Entblößung oder Verhüllung

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... sind keine Alternativen. Der blutige Kampf der Islamisten gegen die "sündigen" Misswahlen - und die zynische Rechtfertigung der Promoter beweisen es. Den Preis zahlen die Frauen, auf beiden Seiten.
Inzwischen gibt es nach Auskunft des nigerianischen Roten Kreuzes mindestens 215 Tote und rund 11.000 Menschen auf der Flucht. In der Provinz Nord-Nigeria, die im Jahre 2000 gegen den Willen der Zentralregierung den Gottesstaat ausgerufen und die Scharia zum Gesetz erklärt hatte, ist der Bürgerkrieg wieder ausgebrochen. Die Straßenschlachten zwischen den fanatischen Moslems und den Christen, die die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, hatten bereits im Frühjahr 2000 Tausende von Toten gefordert (relativ unbeachtet von dem angeblich um die Menschenrechte doch so besorgten Westen). Jetzt nehmen die nigerianischen Islamisten die Misswahlen zum Anlass, den Bürgerkrieg wieder aufflammen zu lassen. Die in der Hauptstadt geplanten Misswahlen wurden zur Machtprobe zwischen der (noch) weltlichen Zentralregierung und der längst gottesstaatlichen Provinzregierung. Den Preis zahlen die Menschen in Nigeria - und 87 verschreckte Missen.
Sollten die nun in London geplanten Wahlen wirklich am 7. Dezember stattfinden (was bei Redaktionsschluss am 2. Dezember noch nicht klar war), so wäre das ein Skandal und ein hohes Risiko. "Diese Mädchen tragen bluttriefende Bikinis", geißelte die englische Schriftstellerin Murel Gray. Die Abgeordnete Glen Jackson forderte: "Das Beste, was man nach einem solchen Brudermord und Blutvergießen tun kann, ist, den ganzen Wettbewerb abzusagen." Und die Geheimdienste warnen: "El Qaida plant einen Anschlag auf die Misswahlen."
Nur eine scheint unverdrossen: Die - nach Ausfallen der ersten und Erkranken der zweiten Kandidatin - Miss Germany Nr. 3, eine Schönheitssalon-Besitzerin aus Bayern. "Schockiert" ist Indira Selmic nach ihrer überraschenden Entsendung zu dem Londoner Spektakel nur aus einem einzigen Grund: Wegen der Zeitnot, denn: "Sich in einer so kurzen Zeit so vorzubereiten, dass man zufrieden mit seinem Aussehen ist - das ist bei einer Frau immer schwer."
Ein Problem ganz anderer Art hat derweil die zum Tod durch Steinigung verurteilte Nigerianerin Amina Lawal. Ihr Verbrechen: Sie hatte über neun Monate nach der Scheidung ihr drittes Kind bekommen. Vermutlich von der Zentralregierung hatte sie sich mitten im Hin und Her zu dem Ratschlag an die zögernden Missen hinreißen lassen, doch zur Wahl nach Nigeria zu kommen, um vor Ort zu protestieren - und ist vermutlich jetzt vollends verloren. Amina soll nach Abstillen des Kindes, im Frühjahr 2003, gesteinigt werden.
Und das ist die Chronik der Ereignisse: 
Im November 2001 gewinnt die 18-jährige Nigerianerin Agabani Darego die Miss-World-Wahl 2001. Damit steht als Austragungsort der Wahlen 2002 Nigeria fest.
Im Juli 2002 drohen fanatische Muslime, die Miss-Wahl zu stören.
Im August 2002 verurteilt ein Scharia-Berufungsgericht die 31-jährige Amina Lawal Kurami erneut zum Tod durch Steinigung.
