Zaza & Simone: Die Unzertrennlichen
Sie war Simone de Beauvoirs erste große Liebe: Elisabeth Lecoin, genannt Zaza. Als sich die beiden zum ersten Mal begegnen, in der katholischen Mädchenschule Cour Desir, sind sie neun bzw. zehn Jahre alt. Schon wenig später ist sich Simone sicher: „Ich kann ohne sie nicht mehr leben.“ Die Geliebte ist ein eigenwilliges, extravagantes Mädchen aus erzkatholischem, großbürgerlichem Hause; die Verliebte, deren Gefühle nicht ganz so leidenschaftlich erwidert werden, ist ein – noch – braves, frommes Mädchen aus bürgerlichen, aber zerrütteten Verhältnissen. Die beiden werden „beste Freundinnen“. Zehn Jahre später wird Zaza an gebrochenem Herzen sterben, offizielle Diagnose: Meningitis. Und Simone wird die brillanteste, umschwärmteste Studentin der Eliteschule École Normale sein.
Was war geschehen?
Den Roman „Die Unzertrennlichen“ dürfen wir getrost als Tatsachenbericht lesen. Die Autorin hat die Namen und ein paar Konstellationen (zwei Schwestern statt einer) nur flüchtig verschlüsselt. Sie hat den Text 1954 geschrieben, fünf Jahre nach Veröffentlichung von „Das andere Geschlecht“ und im Jahr des Erscheinens ihres preisgekrönten Romans „Les Mandarins“, also auf dem Gipfel ihres frühen Ruhms. Doch sie hat ihn nie veröffentlicht. Jean-Paul Sartre soll ihr abgeraten haben, der Text sei „zu intim“. Ein erstaunliches Argument nach „Sie kam und blieb“, dem Schlüsselroman über eine Dreiecksbeziehung von Beauvoir und Sartre mit einer gemeinsamen Freundin.
Sylvie Le Bon de Beauvoir holt das nun nach. Nach 67 Jahren veröffentlicht die letzte Gefährtin und Erbin den Text. Ob das in Beauvoirs Sinne ist? Anzunehmen. Denn die hat ja nicht zufällig all diese unveröffentlichten Texte und Dokumente so sorgfältig aufbewahrt in dem tiefen Wandschrank unter ihren Atelierfenstern in der Rue Schoelcher 14.
Beauvoir starb 1986, die Philosophie-Professorin Le Bon, 80, bringt den Text jetzt ohne eine einzige Streichung, ohne Zensur heraus – was von manchen, vor allem von Betroffenen, wegen Beauvoirs rabiater Ehrlichkeit als skandalös empfunden wurde. Jetzt also dieser autofiktionale Roman.
Wir erleben darin, wie das kleine Mädchen Simone vom Montparnasse, nein, keine Frau, aber ein Ich wird. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Zaza. Deren Mutter hatte zweimal den Heiratsantrag des Vaters ihrer sieben Kinder abgelehnt, aber der Tochter dann vermittelt: Die Liebe kommt mit der Ehe. Zaza beugt sich zunächst den traditionellen Konventionen und verheddert sich dann in der modernen Falle Romantik. Als sie mit 15 von ihrem Jugendfreund getrennt wird, den die Familie als „unpassend“ empfindet („Die Mutter ist Jüdin“), will sie sich von den Zinnen des Schlosses der Familie stürzen. Als ihr mit 21 der Umgang mit ihrer neuen Liebe, einem Studienfreund von Simone, untersagt wird und sie für zwei Jahre zum Studieren nach Oxford geschickt werden soll, gerät sie in ein tödliches Delirium.
In den zehn Jahren der gelebten Zuneigung der Freundinnen passiert viel. Simone verliert ihren zuvor so kindlich vertrauensvollen Glauben und begibt sich auf die „Suche nach der Wahrheit“, „ihrer neusten Leidenschaft“, wie Zaza in einem Brief von 1927 liebevoll ironisch an die damals 19-jährige Freundin schreibt.
