht nicht besonders ausgewählt zu sein. Sie gehört nur ganz am Rande zu seiner Persönlichkeit. Im Übrigen erwartet niemand, dass er sie selbst instand hält. Irgendeine Frau entlastet ihn freiwillig oder gegen Bezahlung von dieser Sorge.

Die Frau dagegen weiß, dass man sie, wenn man sie anschaut, nicht von ihrem Äußeren unterscheidet: Sie wird über ihre Aufmachung beurteilt, geachtet, begehrt. Ursprünglich dazu bestimmt, sie handlungsunfähig zu machen, ist ihre Kleidung empfindlich geblieben. Die Strümpfe zerreißen, die Absätze laufen sich ab, die hellen Blusen und Kleider nehmen Schmutz an, die Plissees geraten aus der Form. Dennoch muss sie die Dinge meistens selbst wieder in Ordnung bringen. Andere Frauen werden ihr kaum freiwillig zu Hilfe eilen. (...)

Wenn ihr daran liegt, im vollen Sinne Frau zu bleiben, so auch, weil sie dem anderen Geschlecht mit möglichst guten Erfolgsaussichten gegenübertreten möchte. Die schwierigsten Probleme liegen für sie im sexuellen Bereich. Um ein vollständiges, dem Mann gleichgestelltes Individuum zu sein, muss die Frau Zugang zur männlichen Welt haben, wie der Mann ihn zur weiblichen hat, sie muss Zugang zum anderen haben. Nur sind die Ansprüche des anderen in beiden Fällen nicht symmetrisch.

Einmal erworben, können Reichtum oder Berühmtheit, die als immanente Vorzüge erscheinen, die sexuelle Anziehungskraft einer Frau erhöhen. Aber die Tatsache, eine autonome Aktivität zu sein, widerspricht ihrer Weiblichkeit, und das weiß sie. Die unabhängige Frau - und vor allem die Intellektuelle, die ihre Situation denkt - leidet in ihrer Eigenschaft als Frau unter einem Minderwertigkeitskomplex. Sie hat nicht die Muße, sich ihrer Schönheit so aufmerksam zu widmen wie die Kokette, deren einzige Sorge darin besteht, verführerisch zu sein. Sie mag sich noch so gut von Fachleuten beraten lassen, auf dem Gebiet der Eleganz wird sie immer eine Amateurin bleiben. Der weibliche Charme verlangt, dass die zur Immanenz herabsinkende Transzendenz nur noch als eine subtile fleischliche Regung in Erscheinung tritt.

Die Frau muss eine spontan dargebotene Beute sein. Die Intellektuelle aber weiß, dass sie sich darbietet, sie weiß, dass sie ein Bewusstsein, ein Subjekt ist. Man kann nicht beliebig den eigenen Blick abtöten und seine Augen in ein Stück Himmel oder Wasser verwandeln. Ein auf die Welt hin strebender Körper lässt sich seinen Schwung nicht einfach nehmen, lässt sich nicht auf Anhieb in eine von dumpfer Erregung bebende Statue verwandeln. Die Intellektuelle versucht dies um so eifriger, je mehr sie einen Misserfolg befürchtet. Aber ihr bewusster Eifer ist wiederum Aktivität, und er verfehlt sein Ziel.

Sie macht die gleichen Fehler, wie das Klimakterium sie oft mit sich bringt: Sie sucht ihre Intellektualität zu verleugnen wie die alternde Frau ihr Alter. Sie kleidet sich im Kleinmädchenstil, überlädt sich mit Blumen und Tand, trägt grelle Farben, gebärdet sich niedlich und täuscht kindliche Freude vor. Außer Rand und Band hüpft sie herum, plappert, spielt die Vorlaute, die Leichtsinnige, die Kurzentschlossene. (...)

