Das Scharia-Recht mitten in Deutschland

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Der Tag im Mai 2014, an dem Soudeh Zarfashani und ihr Lebensgefährte Thomas beim Wuppertaler Standesamt das Aufgebot bestellen wollten, hätte eigentlich ein glücklicher sein sollen. Aber er wurde das Gegenteil: eine Katastrophe. Als die Studentin das Standesamt wieder verließ, schwebte sie nicht auf Wolken, sondern fühlte sich tief gedemütigt. Denn auf dem Standesamt hatte man der 30-Jährigen mitgeteilt: Um Thomas zu heiraten, brauche sie die Erlaubnis ihres Vaters. Soudeh konnte es nicht fassen.

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Seit 2007 lebt die Iranerin in Deutschland. Sie kam mit 23 Jahren und wusste, dass sie bleiben wollte. „Weil ich für mich als Frau im Iran keine Zukunft gesehen habe.“ Soudeh begann ein Studium des Bauingenieurwesens an der Uni Wuppertal, das sie inzwischen fast abgeschlossen hat. Sie lernte Thomas kennen und im Sommer 2014 wollten die beiden heiraten. „Ich konnte beim besten Willen nicht ahnen, dass ich als erwachsene Frau nach sieben Jahren in Deutschland dazu die schriftliche Erlaubnis meines Vaters brauche – zumal, wenn ich einen Deutschen heirate“, sagt sie. Aber da stand es, schwarz auf weiß, in dem Merkblatt des Standesamtes für iranische Staatsangehörige: „Iranische Frauen haben bei ihrer ersten Eheschließung eine Eheeinwilligung ihres Vaters in urkundlicher Form vorzulegen, in der auch der Name des anderen Verlobten genannt sein muss."

So schreibt es das iranische Recht vor, das auf der Scharia beruht und Frauen daher in erster Linie als weisungsgebundene Tochter eines Vaters oder Ehefrau eines Ehemannes betrachtet. Im Klartext heißt das: Mitten in Deutschland wird auf Ämtern und auch vor Gerichten die Scharia angewandt. Auch, wenn das zutiefst frauenfeindlich ist. Auch, wenn es gegen unsere Verfassung verstößt.

Soudeh Zarfashani ist nicht die einzige, deren Vorstellungskraft das sprengt. Kritische Stimmen wie die Anwältin Seyran Ates warnen schon seit Jahren: „Natürlich haben die Islamverbände den Wunsch, auch in unserem Rechtssystem die Scharia einzuführen.“ Skandalöse Urteile geben Ates Recht. Zum Beispiel verweigerte das Frankfurter Amtsgericht 2007 einer in Deutschland geborenen, aber marokkanischstämmigen Ehefrau die Scheidung vor Ablauf des Trennungsjahres. Sie war von ihrem marokkanischen Mann mehrfach misshandelt worden und empfand die Fortsetzung der Ehe als „unzumutbare Härte“. Die liege nicht vor, befand die Richterin. Begründung: In diesem Kulturkreis sei es schließlich „nicht unüblich, dass der Mann gegenüber der Frau ein Züchtigungsrecht ausübt“. Das Urteil sorgte für Schlagzeilen, die Richterin wurde versetzt.

Andere, ganz ähnliche Urteile jedoch blieben von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. So kassierte das Oberlandesgericht Hamm 2010 eine Entscheidung des Amtsgerichts Bottrop, das beschlossen hatte, die dreifache Verstoßung der Ehefrau durch ihren marokkanischen Ehemann nicht als rechtsgültige Scheidung anzuerkennen. Das OLG Hamm hingegen sah in dieser auf der Scharia beruhenden Praxis „keine unangemessene Benachteiligung der Frau“.

Und das Amtsgericht Siegburg zog bei einem Scheidungsprozess zweier iranischer Staatsangehöriger, die seit vier Jahren getrennt in Troisdorf lebten, gleich einen Mullah hinzu. Der verhandelte, dass der Ehemann für seine Zustimmung zur Scheidung – die die Frau dringend brauchte, um ihre todkranke Mutter im Iran besuchen zu können – die so genannte „Morgengabe“ zurückerhielt. Mit anderen Worten: Die Frau verzichtete auf sämtliche Unterhaltsansprüche.

Über Urteile wie diese war und ist auch Jutta Wagner „fassungslos“. Die Berliner Fachanwältin für Familienrecht war bis 2011 Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes. Sie beklagte 2012 in der Legal Tribune, dass „sich zunehmend eine Paralleljustiz entwickelt, ausgeübt von islamischen Friedensrichtern unter Anwendung der Scharia“. Ihre Schlussfolgerung: Man müsse sich fragen, „ob das deutsche Internationale Privatrecht angesichts der Entwicklung der deutschen Rechtswirklichkeit in den letzten Jahrzehnten nicht einer gewissen Überarbeitung bedarf“.

„Internationales Privatrecht“, kurz: IPR, so lautet der juristische Fachterminus für jenen Rechtsbereich, „der uns sagt, wann wir ausländisches Recht anwenden“, erklärt Nadjma Yassari vom „Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht“. Wie der Name schon sagt, betrifft das IPR allerdings nicht Strafrecht und Verwaltungsrecht, sondern nur das Zivilrecht: Familienrecht, Erbrecht, Statusrecht.