Beauvoir hat über ihre Liebe zu Zaza und deren Tod vielfach geschrieben. Ihr erster Memoirenband, die „Tochter aus gutem Hause“, schließt mit den Worten: „Zusammen haben wir beide gegen das zähflüssige Schicksal gekämpft, das uns zu verschlingen drohte. Und lange Zeit habe ich gedacht, ich hätte am Ende meine Freiheit mit ihrem Tod bezahlt.“ Das ist der Schlüsselsatz, den es zu ergründen gilt.
Sylvie Le Bon de Beauvoir veröffentlicht im Anhang dieses aufrichtigen, bewegenden Romans mehrere Originalbriefe von Simone und Zaza, auch im Faksimile. Die Briefe dokumentieren die große Innigkeit und tiefe Ernsthaftigkeit der Beziehung der beiden. Simone beginnt, ihr philosophisches Konzept einer absoluten Ablehnung der Unaufrichtigkeit und des Selbstbetruges zu entwickeln, „la mauvaise fois“. Zaza, die Tochter aus militant katholischem Hause, aber bleibt tiefgläubig.
Doch die beiden tolerieren gegenseitig ihre so unterschiedlichen Wege. Am 13. November 1929 schreibt Simone ihren letzten Brief an die Freundin und schließt mit den Worten: „Ich fühle mich in diesem Moment mehr denn je verbunden, liebe Vergangenheit, liebe Gegenwart, meine liebe Unzertrennliche. Seien Sie umarmt, liebste Zaza.“ Zwölf Tage später ist Zaza tot.
Zaza war eine Frau. Eine Frau, die ohne die Liebe eines Mannes nicht existieren konnte. Ihr Schicksal zeigt, wie tödlich Weiblichkeit für „das andere Geschlecht“ sein kann.
„Ich hätte selbst auch so gern das Recht, sehr einfach und sehr schwach zu sein, eine Frau zu sein (…). Ich zähle auf mich. Ich weiß, dass ich mich auf mich verlassen kann. Aber ich hätte es so gerne nicht nötig, mich auf mich selbst zu verlassen.“ Diese Worte notiert die 18-jährige Simone de Beauvoir in ihr Tagebuch. Doch sie widersteht der süßen Verlockung, „nur“ eine Frau zu sein, und wählt den steinigen Weg der Verantwortung für sich selbst, der Ich-Werdung.
Simone, die Frau mit dem „männlichen Verstand“, die beim Concours den 1. Platz erringt (vor Sartre, der auf dem 2. landet), wählt Sartre, den hässlichsten, aber witzigsten und intelligentesten unter ihren Verehrern. Grund? Er ist ihr ebenbürtig, respektiert sie. „Wenn andere Leute mein Wesen zu deuten behaupteten, so taten sie es, indem sie mich als einen Annex ihrer eigenen Welt betrachteten“, erklärte Beauvoir rückblickend. „Sartre hingegen versuchte, meinen Platz in meinem eigenen System zu respektieren, er begriff mich im Licht meiner Werte und Projekte.“
Wenige Monate vor Zazas Tod beschließen Beauvoir und Sartre ihren lebenslangen Pakt: eine „notwendige Liebe“, die jedoch „Zufallslieben“ nicht ausschließt. Da ist sie 21. Die Turbulenzen, die sich aus dieser „freien Liebe“ ergaben, sind bekannt. Sartre hatte den Takt vorgegeben, aber Beauvoir hat sich sehr schnell ähnliche Freiheiten genommen. Sie hat nur nicht darüber geredet. Aus Takt, und weil einer Frau ein so freies Leben weniger zugestanden wurde und wird.
Auch ihre Affären mit Frauen hat sie verschwiegen. Verständlicherweise. Beauvoirs gelebte Bisexualität wäre zu ihren Lebzeiten wohl der eine Tropfen zu viel gewesen für die seit 1949 weltberühmte Frauenrechtlerin, deren feministisches Grundlagenwerk „Das andere Geschlecht“ Anfang der 1950er Jahre im Vatikan ebenso wie in der Sowjetunion auf dem Index stand. Ihr Ruf als „nicht normale Frau“, also als „Lesbe“ – wie Frauenrechtlerinnen gerne pauschal bezeichnet wurden und werden – war seither besiegelt. Trotz Sartre.
