Das Gutacher-(Un)Wesen
Jüngst erschien im Westfalenblatt ein bemerkenswerter Bericht mit dem Titel: „Zangengeburt mit schweren Folgen.“ Das Bemerkenswerte an dem Bericht ist die öffentliche Infragestellung eines medizinischen Gutachters, dessen Urteil über Wohl und Wehe – Schmerzensgeld/Schadensersatz oder doch keinerlei Kompensation – einer schwer geschädigten Frau entscheidet. Worum geht es also?
Eine Mutter hat infolge einer Zangengeburt körperliche Schäden am Beckenboden erlitten, die sie bis heute in Form einer gravierenden Blasenschwäche massiv beeinträchtigen. Die Betroffene hat den Leiter der Geburtsklinik in Bielefeld verklagt, das Gericht einen medizinischen Gutachter – Professor Thomas Schwenzer – zur Beurteilung hinzugezogen. Der kam zu dem Schluss: „Die Versorgung der Frau war zwar „nicht ‚state of the art‘, aber zulässig“ – so wird er wörtlich zitiert.
Wie kann eine Versorgung nicht dem medizinischen Standard entsprochen haben und dennoch für „zulässig“ erklärt werden? Offensichtlich geht dies ohne Aufschrei durch, wenn es sich um weibliche Opfer handelt. Das ist in der Geburtshilfe häufig der Fall. Sie ist leider ein Eldorado für Handlungen, die nicht „state of the art“ sind und dennoch von den Gerichten nicht sanktioniert werden.
Wundert diese Expertenaussage? Nur dann nicht, wenn man weiß, dass der Gutachter zuletzt vor 28 Jahren diejenige ärztliche Maßnahme vorgenommen hat, zu der er berufen wurde, sein fachliches Urteil abzugeben. Würde man einen Brückenbauingenieur, der zuletzt vor 28 Jahren eine Brücke konstruiert hat, als Gutachter bei Klärung eines aktuellen Einsturzes hinzuziehen?
Als Ärztin erhalte ich regelmäßig Einblick in Gutachten über Geburtsschäden, wenn betroffene Frauen um Rat und Hilfe bitten. Ich selbst habe bereits etliche verfasst oder bei der Erstellung beraten. Mein Artikel ist also keineswegs objektiv, er will es auch gar nicht sein. Denn er ist geschrieben unter dem Eindruck von etlichen Medizin- Gerichtsverfahren, in denen unfähige Gutachter über Frauenschicksale entscheiden dürfen.
Und das ist keineswegs nur (m)ein subjektiver Eindruck. Die Rechtanwältin Anne Patsch weist im Internet darauf hin, dass dies bei den Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) kein unbekanntes Phänomen ist. An den MDK können sich geschädigte PatientInnen wenden, um von ihrer Krankenkasse überprüfen zu lassen, ob der Verdacht auf einen ärztlichen Behandlungsfehler begründet ist. Ein Problem sei jedoch, dass „die Gutachter des MDK sehr häufig sich bereits im Ruhestand befindliche Ärzte sind, und dadurch über keine aktuellen praktischen Erfahrungen in der Behandlung von Patienten verfügen“, räsonniert die Anwältin. Daher sei es durchaus denkbar, dass ein „tatsächlich vorliegender Behandlungsfehler seitens des MDK-Gutachtens nicht als solcher erkannt und
dargestellt wird“. Das bedeutet: Gutachten zweiter Klasse für KassenpatientInnen.
Das ist nicht nur beim MDK so, auch die Gerichte akzeptieren bisweilen ausrangierte MedizinerInnen. Mir selbst ist noch ein eindrucksvolles Beispiel vor Augen, in dem ein männlicher Gutachter jenseits der 70, der in seinem Berufsleben hauptsächlich Brustkrebs behandelt hatte, der Klinik bescheinigte, die ÄrztInnen hätten beim Geburtsverlauf nichts falsch gemacht – eine groteske Fehleinschätzung zu Ungunsten der Frau.
Wird ein solcher Gutachter vom Gericht bestellt, so triggert dessen Sachverständigengutachten bereits vor einer Verhandlung in einem selbständigen Beweisverfahren die Vorstellung, niemand habe Schuld, ÄrztInnen, Hebammen, die Klinik – alle sind entschuldigt. Um einem solchen Gutachten etwas entgegenzuhalten, bleibt den Geschädigten keine andere Möglichkeit, als selbst ein Gegengutachten zu beauftragen. Dieses müssen sie jedoch selbst bezahlen, selbst dann, wenn ihre Rechtschutzversicherung die Kostenübernahme für den Fall ansonsten zugesagt hat. Denn das beinhaltet in aller Regel lediglich die Kosten, die durch den vom Gericht beauftragten Gutachter bestehen, nicht jedoch ein weiteres, sogenanntes „Privatgutachten“.
So im Fall Bielefeld – die Patientin hatte ein Gegengutachten in Auftrag gegeben. Es fiel vernichtend für den Erstgutachter und die Geburtsklinik aus. Nur – einen solchen Fachmann muss „frau“ erst einmal ausfindig machen und hoffen, dass das Gericht dessen Expertise erkennt. Denn es besteht die Gefahr, dass aufgrund des vorherigen Urteils RichterInnen Vorurteile haben.
In der Geburtshilfe besteht für Frauen außerdem ein besonderes Handicap: Jahrzehntelang konzentrierten sich hier die JuristInnen auf den Schaden des Kindes. Es geht in solchen Prozessen zum Beispiel um Kinder mit Armlähmungen, weil sie mit einer sogenannten Schulterdystokie stecken blieben. Es geht um Kinder, die wegen Sauerstoffmangel eine Hirnschädigung davontrugen. Um Kinder, die bei Anwendung von Saugglocke oder Zange verletzt worden sind. Oder um jene Kinder, die starben, weil man sich nicht rechtzeitig für einen Kaiserschnitt entschieden hatte.
