Frauen, die nach den Sternen greifen

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Es gibt verschiedene Arten, nach den Sternen zu greifen. Den Nachthimmel mit einem Fernrohr oder einem Teleskop zu erforschen, ist nur eine Methode, klassische Astronomie zu betreiben. Henrietta Swan Leavitt aber erforschte die Sterne – im Büro.

Henrietta hatte am Radcliffe-Frauencollege Astronomie studiert. 1895 hatte sie am Observatorium des Harvard Colleges in Cambridge, Massachusetts, Arbeit gefunden. Zusammen mit einem Dutzend Kolleginnen wertete sie Fotografien des Himmels aus, die ihre männlichen Kollegen nachts via Teleskope aufnahmen. Da lag jeweils ein Stück Himmel auf eine Glasplatte gebannt vor den Frauen auf einem Podest, und sie notierten zu jedem Stern die Position, die Helligkeit und was ihnen sonst noch auffiel.

Unter allen Sternen hatten es Henrietta die „Veränderlichen“ angetan, deren Helligkeit sich periodisch ändert – im Laufe von Stunden, Tagen oder Jahren. Die Harvard-Fotoplatten, jede eine Momentaufnahme, hielten diese Veränderungen fest. Noch Jahre später konnte man in ihnen wie in einem Archiv nachschlagen, wie ein bestimmter Stern sich einst präsentiert hatte und das mit seinem aktuellen Erscheinungsbild vergleichen. Auf diese Weise entdeckte Henrietta im Fotoarchiv sogar neue Veränderliche: solche, die bisher als ganz normale Sterne durchgegangen waren. 1905 fand sie allein in der Kleinen Magellanschen Wolke, einer Sternformation des südlichen Himmels, 900 neue Veränderliche! „Was für ein Ass im Aufspüren von Veränderlichen Miss Leavitt ist“, schrieb der Astronom Charles Young aus Princeton bewundernd an deren Chef.

Doch Henrietta Leavitt begnügte sich nicht mit dem Sammeln ihrer Lieblingssterne. Sie suchte nach einer Theorie, nach grundsätzlichen Erkenntnissen. 1908 fiel ihr etwas auf: „Es ist bemerkenswert“, notierte sie in ihrem Laborbericht, „dass die helleren veränderlichen Sterne längere Perioden haben.“ Der Zusammenhang zwischen Periode und Helligkeit ging als „Leavitt-Beziehung“ in die Annalen der Astronomie ein. Denn in der Folge ermöglichte sie anderen Astronomen, der berühmteste unter ihnen Edwin Hubble, die Größe des Weltalls abzuschätzen und die Geschwindigkeit, mit der es expandiert.

Um 1900 herum war es höchst ungewöhnlich, dass Frauen nach den Sternen griffen. Doch das Observatorium des Harvard Colleges war eine Ausnahme. Die Angestellten des Direktors Edward Pickering, ein Dutzend um diese Zeit, waren fast alle weiblich. Als „Pickerings Harem“ waren sie in ganz Amerika bekannt. Im Gegensatz zu den wenigen männlichen Mitarbeitern schlugen sie sich nicht die Nächte um die Ohren, um auf Leitern zu steigen und bei Wind und Wetter die Teleskope zu bedienen. Das galt auch als wenig schicklich für Damen. Stattdessen saßen sie tagsüber im Büro und errechneten die Sternenbahnen. „Computers“ (Rechnerinnen) war ihr offizieller Titel. Maschinen dieses Namens waren noch unbekannt.

Mit der Erfindung der Sternfotografie Ende des 19. Jahrhunderts wuchs den Computers eine weitere Rolle zu: die Auswertung der gläsernen Fotoplatten. Wichtige Informationen waren in den sogenannten Fraunhofer-Linien enthalten. Sie sind benannt nach dem deutschen Physiker Joseph von Fraunhofer, der sie im Spektrum des Sonnenlichts entdeckt hatte. Ein Spektrum entsteht, wenn man das Licht von Sternen durch ein Prisma leitet, es sieht wie ein Regenbogen aus.

Die Spektren der nächtlichen Sterne waren in schwarz-weiß samt ihren Fraunhofer-Linien auch auf den empfindlichen Platten zu sehen, welche die Harvard-AstronomInnen nachts belichteten. Da wussten Wissenschaftler bereits, dass die Fraunhofer-Linien Hinweise auf die chemische Zusammensetzung der fernen Himmelskörper gaben. Deswegen versuchten die Computers, die Sterne so genau wie möglich nach ihrem Linienspektrum zu klassifizieren.

Dass Edward Pickering und sein „Harem“ sich so intensiv der Fotografie des Himmels widmen konnten, verdankten sie einer Frau. Anna Palmer Draper war eine reiche Erbin aus New York. Ihr Mann, Henry Draper, war Medizinprofessor gewesen, hatte sich aber weit mehr für die Astronomie interessiert. Die Drapers besaßen eine private Sternwarte außerhalb der Stadt. Henry hatte dort angefangen, unter tatkräftiger Mithilfe seiner Frau den Nachthimmel zu fotografieren – eine Technik, die damals außer den Drapers nur noch ein einziges anderes Forscherpaar, William und Margaret Huggins in England beherrschte.