So verkrampft sich die Intellektuelle, wenn sie Hingebung vortäuscht. Sie spürt es, sie ärgert sich darüber, und plötzlich flackert eine verräterische Intelligenz in ihrem vor Naivität ganz verlorenen Gesicht auf. Die verheißungsvollen Lippen werden schmal. Wenn es ihr Schwierigkeiten macht zu gefallen, so weil sie nicht wie ihre hörigen kleinen Schwestern ein reiner Wille zu gefallen ist. Der Wunsch, verführerisch zu sein, steckt ihr, so lebhaft er auch sein mag, nicht tief genug in den Knochen. Und sobald sie sich unbeholfen fühlt, ärgert sie sich über ihre Unterwürfigkeit. Sie will Rache üben, indem sie den Spieß umdreht und männliche Waffen benutzt. Statt zuzuhören, redet sie, sie breitet kluge Gedanken, unerhörte Empfindungen aus. Statt ihrem Gesprächspartner beizupflichten, widerspricht sie ihm, sie versucht, die Oberhand über ihn zu gewinnen. (...)

Es gibt einen Weg, der für die Frau sehr viel weniger dornenreich erscheint: den des Masochismus. Wenn man den ganzen Tag arbeitet, kämpft, Verantwortung trägt und Risiken übernimmt, ist es eine Entspannung, sich nachts kraftvollen Liebesspielen hinzugeben. Ob verliebt oder naiv, oft kommt es der Frau entgegen, sich zugunsten eines tyrannischen Willens auszulöschen. Aber dafür muss sie sich real beherrscht fühlen.

Für diejenige, die täglich unter Männern lebt, ist es nicht einfach, an die bedingungslose Überlegenheit des männlichen Geschlechts zu glauben. Man hat mir von einer Frau erzählt, die nicht wirklich masochistisch, aber ausgesprochen "weiblich" war, das heißt, der die Selbstaufgabe in den Armen eines Mannes große Lust bereitete. Seit dem Alter von siebzehn Jahren hatte sie mit wechselnden Ehemännern und zahlreichen Liebhabern ein lustvolles Leben geführt. Nachdem sie in einer den Männern übergeordneten Position ein schwieriges Unternehmen erfolgreich in die Hand genommen hatte, beklagte sie, dass sie frigide geworden sei: Eine glückselige Selbstaufgabe war ihr unmöglich geworden, weil sie sich daran gewöhnt hatte, Männer zu beherrschen, weil das männliche Prestige zerronnen war. (...)

Solange die Frau Frau sein will, erzeugt das Unabhängigsein einen Minderwertigkeitskomplex in ihr. Umgekehrt lässt ihre Weiblichkeit sie an ihren Berufschancen zweifeln. (...)

Schluss
Die "weibliche" Frau versucht, indem sie sich zur passiven Beute macht, auch den Mann auf seine fleischliche Passivität zu reduzieren. Sie bemüht sich, ihn in die Falle zu locken, ihn durch das Begehren, das sie als fügsam sich darbietendes Ding hervorruft, zu fesseln. Die "emanzipierte" Frau dagegen will aktiv sein, sie will zugreifen, sie verweigert die Passivität, die der Mann ihr aufzuzwingen sucht. (...)

Die "moderne" Frau dagegen akzeptiert die männlichen Werte. Es reizt sie, wie ein Mann zu denken, zu handeln, zu arbeiten und wie er schöpferisch tätig zu sein. Statt die Männer herabzusetzen, behauptet sie, es ihnen gleichzutun. In dem Maße, in dem dieser Anspruch sich in konkreten Verhaltensweisen äußert, ist er legitim und die Anmaßung der Männer verwerflich.

Aber zur Entschuldigung der Letzteren muss man sagen, dass die Frauen das Spiel gern durcheinanderbringen. Eine Mable Dodge Luhan wollte D. H. Lawrence durch die Reize ihrer Weiblichkeit unterwerfen, um ihn dann geistig zu beherrschen. Viele Frauen suchen sich auf sexuellem Gebiet eine männliche Unterstützung zu sichern, um dann durch ihre Erfolge zu beweisen, dass sie einem Mann gleichwertig sind. Sie spielen ein doppeltes Spiel, indem sie gleichzeitig traditionelle Rücksichtnahme und neue Anerkennung verlangen, indem sie auf ihre alte Magie und auf ihre jungen Rechte setzen. Man versteht, dass der Mann verärgert in die Defensive geht.

