Der Frauenhass in der Medizin

Gynäkologie in Deutschland um 1920: Hauptsache, das Kinderkriegem funktioniert. - Foto: Getty Images
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Hippokrates gilt als Vater der wissenschaft­lichen Medizin. Vor 2.500 Jahren machte er auf der griechischen Insel Kos Schluss mit der Vorstellung, Krankheiten würden von den Göttern gesandt. Hippokrates suchte stattdessen nach natürlichen Ursachen. Auch ethisch setzte er Maßstäbe: Ärzte sollten geloben, keinem Patienten – weder Mann noch Frau, weder frei noch Sklave – jemals Schaden zuzufügen und alle stets nach bestem Wissen zu behandeln. Der hip­pokratische Eid wird von angehenden Ärztinnen und Ärzten bis heute geleistet.

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Hippokrates war in mancher Hinsicht ein moderner Mann. Doch von kranken Frauen hatte er keine Ahnung. Einem Mädchen von 14 Jahren, das unter Fieber, Brustschmerzen und quälenden Halluzinationen litt, empfahl er als Therapie die baldige Heirat. Der Geschlechtsverkehr werde ihren Körper öffnen, so dass das in ihrer Gebär­mutter gestaute Blut abfließen könne, so die Begründung. Bei einer älteren Frau, die unter hef­tigen Zuckungen und peinigenden Unterleibs­krämpfen litt, vermutete Hippokrates, sie werde von der eigenen Gebärmutter erstickt. „Die Gebär­mutter sei – leer und trocken, weil sie nicht mehr gefüllt wurde – auf der Suche nach Feuchtigkeit zur Leber gewandert. Dort blockiere sie das Zwerchfell und raube der Frau den Atem“, so schildert die Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn in ihrem Buch „Die kranke Frau“ eine in der Antike weit verbreitete Vorstellung, von der sich auch ein Hippokrates nicht freimachen konnte.

Danach wurde die Gesundheit der Frau aus­schließlich von ihrem Uterus bestimmt. Das Organ führte sozusagen ein Eigenleben, es war ständig auf der Suche nach einer Schwanger­schaft. War es unterbeschäftigt – etwa bei ledigen, kinderlosen oder alten Frauen –, ging es auf Wanderschaft durch den ganzen Frauenkörper. Dabei schädigte es Organe wie Herz oder Leber und löste eine Vielzahl von Symptomen aus, die von epileptischen Anfällen bis zu Wahnvorstel­lungen reichten. „Gleich zu Beginn der Medizin­geschichte“, schreibt Cleghorn, „reduzierte man kranke Frauen auf eine anonyme Masse patholo­gischer Gebärmütter“.

Die heidnischen Vorstellungen der Griechen und Römer wurden gegen Ende der Antike von

christlichen Weltbildern abgelöst. Für Frauen bedeutete das nichts Gutes, denn, so Cleghorn: „Als der Mensch in das Mittelalter eintrat, wan­derte die Gebärmutter mit.“ Die Medizin, insbe­sondere die Gynäkologie, blieb bis auf wenige Ausnahmen fest in Männerhand. Zu den antiken Mythen über schwache, vom Uterus gesteuerte Frauen gesellten sich christliche Ideen der Unreinheit und Sünde. Denn schließlich hatte eine Frau, Eva, mit dem Biss in einen verbotenen Apfel Unglück über die gesamte Menschheit gebracht.

Nach der Pest-Epidemie im 14. Jahrhundert wuchs sich das Misstrauen gegenüber Frauen zu einem regelrechten Hexenglauben aus: „Sexuell unersättliche Frauen“ würden es sogar mit dem Teufel treiben und dadurch gefährliche Zauber­kräfte erlangen, argumentierte Heinrich Kramer (genannt Institoris), ein Dominikanermönch und eifriger Hexenjäger. Die Folgen des Irrsinns: Im 16. und 17. Jahrhundert wurden mindestens 200.000 Menschen wegen Hexerei hingerichtet, 85 Prozent waren Frauen.

