Die Pflege-Katastrophe
In Deutschland leben heute 6,7 Millionen pflegebedürftige Menschen, die Mehrheit davon, 61 Prozent, sind Frauen. Über vier Millionen davon werden zuhause gepflegt, in der Mehrheit von Frauen. Von Ehefrauen, Töchtern und Schwiegertöchtern. Und auch in den Heimen sind 72 Prozent der Pflegekräfte Frauen.
Frauen verdienen im Durchschnitt weniger und arbeiten öfter in Teilzeit. „Da ist es in gemeinsamen Haushalten sinnvoller, die bezahlte Arbeit der Frau zu Gunsten der Pflege Angehöriger zu opfern“, schreibt die Wirtschaftswissenschaftlerin Mia Teschner. Die Folgen voraussehbar für die Pflegenden: Das Verschwinden aus dem Berufsleben, Abhängigkeit vom Ehemann und die eigene Altersarmut.
Wer in diesen Tagen nach einer Pflegemöglichkeit für die eigenen Eltern bzw. Angehörigen sucht, der ahnt, was da auf Deutschland zukommt. Die wegen des Fachkräftemangels ohnehin angespannte Lage – sie droht zu explodieren. Pflegefachkräfte, Tagespflege- und Heimplätze sind kaum noch zu kriegen, ambulante Pflegedienste verkleinern ihren Versorgungs-Radius, ja sogar Dienste wie das „Essen auf Rädern“ begrenzen ihre Auslieferungen. Je entlegener eine Gegend ist, desto schwieriger wird es, einen Pflegedienst zu finden. Menschen in Ballungsgebieten warten mittlerweile bis zu drei Jahre auf einen Platz im Pflegeheim. Auch Eltern von schwerstbehinderten Kindern beklagen, keine Fachkräfte mehr zu finden.
Die Blicke richten sich nun auf die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Bislang hatte die Politikerin aus Tauberbischofsheim keine Erfahrung im Bereich der Pflege. Doch sie geht in medias res, will die Kompetenzen für Pflegekräfte erhöhen – eine Kernforderung der Pflegeverbände. Warken will sowohl an der Krankenhausreform als auch an der Pflegversicherungsreform ihres Vorgängers festhalten und den Fokus auf „kurzfristige Maßnahmen zur Stabilisierung der Pflegefinanzen“ legen – höchstwahrscheinlich in Form von Beitragserhöhungen. Denn die Kranken- und Pflegekassen stehen vor dem finanziellen Kollaps.
Grundsätzlicheres plant Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU). Sie will mit „Pflegegeld als Lohnersatz“ eine neue Sozialleistung einführen. Prien: „Es wird mit unserer demografischen Entwicklung nicht möglich sein, dass Pflege allein von Fachkräften geleistet wird, deshalb müssen wir einen Einstieg in ein Pflegegeld als Lohnersatz für pflegende Angehörige schaffen. Das würde einerseits – analog zum Elterngeld – hunderttausende Frauen zunächst entlasten. Andererseits verschiebt es das Problem jedoch ins Private und würde einen gefährlichen Anreiz für Frauen schaffen, ganz aus ihren Jobs auszusteigen.
Doch was tun? Die Situation in den Pflegeheimen verschärft sich bereits. Zwar wurden in den letzten Jahren im Zuge der Privatisierung zahlreiche neue Pflegeheime gebaut, weil aber die Pflegekräfte fehlen, können bis zu 30 Prozent der Betten gar nicht betrieben werden. Ein Platz im Pflegeheim kostet nach Angaben des Verbandes der Ersatzkassen (vdrk) mittlerweile im ersten Jahr 2.871 Euro im Monat – bei Pflegegrad zwei! Bei Pflegegrad vier sind es schon 5.900 Euro. Pflegebedürftige mit durchschnittlichen Renten können die hohen Eigenanteile – um die 1.800 bis 2.400 Euro – oft gar nicht mehr bezahlen.