Aber auch er spielt falsch, wenn er verlangt, dass die Frau fair bleiben soll, während er ihr durch sein Misstrauen, durch seine Feindseligkeit unerlässliche Trümpfe verweigert. In Wahrheit kann der Kampf zwischen ihnen keine klare Gestalt annehmen, da das Wesen der Frau selbst undurchsichtig ist. Sie tritt dem Mann nicht als ein Subjekt gegenüber, sondern als ein paradoxerweise mit Subjektivität begabtes Objekt. Sie begreift sich gleichzeitig als sich selbst und als anderes - ein Widerspruch, der verheerende Folgen hat.

Wenn sie ihre Stärke und ihre Schwäche als Waffen benutzt, ist dies kein vorbedachtes Kalkül: Spontan sucht sie ihr Heil auf dem ihr auferlegten Weg der Passivität, erhebt aber gleichzeitig aktiven Anspruch auf ihre Souveränität. Zweifellos verstößt dieses Vorgehen gegen die Regeln des "gerechten Krieges", aber es wird ihr durch die ihr zugewiesene zwiespältige Situation diktiert. Wenn der Mann sie als eine Freiheit behandelt, empört er sich, dass sie für ihn eine Falle bleibt. Und wenn er ihr insofern schmeichelt, als sie seine Beute ist und sie als solche beglückt, ärgert er sich über ihren Anspruch auf Autonomie. Was immer er tut, er fühlt sich ausgespielt, und sie fühlt sich verletzt.
Der Streit wird andauern, solange Mann und Frau sich nicht als Gleiche anerkennen, das heißt, solange die Weiblichkeit als solche bestehen bleibt. Wer von beiden aber ist mehr darauf bedacht, die Weiblichkeit zu bewahren? Die Frau, die sich von ihr befreit, will auf die Vorteile der Weiblichkeit trotzdem nicht verzichten. Und der Mann verlangt, dass sie dann auch deren Grenzen übernimmt. "Es ist leichter , ein Geschlecht anzuklagen, als das andere zu entschuldigen", schreibt Montaigne. Das Austeilen von Lob und Tadel führt zu nichts. Wenn dieser Teufelskreis so schwer zu durchbrechen ist, liegt das in Wirklichkeit daran, dass jedes der beiden Geschlechter zugleich Opfer seiner selbst und Opfer des anderen ist. Zwischen zwei Gegnern, die sich in ihrer reinen Freiheit gegenübertreten, kann eine Einigung leicht hergestellt werden, zumal ihr Kampf niemandem nützt. Aber die Schwierigkeit der ganzen Angelegenheit rührt daher, dass beide Lager sich im heimlichen Einvernehmen mit dem jeweiligen Feind befinden.

Die Frau verfolgt einen Traum der Selbstaufgabe und der Mann einen Traum der Entfremdung. Die Unauthentizität zahlt sich nicht aus: Jeder verübelt dem anderen das Unglück, das er sich zugezogen hat, indem er der Versuchung des bequemsten Weges nachgab. Was einer am anderen hasst, ist das offensichtliche Scheitern der eigenen Unaufrichtigkeit und der eigenen Feigheit. (...)

Wie das sorglose Lumpenpack, das unbeschwert im Dreck lebt; wie die fröhlichen Neger, die unter Peitschenhieben lachen; wie die lebensfrohen Araber aus dem Sous, die mit einem Lächeln auf den Lippen ihre verhungerten Kinder zu Grabe tragen; genießt auch die Frau das unvergleichliche Privileg der Unverantwortlichkeit. Ohne Mühe, ohne Lasten, ohne Sorgen hat sie ganz klar den "besseren Teil". Seltsam ist nur, dass diejenigen, die den besseren Teil haben, mit perverser Beharrlichkeit - die sicher von der Erbsünde herrührt - quer durch alle Jahrhunderte und alle Nationen ihren Wohltätern zurufen: "Es ist zu viel! Wir wären mit eurem Teil zufrieden!" Doch die wunderbaren Kapitalisten, die edelmütigen Kolonialherren, die großartigen Männer bleiben dabei: "Behaltet den besseren Teil, behaltet ihn für euch!"