Dass Mütter mit physischen oder psychischen Schäden infolge von Fehlern kämpfen müssen, die im Kreißsaal verursacht wurden, wird juristisch bis heute kaum berücksichtigt. Es fallen dann von den Richtern Sätze wie: „Aber Sie haben doch ein gesundes Kind“ – als wollten sie sagen, die Mutter könne sich doch nicht beschweren, wenn zwar sie selbst, nicht aber das Kind Schäden davontrug. Frau muss halt Opfer bringen.
Ein weiterer Grund dafür, dass in vielen Gutachten steht, der Schaden sei „schicksalshaft“ eingetreten, liegt in der überkommenen Vorstellung, gegen gewisse Schäden am Beckenboden sei man eben nicht gefeit bei natürlichen Geburten. Die ÄrztInnen und Hebammen bekräftigen dies mit dem stetigen Hinweis: „Das haben viele.“ Und genauso sind auch die Gutachter sozialisiert.
Harninkontinent nach einer Geburt sind tatsächlich viele Mütter, viele spüren auch, dass der Halt nach unten fehlt. Dass dies aber schuldhaft jemandem zuzurechnen ist, sehen noch die wenigsten Gutachter ein, weil sie in der Ausbildung noch nie davon gehört haben. Dass etwa jeder Dammschutz fehlte, die Geburt über Gebühr verzögert oder zu früh zum Pressen aufgefordert wurde; dass der Dammschnitt und die Zange zu schweren Verletzungen führten oder dass massiver Druck in Form von Kristellern einen Abriss des Beckenbodenhebermuskels herbeiführte – dies alles ist in einem solchen Framing dann eben „schicksalshaft“.
Am wichtigsten ist jedoch, dass die massiven Schäden kaum als bedeutsam anerkannt sind. Am ehesten können noch Frauen mit tiefen Dammrissen und der Unfähigkeit, ihren Stuhl zu halten, mit Mitleid rechnen. Harninkontinenz klingt schon weniger schlimm, auch ein Muskelabriss wird eher wie eine Sportverletzung taxiert, obwohl der das Leben zur Hölle machen kann.
Am wenigsten dürfen jene Frauen auf Verständnis hoffen, deren sexuelles Erleben nicht mehr so funktioniert wie zuvor. Dabei können tiefe Risse oder Überdehnungen und wulstige Narben nach schlecht genähten Verletzungen in der hocherogenen Beckenbodenregion zwischen Anus und Klitoris die weibliche Lust dauerhaft dämpfen. Obwohl dies in der wissenschaftlichen Literatur vielfach
beschrieben ist, ist es in diesem Zusammenhang noch überhaupt nicht als Schadensfall kategorisiert.
Diese Beobachtungen gelten für hiesige Verhältnisse. In den USA, wo das Bewusstsein schon größer ist und AnwältInnen gut am Durchsetzen von Schadensersatzansprüchen und Schmerzensgeldforderungen verdienen, ist das anders. Hier haben sich bereits ganze Kanzleien auf derartige Prozesse spezialisiert.
Österreich erleichtert den Frauen ebenfalls, ihre Rechte durchzusetzen, bestätigt Prof. Dr. med. Peter Husslein aus Wien: „Ich habe leider weitgehend schlechte Erfahrung mit deutschen Gerichten und deutschen Gerichtsgutachten. Die Patientinnen- Rechte werden dort zum Teil mit Füßen getreten. Da ist Österreich weiter. Beispielsweise legt ein Oberstes Gerichtshof-Urteil fest, dass, wenn die Schwangere einen Kaiserschnitt wünscht, sie über Vor- und Nachteile eines weiteren Versuchs einer vaginalen Geburt und der Alternative Sektio aufgeklärt werden muss – unabhängig von einer medizinischen Indikation, oder der Sicht des Arztes. Geschieht dies nicht, handelt es sich um eine eigenmächtige Heilbehandlung. Der Arzt oder das Spital haften dann wegen der fehlenden Zustimmung zum Weiterführen der vaginalen Geburt für alle potenziellen Schäden unabhängig von einem etwaigen Behandlungsfehler.“
Es kommt daher für Frauen hierzulande nun entscheidend darauf an, zusammen mit ihrem Rechtsbeistand selbst solche GutachterInnen zu finden, die den Namen ExpertInnen auch wirklich verdienen und sich nicht schon längst aus der Praxis verabschiedet haben. Wichtig ist zudem, ein Gutachten zu hinterfragen und eine Gegenstimme einzuholen.
GutachterInnen sollten überhaupt von vorneherein gezwungen sein, ihre Eignung zweifelsfrei zu belegen. Stellt sich dies als Falschbehauptung heraus, sollte das sanktioniert werden. Stellt sich ein Gutachten als fehlerbehaftet heraus und eine Frau verliert Ansprüche, weil das Verfahren zu ihren Ungunsten ausgeht, sollte man den Gutachter ebenso verklagen wie zuvor die Klinik.
Nur so werden auch GutachterInnen gezwungen, sich endlich ihrer Verantwortung zu stellen!
Am allerbesten allerdings wäre, die Aufklärung auch bei den ÄrztInnen wäre schon so fortgeschritten, und die Rücksichtnahme auf die Mütter ebenso, dass solche meist vermeidbaren Schäden gar nicht erst entstehen.
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