Was liegt da näher, als auf die billigsten aller Pflegevarianten zurückzugreifen? Auf die Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter, von denen immer mehr ihre Berufstätigkeit einschränken oder gar aufgeben müssen, damit sie einen Menschen zuhause pflegen können. Das tun sie dann ganz umsonst, oder mit mickrigen Zuschüssen. Mit Pflegegrad 2 gibt es monatlich 347 Euro dazu, mit Pflegegrad 3 sind es 599 Euro, mit Pflegegrad 4 wären es 800 Euro und mit Pflegegrad 5 monatlich 990 Euro.
Das ist für eine Frau, die einen qualifizierten Beruf einschränken oder gar ganz aufgeben muss, bestenfalls ein Taschengeld, und es geht hier ja nicht nur ums Geld, sondern um ein selbstbestimmtes Leben. Für Gepflegte wie Pflegende.
„Egal, welche Pflegemöglichkeit passt, es gibt von jeder viel zu wenig“, sagt Vera Lux, Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK). Wie so ziemlich jedeR in der Branche kann auch sie nicht nachvollziehen, dass ein so dringendes Thema wie die Pflege bisher politisch keine angemessene Rolle gespielt hat. Wann kommt endlich das „Pflegekompetenzgesetz“, das professionellen PflegerInnen mehr Befugnisse erteilt und den Beruf attraktiver machen soll? – ist die Frage der Stunde.
Denn die Zahl der Pflegebedürftigen steigt – und zwar stärker als erwartet. Sind es heute etwa 6,7 Millionen Menschen, die gepflegt werden, werden es in unserer alternden Gesellschaft bis 2050 zehn Millionen sein. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass Deutschland bis 2049 etwa 2,15 Millionen Pflegekräfte benötigt. 280.000 werden im günstigsten aller Szenarien fehlen. Im schlimmsten Fall fehlen 690.000 Fachkräfte. Denn um 2050, da werden die Babyboomer pflegebedürftig, die größte Alterskohorte, die es je in Deutschland gegeben hat.
In einer alternden Gesellschaft, in der absehbar Hunderttausende Pflegekräfte fehlen werden, müssen immer mehr Pflegebedürftige betreut werden. Wie soll das funktionieren? Wer soll das alles auffangen? Die Frauen selbstverständlich. Ob sie wollen oder nicht – nach Meinung aller ExpertInnen werden es die Frauen sein, die die Pflegekatastrophe ausbaden müssen. Sie werden zuhause bleiben müssen – ganz einfach, weil es keine Alternativen gibt. Noch dazu betrifft die Misere Frauen als Pflegende und als Gepflegte: Es sind nicht nur überwiegend Frauen, die Angehörige zuhause pflegen, sie machen auch den Großteil der professionellen Pflegefachkräfte in Heimen und Krankenhäusern aus, die schon jetzt an der Belastungsgrenze arbeiten. Auch Hunderttausende Menschen aus Ost- und Mitteleuropa für die „24-Stunden-Pflege“ sind weiblich.
Die Frage bleibt: Können Pflegebedürftige in Deutschland also überhaupt noch angemessen versorgt werden? Es sieht nicht so aus.
Während der Pandemie wurden Pflegefachkräfte zu „HeldInnen des Alltags“. Der Hype um sie war schneller vorbei als die Pandemie selbst. Ungefähr 1,2 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in der Altenpflege, über 90 Prozent sind Frauen. Aktuell sind etwa 34.000 offene Stellen in der Pflege gemeldet. Im Schnitt muss eine Pflegekraft in Deutschland 13 Patienten gleichzeitig betreuen – einer der höchsten Werte in Europa. Eine der ersten Pflegerinnen, die die katastrophalen Zustände in Pflegeheimen öffentlich machte, war Eva Ohlerth. 2019 schrieb sie das Buch „Albtraum Pflegeheim“ über die Missstände in Heimen. Ohlerth hat erlebt, wie das ist, wenn eine Pflegerin nachts für mehr als 90 BewohnerInnen allein zuständig ist. „Alte Menschen in Heimen sind eine willenlose Verfügungsmasse. Ihnen werden Windeln angezogen, obwohl sie sie nicht brauchen. Manchen werden die Haare abgeschnitten, damit sie nicht mehr gekämmt werden müssen. Einige müssen auf dem Toilettenstuhl Mittag essen, weil das Zeit spart“, sagt Pflegerin Ohlerth.