Der unbestimmte Begriff der "Gleichheit in der Ungleichheit", dessen beide sich bedienen - der Mann, um seinen Despotismus, die Frau, um ihre Feigheit zu verschleiern -, hält der Erfahrung nicht stand. Im Austausch zwischen den Geschlechtern beruft sich die Frau auf die abstrakte Gleichheit, die man ihr garantiert, und der Mann auf die konkrete Ungleichheit, die er feststellt. Daraus ergibt sich in allen Liebesbeziehungen ein dauernder und grenzenloser Streit über die Zweideutigkeit der Wörter (k)geben und (k)nehmen: Sie beklagt sich, alles zu geben, während er beteuert, dass sie ihm alles nimmt.

Die Frau muss begreifen, dass bei einem Austausch - und dies ist ein Grundgesetz der politischen Ökonomie - immer der Wert maßgeblich ist, den die angebotene Ware für den Käufer hat, nicht der, den der Verkäufer ihr beimisst. Man hat sie hinters Licht geführt, als man sie glauben machte, sie sei unbezahlbar. In Wirklichkeit ist sie für den Mann nur eine Zerstreuung, ein Vergnügen, eine Gesellschaft, ein unwesentliches Gut. Für sie dagegen ist der Mann Sinn und Rechtfertigung ihrer Existenz. Es findet also kein Austausch von zwei Objekten gleicher Güte statt. (...)

Man darf nicht glauben, es reiche aus, die ökonomischen Bedingungen des Frauseins zu verändern, um eine Umwandlung der Frau herbeizuführen. Dieser Faktor war und bleibt zwar der wichtigste Motor ihrer Evolution, doch solange er nicht die ethischen, gesellschaftlichen, kulturellen und sonstigen Konsequenzen nach sich gezogen hat, auf die er verweist und die er verlangt, kann die neue Frau nicht in Erscheinung treten. Bis zum heutigen Tag sind diese Voraussetzungen nirgendwo verwirklicht, weder in der Sowjetunion noch in Frankreich, noch in den USA. Und darum ist die heutige Frau zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hin- und hergerissen. (...)

Man lasse die Schwarzen wählen, und sie werden des Wählens würdig sein. Man gebe der Frau Verantwortung, und sie wird sie zu übernehmen wissen. Tatsache ist, dass man von den Unterdrückern keine selbstlose Geste der Großzügigkeit erwarten kann. Aber es entstehen - bald durch die Auflehnung der Unterdrückten, bald durch die Evolution der privilegierten Kaste selbst - immer neue Situationen. So haben die Männer sich in ihrem eigenen Interesse veranlasst gesehen, das weibliche Geschlecht ein Stück weit zu emanzipieren: Die Frauen brauchen ihren Aufstieg nur noch fortzusetzen, und ihre Erfolge ermutigen dazu. Es scheint ziemlich sicher, dass sie über kurz oder lang eine vollkommene ökonomische und gesellschaftliche Gleichheit errungen haben werden, was einen inneren Wandel nach sich ziehen wird.

Manche werden nun sagen, dass eine solche Welt, wenn sie denn möglich ist, nicht wünschenswert sein kann, dass das Leben, wenn die Frau "genauso" sein wird wie der Mann, seine "Würze" verliert. Auch dieses Argument ist nicht neu. Diejenigen, die am Bestand der Gegenwart interessiert sind, weinen der wunderbaren untergehenden Vergangenheit immer Tränen nach, ohne der jungen Zukunft ein Lächeln zu schenken.