Im angloamerikanischen Kulturkreis habe schon immer das „common law“ gegolten, erläutert Juristin Yassari, das heißt: Egal, woher die Streitparteien kommen – esgilt das Recht des Landes, in dem es angewandt wird. Eine konsequente Folge der Tatsache, dass sich die USA schon früh als Einwanderungsland verstanden haben. In Deutschland hingegen ging man lange davon aus, dass „Gastarbeiter“ eben „Ausländer“ seien und blieben, und für sie folgerichtig ausländisches Recht zu gelten habe. Ein Recht, das, wenn es aus Ländern stammt, die Frauen entrechten und als Menschen zweiter Klasse behandeln, Frauen massiv benachteiligt.

Umso erfreulicher, dass die Forderung von Juristinnen wie Jutta Wagner, das Internationale Privatrecht zeitgemäß – und damit auch geschlechtergerecht! – zu überarbeiten, inzwischen in die Tat umgesetzt wurde, zumindest teilweise. Wie so oft, wenn Deutschland in Sachen Gleichberechtigung einen Schritt nach vorn macht, kam der Anstoß dafür von der Europäischen Union.

Im Jahr 2008 traten die ersten beiden EU-Verordnungen in Kraft, die bei Rechtsstreitigkeiten nicht mehr die Staatsangehörigkeit der KontrahentInnen zum Maßstab macht, sondern ihren „gewöhnlichen Aufenthaltsort“.

Rom I und Rom II, wie die Verordnungen in Expertenkreisen heißen, betreffen das Arbeits- und Vertragsrecht. Seit Juni 2012 regelt Rom III auch das für Frauen so existenzielle Scheidungsrecht. Seitdem gilt: Bei einer Ehescheidung gilt „das Recht des Staates, in dem die Ehegatten zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben“. Allerdings gibt es eine – für Frauen riskante –
Ausnahme: Die beiden Eheleute können sich gemeinsam darauf einigen, das Recht ihres Herkunftslandes anzuwenden.

Urteile wie das aus Frankfurt, Hamm oder Siegburg wären allerdings heute dank EU nicht mehr möglich. Denn die Verordnung erklärt in Artikel 10: „Sieht das anzuwendende Recht eine Ehescheidung nicht vor oder gewährt es einem der Ehegatten aufgrund seiner Geschlechtszugehörigkeit keinen gleichberechtigten Zugang zur Ehescheidung (...), so ist das Recht des Staates des angerufenen Gerichts anzuwenden.“

Auch anderen Fällen von Frauenfeindlichkeit hat die EU zum Glück einen Riegel vorgeschoben. Gesetze eines anderen Landes dürfen nämlich vom Gericht nicht angewandt werden, wenn sie mit dem so genannten „ordre public“ nicht vereinbar sind: also mit den Wertvorstellungen und Rechtsgrundsätzen des EU-Landes, in dem der Prozess stattfindet. Und die EU macht weiter: Rom IV, V und VI sind schon in Arbeit. Sie regeln das für Frauen so entscheidende Erbrecht, Ehegüterrecht und Unterhaltsrecht.

Wie dehnbar allerdings der „ordre public“ ist, zeigt sich am Fall von Soudeh Zarfashani. Verstößt es nicht auch massiv gegen die hiesigen Wertvorstellungen und Rechtsgrundsätze, dass eine 30-jährige Frau nur heiraten darf, wenn ihr Vater zustimmt? „Natürlich!“ sagt Familienrechtlerin Jutta Wagner. „Eine so patriarchale Auffassung steht unserem Verständnis von Gleichberechtigung diametral entgegen. Das ist nicht kompatibel mit unserem Grundgesetz.“

„Das ist eine Auslegungsfrage“, meint hingegen Soudehs Rechtsanwältin Ina Rosenbaum. Deutschland akzeptiere nunmal „die Hoheit, die jeder Staat über seine Staatsangehörigen hat“. Und wenn nun ein Staat die Polygamie erlaubt? Oder die Eheschließung einer 14-Jährigen? Im Falle der Vielehe sei das „eine Einzelfallentscheidung“. Die Kinderehe hingegen sei ein klarer Verstoß gegen den „ordre public“, erklärt die Anwältin. „Unsere moralischen Wertvorstellungen lassen es nicht zu, dass ein Kind heiratet.“

Ob das lebenslange Bestimmungsrecht eines Vaters über seine Tochter aus Juristensicht ebenfalls gegen deutsche Werte verstößt, dafür wollte Rosenbaum ihre Hand nicht ins Feuer legen. Deshalb wollte sie vor Gericht anders argumentieren. Laut Bürgerlichem Gesetzbuch könnte der Präsident des zuständigen Oberlandesgerichtes Soudeh nämlich „in besonderen Fällen“ von der Pflicht befreien, ein „Ehefähigkeitszeugnis“ beizubringen. Soudeh aber wollte dem Landgerichtspräsidenten ihre Familienverhältnisse nicht en detail darlegen. „Das war mir zu viel!“ sagt die angehende Bauingenieurin. „Warum reicht denn nicht die Tatsache, dass ich hier in Deutschland ein selbstständiger Mensch bin?“ In einem Akt der Verzweiflung griff sie zum Telefonhörer. „Es war mir lieber, meinen Vater anzurufen, als einem Richter, der meine Rechte ignoriert, meine Familiengeschichte darzulegen.“ Soudehs Vater gab seine Erlaubnis.

Wir dürfen gespannt sein, wann der deutsche Gesetzgeber – mit oder ohne EU – sein Ehegesetz so reformiert, dass es der deutschen Verfassung entspricht. Ein Blick auf Artikel 3 könnte helfen. Er lautet: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

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