Die Schuld allein bei den Pflegerinnen zu suchen, sei natürlich falsch. Es sind die schlechten Arbeitsbedingungen, die verzweifeln lassen. Viele Pflegerinnen opfern sich für den Beruf regelrecht auf, verzichten auf das freie Wochenende, verschieben Urlaube, gehen krank zur Arbeit.
Das Problem ist nicht nur die Personalnot, sondern auch, dass in Folge der Privatisierung das System nicht auf maximale Pflege, sondern auf maximale Rendite angelegt wird. In den vergangenen Jahren haben internationale Finanzinvestoren und Großkonzerne das „Anlageziel Pflegeheime“ entdeckt. 43 Prozent der Heime befinden sich heute in der Hand von privaten Trägern, sogenannten „Private-Equity-Gesellschaften“, die Gewinne durch „Outsourcing“ und „Arbeitsverdichtung“ erzielen. Das heißt, die Pflegeleistungen wurden auf das gesetzlich geregelte Mindestmaß beschränkt.
Niemand schützt die Frauen vor übergriffigem Verhalten und Ausbeutung
Bleibt die Betreuung zuhause, etwa durch Pflegekräfte aus dem Ausland. Die Frauen, die dafür sorgen, dass das deutsche Pflegesystem nicht vollends zusammenbricht, sind die 24/7-Altenpflegerinnen aus Ost-Europa, sogenannte „Live-ins“. „Live-ins“, weil sie ins Leben der alten Menschen „hineingestellt“ werden – und ganz im Sinne der Pflegekassen keine professionelle Ausbildung haben. Über 500.000 sind es mittlerweile in Deutschland. Die meisten dieser Frauen stammen aus Polen, Tschechien oder Rumänien und haben keine Pflege-Ausbildung. Die Frauen leben täglich 24 Stunden mit dem Menschen zusammen, den sie pflegen. Sie übernehmen (offiziell) keine medizinischen Aufgaben, sondern helfen beim Anziehen, Duschen, sie füttern und machen den Haushalt. Nach drei oder vier Wochen fahren sie für einige Tage zurück in ihre Heimat zu ihrer Familie, wo sie nicht selten Kinder haben. Rund 1.100 Euro verdienen die Frauen pro Monat netto, Kost und Logis sind frei. Das ist dennoch oft mehr als das Doppelte, was sie in Polen oder Rumänien verdienen könnten – und die Hälfte von dem, was sie als in Deutschland gemeldete Pflegekräfte bekämen.
Diese Frauen zahlen einen hohen Preis: Sie leben fernab von ihren Familien, oft in Isolation, haben kaum Möglichkeiten, sich zu integrieren. Viele leiden unter Heimweh. Niemand schützt sie vor übergriffigem Verhalten und Ausbeutung. „Arbeitsrecht“ ist für die meisten ein Fremdwort.
Mit der EU-Osterweiterung und der damit einhergehenden „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ ist aus dieser Art Pflege eine ganze Industrie entstanden. Vermittlungsagenturen und Fahrdienste verdienen reichlich. Sie werben mit Agenturfotos für die „Hausengel“, die zu „100 Prozent legal, fair und sicher beschäftigt sind“. Überprüft werden diese Agenturen von niemandem. Die deutschen Pflegeversicherungen und die Familien sind erleichtert, dass es sie gibt. Denn sie sparen hohe Kosten. Manche Angehörige haben moralische Bedenken – aber was sollen sie tun, wenn sie keine andere Möglichkeit finden?