Ende August sagen die ersten Schönheitsköniginnen ihre Teilnahme in Nigeria aus Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte und die geplante Steinigung ab. Als erste steigen aus: Miss Dänemark, Miss Norwegen, Miss Elfenbeinküste, Miss Kenia und Miss Togo. Es folgen: Miss Frankreich und Miss Belgien. "Wenn wir uns zusammentun, können wir Druck ausüben", sagte Miss Ann van Elsen der Presse. Und auf die Frage nach der Reaktion der Sponsoren antwortete sie: "Ich habe Geld verloren, dafür aber viel Respekt in meinem Land gewonnen (...) Es mag pathetisch klingen: Aber Amina Lawal ist für mich mehr als eine Schlagzeile. Sie hat mein Leben ein wenig verändert." (Der Spiegel)
Am 11. September ruft der Frauenausschuss der Europäischen Union zum Boykott der Miss-Wahlen auf.
Am 13. September veröffentlicht die Miss-World-Organisation auf ihrer Website eine Presseerklärung der nigerianischen Regierung, die allen Teilnehmerinnen Sicherheit garantiert und behauptet, keine nigerianische Frau würde mehr gesteinigt.
Am 18. September rät die "Gesellschaft für bedrohte Völker", die Wahl in Nigeria solle stattfinden, um so "auf die Verhältnisse in dem Land aufmerksam zu machen".
Anfang Oktober wird die für den 30. November geplante Misswahl wegen des Ramadans, der islamischen Fastenzeit, auf den 7. Dezember verschoben.
Am 16. November schreibt die 20-jährige Journalistin Sioma Daniel, die gerade von ihrer Ausbildung aus Amerika zurück gekommen ist, in der nigerianischen Tageszeitung This Day einen Kommentar. Darin fragt sie, was wohl der Prophet Mohammed zu den Misswahlen gesagt hätte und kommt zu dem Schluss: "Ehrlich gesagt würde er sich vermutlich eine der Missen zur Frau nehmen." - Zwei Tage später entschuldigt die Zeitung sich für das "irrtümliche Erscheinen der Passage". Zu spät.
18. November. 84 Schönheitsköniginnen reisen nach Nigeria, um schon mal die Werbetrommel zu rühren.
Am 20. November gibt es einen Brandanschlag auf das Redaktionsbüro von This Day. Am Tag darauf eskalieren die Proteste der Islamisten in Kanduna. Sie skandieren: "Allah ist groß", "Verdammt Miss World!" oder "Verdammt die Regierung!" 15 Kirchen und acht Moscheen werden in Schutt und Asche gelegt. Auf den Straßen werden Menschen erschlagen, erstochen, geschächtet, verbrannt, manche mit angezündeten Autoreifen um den Hals.
22. November. Miss Kanada reist ab und erklärt in Ottawa: "Sobald ich von den Toten hörte, sagte ich mir: Darum bist du nicht hier." Unter den zurückbleibenden Missen bricht Panik aus. "Meine Sicherheit ist mir wichtiger als jeder Titel", sagt Miss Irland. "Ich habe Angst", erklärt Miss England. Die Organisatorin des Wettbewerbs, Julia Morley, weist den Vorwurf zurück, es sei ein Fehler gewesen, den Wettbewerb in Nigeria abzuhalten. Die Gewalt sei durch den Artikel ausgelöst worden, nicht durch die Misswahlen.
23. November. Die Wahl wird nach London verlegt. Die Straßenschlachten in Nigeria gehen weiter.
26. November. Die Regierung der islamistischen Nordprovinz veröffentlicht eine "Fatwa", den Aufruf zur Tötung, gegen die junge Journalistin von This Day, die übrigens Christin ist. Die ist längst untergetaucht und soll in die USA geflüchtet sein.
Immer mehr Stimmen, vorneweg britische Feministinnen, fordern die Absage der Miss-Wahlen auch für London.
Anfang der 70er Jahre haben Feministinnen in der ganzen westlichen Welt begonnen, öffentlich gegen Misswahlen zu protestieren. Sie störten die Veranstaltungen, verteilten Flugblätter und warfen auch schon mal mit Schweinshaxen. Können diese Feministinnen sich freuen, dass die Anhänger der Verhüllung der Frauen jetzt Miss-Wahlen wirklich verhindern? Nein. Denn die Alternative zwischen Entblößung und Verhüllung ist keine.
EMMA Januar/Februar 2003
In EMMA u.a. zum Thema: November/Dezember 2002, November 1986: Die Missen-Macher.

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