Kazim Erdogan: Integriert

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Mitten in einem Viertel, das manche „Klein-Istanbul“ nennen, nahe der Neuköllner Karl-Marx-Straße, sitzt Kazim Erdogan in einem kleinen Ladenbüro. Ein schmaler Mann, sein kurzes graues Haar ist licht. Ihm gegenüber haben Journalisten Platz genommen, hinter ihm sitzen gut 20 Türken. Die Jüngeren mit gegelten Haaren und tiefsitzenden Jeans, die Älteren mit Schnauzer und Jackett. Sie sind Sunniten oder Aleviten, ehemalige „Gastarbeiter“ oder hier geborene Söhne der zweiten und dritten Generation. Und sie gehören zur deutschlandweit ersten Selbsthilfegruppe türkischstämmiger Männer.

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Einmal in der Woche trifft Kazim Erdogan sich mit ihnen zu Tee und Keksen in seinem Verein „Aufbruch Neukölln“. Eine gemütliche Runde mit ungemütlichen Themen: Gewalt in den Familien, die Doppelmoral der Ehre, der Einfluss des Islam. „Ich will, dass die Männer Rollenbilder und eingefahrene Denkweisen hinterfragen.“

So wie Berkant, 39. Jahrelang spielte er daheim den Pascha. Nach der Trennung musste er sich plötzlich um den Haushalt und seine Söhne kümmern. Bei Erdogan hat er gelernt, was Kinder brauchen: Fürsorge, Liebe und Geduld. Oder Dursun: Der 66-Jährige ist Einwanderer der ersten Generation. Über die Arbeit in Deutschland hatte er seine Familie vergessen. Ein halbes Jahr nach der ersten Gruppensitzung hat er seiner Frau einen Blumenstrauß gekauft. Zum ersten Mal in seinem Leben.

Heute aber treffen sich die Männer wegen Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Erdogan hat die Journalisten eingeladen, weil er will, dass sie mit eben jenen sprechen, die Sarrazin kritisiert. „Das Problem ist, dass niemand mit ihnen redet, sondern alle immer nur über sie.“

Dabei beschäftigen den 57-Jährigen und seine Gruppe ganz ähnliche Probleme wie die, die Sarrazin beschreibt. Doch anders als der Ex-Banker versucht der Therapeut, die Probleme zu lösen. Die Männer nennen ihn „Kazim-Abi“. Kazim, den älteren Bruder, weil er für sie eine Autorität ist. Er selbst aber bezeichnet sich als den „Kalifen von Neukölln“, das Oberhaupt der islamischen Gemeinde. Das meint er ironisch, klar.

Er ist ein sanfter Mann, ein liebevoller Vater: Mit seiner Frau Gülsen hat er zwei Töchter, die eine 20, die andere 17. Selbstbewusste junge Frauen, die Ältere hat gerade Abitur gemacht. Schon vor Jahren sind die Erdogans weg vom Neuköllner Herrmannplatz ins gutbürgerliche Rudow gezogen. Der Vater wollte die besten Bildungschancen für seine Töchter, bessere als er sie selbst besaß.

Bei seiner Ankunft 1974 in Berlin war Erdogan ein verspäteter türkischer „Gastarbeiter“ aus einem anatolischen Bergdorf und selbst innerhalb von Neukölln „ganz unten“. Eigentlich wollte er Psychologie studieren. Sein Vater, Analphabet und Hilfsarbeiter, hatte auf Bildung gesetzt und sich das Gymnasium für seinen Sohn vom Munde abgespart. Der schaffte das Abitur mit „sehr gut“, konnte sich aber das teure Istanbuler Stadtleben nicht leisten. Ein Onkel holte ihn nach Deutschland. Hier könne er umsonst studieren.

Als Kazim ankam, nahm ihm der Onkel sein Geld ab und schickte den Jungen arbeiten. Der 21-Jährige schleppte Kühlschränke und Waschmaschinen, stand am Fließband und sortierte im Akkord Margarinebehälter. Dann passierte es: Erdogan geriet in eine Ausweiskontrolle. Noch am selben Abend saß er in Abschiebehaft. „Ich fühlte Scham hoch drei. Man kommt ohne Geld in ein reiches Land und wird wieder rausgeschmissen. Da fühlt man sich als Versager.“

Doch er hatte Glück. Ein Freund besorgte eine Bestätigung der Universität – dadurch hatte Erdogan Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis. Nach vier Tagen kam er frei. Heute sagt er: „Ich weiß, wie es sich anfühlt, Angst in einem fremden Land zu haben.“

Nach dem Psychologie-Studium bekam er eine Stelle als Lehrer. Dem folgte die Arbeit im Psychosozialen Dienst Neukölln, wo er Migranten betreuen sollte, die sich ähnlich verloren fühlten, wie einst er.

Jahrzehntelang hieß es, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Erdogan aber hatte die Probleme der Einwanderer in seinem Beratungszimmer sitzen: Junge Frauen, die zur Eheschließung nach Berlin gekommen waren, kein Wort Deutsch sprachen und sich jetzt einsam fühlten. Oder ihre männlichen Gegenstücke: die „Importbräutigame“, deren Weltbild sich im fremden Land auf den Kopf stellte.

Und türkische Väter, verzweifelt, weil sie ihre Familien nicht mehr ernähren konnten. Ehefrauen, die unter den Schlägen dieser Männer litten.  „Ich wusste, dass ich effizient arbeiten musste. Vor allem wollte ich die ‚Patriarchen‘ erreichen, die männlichen Familienchefs.“ „Sie wissen nicht, wie sie kommunizieren sollen. Weil sie sich schämen, verdrängen sie Probleme und gehen in die Moschee zum Beten oder ins Männercafé zum Spielen.“

Im Januar 2007 entschloss Erdogan sich zu handeln. Er fragte zwei seiner Klienten, ob sie bereit seien, sich in einen Kreis mit anderen Männern zu setzen und über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die beiden nickten. Das war die Geburtsstunde der Selbsthilfegruppe türkischer Männer.

Drei Jahre sind seitdem vergangen. Längst diskutieren die Männer nicht mehr nur über eigene Probleme. Sie wollen auch mitreden, wenn es um Integration, Parallelgesellschaften oder Fremdenfeindlichkeit geht. Nach dem Gespräch über Sarrazin wendet sich eine Journalistin erstaunt an den Initiator. Sie hätte mit „mehr Wut“ gerechnet, sagt sie. Erdogan lächelt. Er möchte nun Sarrazin zum direkten Gespräch einladen. Denn er ist überzeugt: „Bei den Menschen selbst kann er bestimmt mehr erreichen als durch sein Buch.“

Weiterlesen
Isabella Kroth: Halbmondwahrheiten – Türkische Männer in Deutschland (Diederichs, 16.95 €)

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