Es stimmt, dass durch die Abschaffung der Sklavenmärkte die großen, so prachtvoll mit Azaleen und Kamelien geschmückten Plantagen ausgerottet worden sind, dass die ganze feine Zivilisation der Südstaaten dadurch ruiniert wurde. Die alten Spitzen haben sich in der Rumpelkammer der Zeit zu den glockenreinen Stimmen des Kastratenchors der Sixtinischen Kapelle gesellt, und auch ein gewisser "weiblicher Charme" droht in Staub zu zerfallen. Ich gebe zu, dass man schon ein Barbar sein muss, um seltene Blumen, Spitzen, kristallreine Eunuchenstimmen und den weiblichen Charme nicht zu schätzen. (...)

Tatsache ist, dass dieses Opfer den Männern besonders schwerfällt. Es gibt nur Wenige, die von ganzem Herzen wünschen, dass die Frau den Weg ihrer Erfüllung fortsetzt. Diejenigen, die die Frauen verachten, sehen nicht, was sie dabei gewinnen könnten; diejenigen, die sie lieben, wissen zu gut, was sie zu verlieren haben. Es ist richtig, dass die derzeitige Evolution nicht nur den weiblichen Charme bedroht. Indem die Frau für sich zu existieren beginnt, gibt sie die Funktion des Doubles und der Mittlerin auf, die ihr in der Männerwelt einen bevorzugten Platz einbringt.

Dem Mann, der zwischen dem Schweigen der Natur und der anspruchsvollen Anwesenheit anderer Freiheiten steht, erscheint ein Wesen, das sowohl seinesgleichen als auch passives Ding ist, als ein großer Schatz. Die Gestalt, unter der er seine Gefährtin wahrnimmt, mag durchaus mythisch sein, die Erfahrungen, deren Quelle und Vorwand sie ist, sind darum nicht weniger real: Es gibt kaum welche, die kostbarer, inniger, glühender wären. Dass die Abhängigkeit, die Unterlegenheit, das Unglück der Frauen diesen Erfahrungen ihren besonderen Charakter verleihen, wird wohl niemand bestreiten. Sicher wird die Autonomie des weiblichen Geschlechts, wenn sie den Männern manchen Verdruss erspart, ihnen auch viel Unbequemlichkeit bereiten. Sicher gibt es gewisse Arten, das sexuelle Abenteuer zu leben, die der Welt von morgen verlorengehen. Aber das bedeutet nicht, dass die Liebe, das Glück, die Poesie und der Traum aus ihr verbannt wären.

Hüten wir uns, dass unser mangelndes Vorstellungsvermögen nicht immer die Zukunft entvölkert! Sie ist für uns nur eine Abstraktion. Jeder von uns beklagt in ihr dumpf die Abwesenheit dessen, was er selbst war. Aber die Menschheit von morgen wird sie in ihrem Fleisch und in ihrer Freiheit leben: Es wird ihre Gegenwart sein, und sie wird diese Gegenwart vorziehen. Unter den Geschlechtern werden neue körperliche und affektive Beziehungen entstehen, die wir uns nicht vorstellen können. Schon heute gibt es keusche wie auch sexuelle Formen der Freundschaft, Rivalität, Komplizenschaft und Kameradschaft zwischen Mann und Frau, die in den vergangenen Jahrhunderten nicht hätten erfunden werden können. Im Übrigen erscheint mir nichts so anfechtbar wie das Schlagwort von der langweiligen Gleichförmigkeit der neuen Welt. Ich sehe nicht, dass die heutige Welt ohne Langeweile wäre, und auch nicht, dass die Freiheit je Gleichförmigkeit schafft. (...)

Es ist Aufgabe des Menschen, dem Reich der Freiheit inmitten der gegebenen Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Damit dieser höchste Sieg errungen werden kann, ist es unter anderem notwendig, dass Männer und Frauen über ihre natürlichen Unterschiede hinaus unmissverständlich ihre Geschwisterlichkeit behaupten.

Simone de Beauvoir
Der Text ist ein Auszug aus "Das andere Geschlecht" (auch als TB, Rowohlt Verlag).

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