Schrankenlose Freiheit
Nur knapp ist die "entartete Künstlerin" den Nazis entkommen. Und nicht minder knapp dem Vergessen. Die Malerin Sarah Schumann, die hier über sie schreibt, gehört zu denjenigen, denen Hannah Höch (1889–1978) ihre heutige Präsenz zu verdanken hat. Links Höch 1920 mit zwei ihrer Dada-Puppen. – Bis zum 2.Juli zeigt die Berlinische Galerie eine große Retrospektive: Hannah Höch – Aller Anfang ist DaDa!
Ich stehe vor der Ausstellung: "Hannah Höch. Aller Anfang ist DaDa!" und denke: Mein eigener künstlerischer Anfang war Dada nicht, eher schon der Surrealismus. Aber wäre ein Surrealismus gewesen ohne Dada? Wäre Dada nicht in die Museen gekommen, wüsste ich wahrscheinlich nichts über Dada. Aber ist Dada nicht im Wesentlichen Antimuseum?
Ich schleiche mich an Hannah Höch über die eigenen künstlerischen Arbeitsweisen an und stelle fest: So weit ist dieser Schleichweg ja gar nicht. Über lange Strecken meines Schaffens fand auch ich in der Collage, auch in der Fotocollage, ein brauchbares Medium. Und ist es nicht Hannah Höch, die als Erfinderin der Collage gilt? Also Nähe, Verwandtschaft – und gleichzeitig ein großer zeitlicher Abstand. Ihn zu verschweigen wäre fahrlässig, hieße den Mut dieser Künstlerin zu marginalisieren.
Den Mut, den diese Frau am Ende des Kaiserreichs während der Weimarer Republik und in den harten Folgezeiten bewies. Denn es hieße zu verschweigen, was es 1912 für eine junge Frau bedeutete, sich an einer Kunstgewerbeschule zu immatrikulieren (die heiligen Akademie-Ateliers waren für Frauen noch unzugänglich), sich mit Gelegenheitsarbeiten für Zeitschriften über Wasser zu halten und sich 1917 der radikalen Künstlergruppe Dada anzuschließen.
Und nicht nur dies: Zudem war sie mit einem der Anführer (die gab es wohl, trotz aller Anarchie) liiert. Mit Raoul Hausmann. Der demonstrierte seinen privaten Mut, seine antibürgerliche Libertinage, indem er öffentlich bekannte, dass er sich neben einer Ehefrau auch noch eine Geliebte hielt. Das müsse sie, die Geliebte, aushalten, meinte er, hielte sie es nicht aus, sei sie bürgerlich. Da drängt sich schon die Frage auf, wer da der Spießer war, wessen Mut da wohl größer war. 1921 trennte Hannah Höch sich von Hausmann.
Ja, mutig waren sie, die Dadaisten. Ließen nach der Katastrophenerfahrung des Ersten Weltkriegs den Zufall, den Unsinn, die Willkür, das Banale, den Alltag, das Fragment, die Zerstörung in die Kunst, öffneten viele Türen und Fenster sperrangelweit, wie wohl nie zuvor eine Antibewegung in der Kunst. Und sie stellten sogar die Kunst selbst, also die eigene Daseinsberechtigung, in Frage.
Hatten die vorangegangenen Kunstrebellen einen neuen Ismus gegen einen alten gesetzt, sich gegen die vorherigen Stile und Richtungen bewegt, so bewegten sich die Dadaisten gegen die Vorstellung von Stil und Richtung an sich, gegen jeden Ismus (und wurden doch zu einem). Jedenfalls profitiert die Kunst bis heute von dieser Rebellion. Sie aber, die Dadaisten, wollten sich selbst sofort wieder abschaffen, sollten sie feststellen müssen, dass die Kunstgeschichte sich ihrer bemächtigte, sie in irgendeinem Ismus ersticken würde. Das war schon sehr stark, sehr mutig, sehr radikal zu jener Zeit. In den ersten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts. Nur zu jener Zeit? Was aber wüssten wir noch über sie, die Dadaisten, wenn in der Kunstgeschichte nicht eben jene von ihnen verachtete Bemächtigung stattgefunden hätte?
Hannah Höch: Was für ein Leben! Von 1926 bis 1936 lebt und arbeitet sie mit der Schriftstellerin Til Brugman. Im Künstler-Archiv der Berlinischen Galerie liegen Fotografien, die sie zusammen zeigen, und auch Notizen, die sie sich schrieben, können eingesehen werden.
In den Jahren 1933 bis 1945 wurde, das muss nicht wundern, Hannah Höch zu den "entarteten" Künstlern sortiert, erhielt Ausstellungsverbot. 1938 hatte sie den viele Jahre jüngeren Pianisten Kurt Mathies geheiratet und war 1944 wieder von ihm geschieden worden. Die Zeit des Nationalsozialismus überstand sie zurückgezogen in ihrem Haus in Berlin-Heiligensee. 1978 starb Hannah Höch. Soweit die wichtigsten Lebensdaten.
Aber mir wichtiger noch ist ihr künstlerischer Mut. Sie kam durch einen Seiteneingang in die Kunst, wie Frauen oft. Ihr Seitenzugang wurde dadurch möglich, dass das, was zunächst als ein Manko erschien, zur Chance wurde: Gerade dadurch, dass sie eben nicht eine im strengen Sinne akademische künstlerische Ausbildung erhalten hatte, wurde Höch zwanglos Teil einer Bewegung, die vornehmlich gegen die akademische Verspießerung rebellierte. Sie musste sich nicht befreien, sie war frei von Anfang an. Sie musste nicht erst den Ballast des zuvor Erlernten, der Verschulung abwerfen, sie hatte schon immer mit dem Material des alltäglich Vorgefundenen, mit den Mustern des vermeintlich Trivialen gearbeitet. Sie hatte ein selbstverständliches Verhältnis zu den Materialien, die die Dadaisten erstmalig künstlerisch zueinanderbrachten, revolutionär montierten und für die Kunstwelt schockierend collagierten. Sie musste sich nicht von so vielen Dogmen befreien wie ihre männlichen Mitstreiter.