Dabei ist es nicht ohne Komik, dass Beauvoir „Das andere Geschlecht“ ausgerechnet während ihrer leidenschaftlichen Affäre mit dem amerikanischen Autor Nelson Algren („Der Mann mit dem goldenen Arm“) geschrieben hat. Mit ihm hatte sie, wie sie mir erzählt hat, den ersten Orgasmus ihres Lebens. Im Alter von 39 Jahren. So also stand es damals selbst für eine Simone de Beauvoir noch um die Sexualität der Frauen. Algren war auch der einzige Mensch, der den Pakt mit Sartre kurz ins Wanken gebracht hatte. Ganz kurz. Er machte ihr einen Heiratsantrag. Sie blieb bei Sartre.
Als Simone de Beauvoir 1947 mit Sartre in Berlin ist – von wo sie anrührend und einfühlsam über die jungen Nachkriegs-Deutschen berichtet –, schreibt sie Nelson Algren einen Brief mit dem Aufschrei: „Ich möchte vom Leben alles! Ich möchte eine Frau, aber auch ein Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein … Sehen Sie, es ist nicht leicht, alles, was ich möchte, zu bekommen. Und wenn es mir nicht gelingt, werde ich wahnsinnig vor Zorn.“
Schon zwei Jahre vor ihrer Begegnung mit Sartre hatte die 18-jährige Beauvoir die Grundzüge ihres existenzialistischen Konzepts in ihren Tagebüchern skizziert (wie PhilosophInnen inzwischen belegt haben). Doch er veröffentlichte als erster. Noch 1937 wurden ihre ersten Erzählungen von zwei Verlagen abgelehnt, weil „das moderne Frankreich sich nicht dafür interessiere, was Frauen dachten, fühlen und wollten“ (Beauvoir).
Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob Sartre für Beauvoir nicht viel mehr war als nur ihr „Zwilling“. Ob er nicht auch eine Art Medium war. Ein Medium, das ihr, der zur Stummheit verdammten Frau, erlaubte, sich „männlich“ zu artikulieren. Dafür spricht ihre lebenslange Mitarbeit an Sartres Denken und Schreiben – bis hin zu langen Einfügungen in seine Manuskripte, die er wörtlich übernahm. Es gibt ExpertInnen, wie das PhilosophInnen-Paar Kate und Edward Fullbrook, die ihn als „philosophierenden Schriftsteller“ verstehen und sie als „schriftstellernde Philosophin“. Sein abstraktes existenzialistisches Konzept ist bei ihr literarisch verarbeitet – und zwar in der Regel vor ihm.
Die 1937 abgelehnten Texte veröffentlichte Beauvoir übrigens vierzig Jahre später unter dem Titel „Marcelle, Chantal, Lisa“. Es sind Skizzen von „ganz normalen Frauenleben“, die zum Einfühlsamsten gehören, was je eine Frau über Frauen geschrieben hat. Simone de Beauvoir versteht auf fast unheimliche Weise alles: die „männliche“ Transzendenz wie das „weibliche“ Geworfensein.
Zaza hat das Frausein nicht überlebt. Sie ist in die Falle namens Weiblichkeit geraten. Die hält unsere trotz aller gewaltigen Veränderungen immer noch patriarchale Welt bis heute für Frauen bereit. 5.000 Jahre Patriarchat lassen sich eben nicht in 50 Jahren beheben. An Zazas Seite hat die frühe Existenzialistin Simone de Beauvoir in den Abgrund des Frauseins geschaut, aber sie hat sich anders entschieden. Sie hat ihr Leben in die Hand genommen – und hat die Partie gewonnen. Wie hat sie rückblickend noch so unnachahmlich gesagt? „Ich kenne niemanden, der so zum Glück begabt ist wie ich.“
Der Text erschien zuerst im Spiegel-Spezial „Bestseller“.
WEITERLESEN: Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen. Ü: Amelie Thoma (Rowohlt Verlag).
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