Als Henry 1892 im Alter von 45 Jahren starb, vertraute Anna die Fortführung seines Lebenswerks Edward Pickering an. Sie schenkte dem Harvard-Observatorium die hauseigenen Teleskope – und sie finanzierte die Stellen neuer Assistentinnen. Pickering war in vielem seiner Zeit voraus: Er förderte Frauen und war ein Meister der Geldbeschaffung. Anna Draper war nicht die einzige wissenschaftlich interessierte reiche Frau, die ihm half, seine weltumspannenden Projekte zu finanzieren. Pickering setzte überdies bereits auf die Mitarbeit von Amateuren beiderlei Geschlechts bei der Sternbeobachtung – eine Bewegung, die heute unter dem Schlagwort „Citizen Science“ fröhliche Urstände feiert.

Kein Wunder, dass auch Williamina Fleming in ihrem Labortagebuch von 1899 nur gute Worte für ihren Vorgesetzten fand. Fleming, die ehemalige Haushälterin der Pickerings, war damals gerade von der Rechnerin zur Kuratorin der Astrofotografien befördert worden. Sie beschriftete, ordnete und katalogisierte die zunehmende Fülle gläserner Fotoplatten, welche Dava Sobel unter dem Titel „Das Glas-Universum“ verewigt hat.

Doch ein Problem blieb der alleinerziehenden Mutter mit ihrem Chef: „Er glaubt, keine Arbeit sei zu umfangreich oder zu schwierig für mich, ganz gleich, wie groß die Verantwortung ist oder wie lange man dafür benötigt. Aber wenn ich die Sprache auf meine Vergütung bringe, entgegnet er mir sofort, dass ich im Vergleich zu anderen Frauen ein exzellentes Gehalt bekomme. (…) Verschwendet er je einen Gedanken daran, dass ich ebenso wie die Männer für ein Haus und eine Familie aufkommen muss?“

Tatsächlich war das Klassifizieren der Sterne auf den Fotoplatten eine Fleißarbeit – eine Fleißarbeit, auf deren Resultate die Astronomen der Welt jedoch gierig warteten. Jeder neue Band des in Cambridge entstehenden neunbändigen Henry-­Draper-Sternkatalogs war im Nu vergriffen. Nachdem Williamina Fleming ein erstes Klassifikationssystem entwickelt hatte, wurde es von ihrer Kollegin Antonia Maury verfeinert und von Annie Jump Cannon vollendet – es ist bis heute in Gebrauch. Die Platten halfen auch dabei, die Bahn eines Asteroiden namens Eros vorauszusagen, der 1900 der Erde nahekam. Astronomen verfolgten seine Bahn aus allen Winkeln der Erde und errechneten so den genauen Abstand der Erde zur Sonne – ein wichtiger Schritt, um die Dimensionen unseres Sonnensystems zu ermitteln. Langweilige Archivarbeit? Von wegen!

Annie Cannon war nicht nur ein Ass im Sterne-Klassifizieren. Sie sorgte auch dafür, dass am Harvard-Observatorium die strikte Geschlechtertrennung aufgehoben wurde. Die Astronomin, Absolventin zweier Frauencolleges, benutzte ganz selbstverständlich das Teleskop. Ein Foto zeigt sie am Fuß einer Leiter vor einem Teleskop, welches das Harvard-Observatorium an einer Außenstation in Peru betrieb, um den Südhimmel zu beobachten; auf einem anderen sieht man sie hoch zu Ross, ebenfalls in Peru.

Nachdem Cannon rund 100.000 Sterne klassifiziert hatte, reiste sie 1913 für einen Sommer nach Europa. In Hamburg stand die Tagung der „Astronomischen Gesellschaft“ auf ihrem Programm. Dabei fiel Annie auf, dass „keine einzige deutsche Frau“ anwesend war. „Ein- oder zweimal kamen zwei oder drei für ein paar Minuten herein, aber im Allgemeinen war ich die einzige Frau, die bis zum Ende einer Sitzung blieb.“

Wie anders war es doch zu Hause in Cambridge! Nicht nur Leavitts „Veränderliche“ eröffneten den Astronomen neue Welten. Die Haremsdamen von Professor Pickering entdeckten auf den Fotoplatten noch weitere Sensationen: umeinander kreisende Doppelsterne beispielsweise, die sich durch ihre Spektraleigenschaften verrieten. Oder auch völlig neu aufgetauchte Sterne, sogenannte „Novae“. Was bedeuteten all diese eigenartigen Himmelserscheinungen? Hatten Sterne ein Leben wie Tiere und Menschen – mit Geburt, Wachstum und schließlich Tod? Die Beobachtungen aus Harvard stießen überall auf der Welt neue Forschungsfragen an. Das Universum gab mehr und mehr seiner Geheimnisse preis.

Im Februar 1925 schrieb der schwedische Mathematiker Gösta Mittag-Leffler einen Brief an die „sehr geehrte Miss Leavitt“ in Cambridge. Ihre „bewundernswerte Entdeckung des empirischen Gesetzes bezüglich des Zusammenhangs zwischen Helligkeit und Pulsationsperiode“ habe ihn „so tief beeindruckt, dass ich ernsthaft erwäge, Sie für den Nobelpreis für Physik des Jahres 1926 vorzuschlagen“. Sein Vorschlag kam zu spät: Henrietta Swan Leavitt war bereits 1921 verstorben.

Wirklich schade, dass sie den Preis verpasste! Denn es sollte noch bis 1963 dauern, bis – nach Marie Curie, die ihn 1903 als erste Frau erhielt –, mit Maria Goeppert-Mayer wieder eine Frau den Physik-Nobelpreis errang.

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Dava Sobel: Das Glas-Universum. Wie die Frauen die Sterne entdeckten (Berlin Verlag)

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