Einer Frau mag es in damaliger Zeit näher gelegen haben, den Pinsel mit Schere und Küchenmesser zu vertauschen, oder zum Beispiel Textilien, Schnitt- und Strickmuster in ihre Collagen einzuarbeiten. Sie, die in ihren Anfängen in der Mode-Redaktion einer Zeitung mitarbeitete, hatte keine Probleme, Elemente der modischen Leitbilder ironisierend ins Bild aufzunehmen. Die Ausstellung widmet diesem Zusammenhang eine ganze Abteilung: "Frauenbilder – Männermythen". Mit viel Witz wurden von Höch die Fragmente eines Frauenstolzes und einer Männerstärke ins Zerrbild gerückt.
Hannah Höch hat sich auf den ästhetischen Errungenschaften der Revolte ihrer Jugend nicht ausgeruht, hat sie nicht zum Stilprinzip werden lassen, wie manch anderer. 1918 manifestiert Dada auf der Insel Wollin die Collage als Prinzip. Hannah Höch aber glaubte nicht an Prinzipien. Sie verschrieb sich selbst eine "schrankenlose Freiheit". Diese Worte schrieb sie auf ein Bild. Ganz zart mit Bleistift nur. Damit auch das nicht gleich wirken möge wie ein neues Dogma.
Hannah Höch hat sich bis ins hohe Alter dagegen verwahrt, auf diese Aufbruchszeit des Dada vereidigt und reduziert zu werden. Sie hat immer wieder ruhelos mit und ohne Not nach neuen Wegen gesucht; auch den Pinsel, die Malerei, nicht grundsätzlich verteufelt. Diese Souveränität und Neugier beweist sich im Gang durch die Ausstellung von Bild zu Bild und das belegt eine sehr überzeugende Aussage, die sie einmal zu ihrem Selbstverständnis machte:
"Es ist mir zwar oft so vorgekommen, als ob die Konzentration eines Künstlers auf sich selbst und einen besonderen, nur ihm zugehörigen Stil wohl leichter zu Erfolg und Popularität führt. Aber mir liegt mehr daran, meine Lebens- und Arbeitsform immer weiter zu entfalten, zu verändern und zu bereichern, wenn mir auch diese nie endende Entwicklung manchen leicht zu erringenden Erfolg unmöglich machte."
Möglicherweise ist diese Engführung von Leben und Werk, diese doppelte Neuformation, die sie lebensgeschichtlich und künstlerisch zugleich immer wieder ins Ungewisse wies, eine traditionell weibliche Form. Ich kann mir diese Selbsterklärung aus der Feder eines männlichen Künstlers nur schwer vorstellen.
Jetzt stehe ich im Zentrum der Ausstellung. Ich sehe geköpfte Frauen und Männer, versetzte und ausgetauschte Augen (jedoch bleibt der Augapfel immer unverletzt – im Gegensatz zu Bunuels späterem Schnitt), widerwärtige mutierte Insekten, die lachende Verzweiflung und eine Lebenscollage. Harte Schnitte in und neben poetischen Formationen.
Der Schnitt in das Material wirkt frisch, aber das durchtrennte Zeitungsmaterial hat Patina angesetzt, nicht so sehr das eingefügte Hochglanzmaterial der Modezitate. Durch diese unterschiedliche Alterung haben sich die Bedeutungen innerhalb eines Bildes verschoben, denn als sie schnitt, gab es eine Gleichberechtigung des Materials. Die Patina stört. Das Museum stört. Aber ich bin froh, dass ich diese Bilder hier im Museum noch einmal sehen kann.
Wann sah ich sie zuerst? Ich weiß es nicht mehr. Hatte ich, als ich die Abbildung einer Schere (gelegentlich ersetzt durch die eines Messers) leitmotivisch in meine eigenen Bilder einbaute, eine untergründige Beziehung zur Arbeit dieser Künstlerin? Höch gebrauchte, wie mir scheint, die Schere zierlich, der Schnitt ist elegant, so wie ein Pinselstrich elegant sein kann. Auch Eleganz erfordert Mut, wenn Revolution angesagt ist.
Als wir Feministinnen 1976 die Ausstellung ‚Künstlerinnen international 1877–1977‘ vorbereiteten – die erste große Ausstellung in Europa, die nur bildende Kunst von Frauen präsentierte und gegen die es damals heute gar nicht mehr vorstellbare erbitterte Proteste gab – war uns bewusst, dass wir auch Hannah Höch neu ins öffentliche Licht bringen mussten. Das ist gelungen.
Eigentlich ist es kaum vorstellbar, dass diese prominente Vertreterin einer europäischen Kunstbewegung zu diesem Zeitpunkt fast vergessen war. Erst 1968 erschien ein Buch von Heinz Ohff über sie. Und Eberhard Roters hatte Arbeiten von Höch für die Berlinische Galerie erworben.
Hannah Höch hatte in jahrzehntelanger Einsamkeit gelebt. Sie stand außerhalb des Kunstbetriebs. Es gab wenig Information über sie. Heute, in der Berlinischen Galerie, zeige ich dem Leiter der Künstler-Archive Ralf Burmeister unseren Katalog von 1977. Der Wissenschaftler erkennt ihn sofort, denn dieser Katalog befand sich im Nachlass Hannah Höchs und ist jetzt in ihrem Archiv. Das freut mich.
Sarah Schumann, EMMA 3/2007