Britta W. aus Leipzig ist es so ergangen. Anfang 2023 hatte der Vater nach dem Tod ihrer Mutter einen Schlaganfall, mit 78, und wurde zum Pflegefall. „Ich habe so plötzlich keine Pflege organisieren können. Wir stehen auf der Warteliste für einen Heimplatz. Zwei Jahre wurden uns genannt.“ Britta ist beruflich von Vollzeit auf 22 Stunden pro Woche gegangen und wartet nun auf Hilfe aus Ost-Europa. Das Teilzeit-Gehalt der Logistikerin reicht vorne und hinten nicht. Und hinzu kommt noch etwas anderes. „Plötzlich gehe ich mit meinem Vater zur Toilette und ziehe beim Waschen seine Vorhaut zurück. Diese Schamgrenzen zu überwinden, das kostet mich enorme Kraft, jeden Tag wieder.“ Im Schnelldurchlauf musste sie das Pflegen lernen: Wie bettet man gebrechliche Menschen? Wie hilft man den eigenen Eltern auf die Toilette und unter die Dusche? Wie füttert man sie? Traue ich es mir zu, Spritzen selbst zu setzen, Katheter zu wechseln? „Für mich war und ist das alles ein Schock“, gesteht Britta.
Damit ist sie nicht allein. Pflegende Angehörige sind oft überfordert und leben an der Belastungsgrenze. Eine VdK-Studie aus dem Frühjahr 2024 zeigt: Über ein Drittel aller pflegenden Angehörigen, sprich Frauen, gibt an, die häusliche Pflege nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr zu bewältigen und unter psychischen Problemen zu leiden.
Das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Denn auch sie gehören zu den pflegenden Angehörigen. Sabine Metzing, Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke, schätzt die Zahl der pflegenden Kinder in Deutschland auf eine halbe Million. „Diese Kinder sind unsichtbar. Kein Unterstützungssystem fühlt sich für sie verantwortlich. Die Jugendhilfe nicht, die Pflegekasse nicht. Sie fallen durch alle Raster“, sagt Sabine Metzing. Noch dazu kümmern sie sich oft um den Haushalt und kleinere Geschwister. Metzing: „Die Kinder fürchten sich vor Ausgrenzung und Stigmatisierung. Gerade Familien, in denen die Kinder intensiv in die Pflege eingebunden sind, scheuen die Öffentlichkeit – aus Angst, dass Behörden eingreifen.“ Oft sähen sich die Jugendlichen auch nicht als pflegende Angehörige, sondern rutschen in ihre Rolle einfach hinein, irgendeiner muss es ja machen. „Was es die Kinder kostet, das wird ihnen erst Jahre später klar“, sagt Metzing.
Was es die Kinder an Kraft kostet, das wird ihnen erst Jahre später klar
Aus der Perspektive der Angehörigen tobt in den USA bereits seit mehreren Jahren unter dem Slogan „A Duty to die“ (Die Pflicht zu sterben) eine heiße Debatte darüber, ob „die Sterbehilfe“ vielleicht auch aus diesem Grund stärker legalisiert werden sollte – also nicht nur bei qualvollen Krankheiten. Denn wenn Angehörige die Pflege nicht schaffen oder sie sich nicht mehr leisten können, wäre es dann nicht sinnvoller, „sich früher zu verabschieden“, um der Familie – und dem Gesundheitssystem – nicht zur Last zu fallen? Der Tod kommt schließlich sowieso, dann eben ein paar Jahre früher. Es ist eine zynische Debatte. Aber sie zeigt, wo die Reise hingehen kann.
Eine repräsentative Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV) zeigt, dass schon jetzt viele alte Menschen Angst haben, nicht in Würde sterben zu können. Knapp jedeR zweite Mensch stirbt in Deutschland im Krankenhaus (44 Prozent), obwohl er oder sie lieber zuhause sterben würde. Nur ein Fünftel aller Krankenhäuser hat eine Palliativstation. Etwas unter vier Prozent der ÄrztInnen haben dafür eine Zusatzausbildung. Hinzukommt, dass fast alle Angebote einer Palliativstation nicht von Versicherungen, sondern von Fördervereinen und Ehrenamtlichen getragen werden. Auch Altenheime bräuchten dringend mehr Palliativbetreuung, um ein Sterben in Würde möglich zu machen.
„Medizin, Pflege, ein Sterben in Würde – das alles wird nicht zusammengedacht. Die Pflege ist eine Großbaustelle“, sagt Berufsverbands-Präsidentin Vera Lux. Und sie ist vor allem ein Drama, das die Menschenwürde gefährdet.
Ausgabe bestellen