Irene Khan entschlossen

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Sie weiß, wovon sie redet. "Die Menschen sehen in einem muslimischen Land oft auf dich herab, wenn du nur Mädchen produzierst", sagt sie ernst und ganz ohne verbindliches Lächeln. "Aber meine Mutter glaubte immer, dass es keinen naturgegebenen Unterschied im Potenzial von Mädchen und Jungen gibt, wenn beide die gleichen Chancen erhalten."

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Irene Zubaida Khan, die mittlere von drei Töchtern einer Bangladescherin, die im Alter von 15 Jahren zwangsverheiratet worden war, und eines Arztes, erhielt ihre Chance. Sie wurde mit 16 nicht in die Ehe, sondern weg von dem bürgerkriegsgeschüttelten Land und zusammen mit ihrer Schwester aufs Internat nach Irland geschickt. Später studierte sie Jura in Harvard, wo sie sich früh auf die Menschenrechte und internationales Recht spezialisiert.

Seit 2001 verkörpert die mit einem Deutschen verheiratete Juristin als Generalsekretärin von amnesty international (ai) eine gleich dreifache Novität: Sie ist die erste Frau, die erste Asiatin und die erste Muslimin. Ihr kann niemand "Eurozentrismus" oder Unverständnis für "fremde Kulturen" unterstellen.

Als Khan am 28. Mai im Londoner Zentralbüro von ai in die Blitzlichtgewitter der internationalen Presse tritt, um zum zweiten Mal den Jahresbericht vorzustellen, spricht sie nicht von sich, sondern von ihren Erinnerungen an die sechsjährige Claudine, der sie einst in Burundi begegnete. Das Mädchen hatte als einzige ein Massaker der Armee überlebt und ihr erzählt, wie es verletzt zwischen den Beinen der Soldaten durchgekrochen und geflohen war.

Diese Art von schmerzlichen und lehrreichen Erfahrungen konnte die Menschenrechtlerin in ihrer 20-jährigen Tätigkeit für das UN-Flüchtlingswerk zuhauf sammeln. Bei amnesty allerdings sind Khans Möglichkeiten, nicht nur Einzelnen zu helfen, sondern strukturell einzuwirken, noch größer. Denn längst erfreut sich die vor rund 40 Jahren gegründete Organisation mit ihren 1,5 Millionen MitarbeiterInnen und Mitgliedern in 170 Ländern internationaler Anerkennung.

Gleich bei Antritt im Sommer 2001 bekannte Khan Farbe: Unter ihrer Verantwortung sollte endlich Schluss sein mit einem Politikverständnis, dem auch ai viel zu lange angehangen und dass als "verfolgt" nur staatlich Verfolgte begriffen hatte. Für die Asiatin und Muslimin war klar, dass auch die Opfer der zunehmenden Bürgerkriege und die der steigenden privaten Gewalt dringend den Schutz und die Unterstützung von amnesty benötigen. "Für Frauen wird es keine Sicherheit geben, so lange Regierungen ihnen Schutz vor Gewalt im häuslichen und Lebensumfeld versagen", schreibt sie in der Einleitung zum ai-Bericht 2003 und klagt an: "Wo bleibt der politische Wille, der Gewalt gegen Frauen Einhalt zu gebieten?"

Für Khan ist selbstverständlich, dass die globale Männergewalt Teil des Backlash gegen die Emanzipation ist, und es in keiner Kultur oder Religion eine Entschuldigung dafür gibt: "Gewalt gegen Frauen ist niemals entschuldbar", sagt sie und fragt: "Warum sind wir nicht wütender über die Gewalt gegen Frauen?"

Irene Khan plant jetzt mit amnesty eine weltweite Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen. Aber zuvor, sagt sie, müssen wir ai-intern Schulungen machen, denn: "Anders als bei den traditionellen Folteropfern sind bei der häuslichen Gewalt sowohl Opfer wie Täter bei ai engagiert." Das wird Ärger geben.

Und bei häuslicher Gewalt denkt die Menschenrechtlerin keineswegs nur an die verbrannten Witwen in Indien oder die zwangsverschleierten Frauen in Afghanistan. Sie denkt auch an die 14.000 Frauen, die allein in Russland Jahr für Jahr in ihren vier Wänden totgeschlagen werden: von den eigenen Männern, Brüdern und Vätern. Khan hat die Studie, die diese skandalöse Zahl herausfand, persönlich in Auftrag gegeben. Jetzt fordert ai dringend auch ein Gesetz zur Bekämpfung der Männergewalt gegen Mütterchen Russland.

Die schon bei der UN-Flüchtlingshilfe für ihr so "standhaftes und kompromissloses Engagement" aufgefallene Khan scheint Angst vor Tabus nicht zu kennen. In ihrem Vorwort zu dem ai-Bericht beklagt sie auch die Opfer der jüngsten Krise und die Versuche, "im Namen der Sicherheit" die Menschenrechte und den Rechtsstaat zurückzuschrauben. "Das Ergebnis, klagt Khan, "ist eine wachsende Verängstigung und Unsicherheit in weiten Teilen der Weltbevölkerung".
Die sich über 600 Seiten erstreckenden Kapitel zu den einzelnen Ländern sind voller bedrückender Beispiele dafür, wie die Menschenrechte heute auf der ganzen Welt mit Füßen getreten werden: allen voran in den bekannten Diktaturen, Nachkriegs-Anarchien und den von - meist angeblich religiös motivierten - Bürgerkriegen geschüttelten Ländern.

Aber auch Deutschland ist mit vier Seiten mit von der Partie: mit den tödlichen Exzessen auf einer Kölner Polizeiwache sowie Übergriffen bei Asylanten und Häftlingen. Amerika wird eine Acht-Seiten-Liste vorgehalten, in der es um Polizeigewalt und Todesstrafe wie auch um Übergriffe von GIs in besetzten Ländern geht.

Übrigens: Mit ihrem deutschen Ehemann, einem Wirtschaftswissenschaftler, hat Irene Khan eine heute 15-jährige Tochter: Soraya. Auch sie wird zweifellos ihre Chance bekommen.

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