War es damit vorbei mit der Uterus-Besessen­heit der Medizin? Keineswegs. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde „Hysterie“ (von griechisch hyster = Gebärmutter) geradezu zur Modediagnose. „Einfach alles, von Herz- und Atemproblemen, Leberbeschwerden, Muskelschwäche und Schwangerschaftskomplikationen bis hin zu Schwindel, Weinkrämpfen, Lachanfällen, sinnlosem Spre­chen und sogar Augenverdrehen wurde gemeinsam mit den bereits bekannten Erstickungs- und Ohnmachtsanfällen, Krämpfen und Zuckungen unter der diagnostischen Monsterkategorie ‚Hys­terie‘ zusammengefasst“, schreibt Cleg­horn. Zwar lockerte sich mit dem Sie­geszug der Neurologie allmählich die geistige Verbindung zwischen Uterus und weiblichem Wahn. Doch noch zu Zeiten Sigmund Freuds, also an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, wurden sogenannte „Hysterikerinnen“ auf Büh­nen vorgeführt und von Wunderdokto­ren durch Hypnose oder Stromschläge „geheilt“.

Es blieb nicht bei Stromschlägen. Insbesondere das 20. Jahrhundert brachte für Frauen eine Fülle gefährlicher und meist unfreiwilliger chirur­

gischer Eingriffe mit sich: von Sterilisationen geistig behinderter oder wegen ihrer „Rasse“ unerwünschter Frauen bis hin zu Lobotomien (Gehirnschnitten) an Frauen, die gegen die Haus­frauenrolle opponierten. Da passt es ins Bild, dass bei tatsächlich rätselhaften Frauenkrankheiten wie Myomen (Wucherungen in der Gebärmutter) oder Endometriose die Gebärmutterentfernung oft als einzige therapeutische „Lösung“ angebo­ten wurde – und wird. Noch heute müssen US-Gynäkologen während ih­rer Ausbil­dung 70 Hys­terektomien vornehmen; ob die alle notwendig sind, darf bezweifelt werden.

Elinor Cleghorns 500 Seiten starkes Kompen­dium über die Geschichte der Medizin aus Patien­tinnensicht liest sich über weite Strecken bedrü­ckend: Über Jahrhunderte hinweg wurden kranke Frauen von männlichen Ärzten oftmals falsch und grausam behandelt, noch öfter aber nicht ernst genommen und in ihrem Schmerz allein gelassen. Viele hätten länger und glücklicher leben können, wären sie Männer gewesen.

Doch warum ließen Frauen sich das gefallen? Gab es keine Ärztinnen, die ihnen helfen konn­ten? Keine Selbsthilfebewegung? Doch, die gab es natürlich immer schon, aber erst ab den 1970er Jahren mit Wucht.

Doch schon im 12. Jahrhundert trat zum Beispiel im italienischen Salerno Trota in Erschei¬nung. Trota praktizierte als Ärztin und hinterließ ein medizinisches Lehrbuch (Trotula). Das emp¬fahl Frauen Sauberkeit, ausgewogene Ernährung und körperliche Betätigung zum Gesundbleiben und warnte gleichzeitig vor Stress und Unruhe, die auch zum Ausbleiben der Menstruation führen könnten. Trota wusste um die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage der Frauen und wie man dieses Wissen zur Geburtenkontrolle nutzen kann. Obwohl auch sie nicht frei war von überlieferten Vorurteilen über das „schwache Geschlecht“, glaubte sie immerhin nicht an eine wandernde Gebärmutter. Der Uterus bewege sich keineswegs frei im Körper, schrieb sie, und könne daher auch nicht an allen möglichen Stellen Verheerungen anrichten.

Anfang des 14. Jahrhunderts schlossen die medizinischen Fakultäten, die sich gerade erst für Frauen geöffnet hatten, Frauen wieder aus. Ärztinnen durften nicht mehr praktizieren. Jacqueline Felice de Almania tat es trotzdem – mit großem Erfolg. 1322 wurde ihr in Paris der Prozess gemacht. „Früher kam es vor, dass eine Frau eher starb, als dass sie einem Mann ihre Krankheit offenbart hätte“, brachte Jacqueline zu ihrer Verteidigung vor. Es nützte nichts, sie wurde schuldig gesprochen, exkommuniziert und erhielt ein lebenslanges Berufsverbot.

Im schottischen Edinburgh wurden nach jahre¬langen Kämpfen 1869 die ersten sieben Studentinnen der Medizin zugelassen. So umstritten war dieser Schritt, dass es bei ihrer Anatomieprüfung zu Krawallen kam. Sophia Jex-Blake war eine von ihnen. Sie wurde die erste approbierte Ärztin Schottlands und eine der ersten in ganz Großbritannien. „Sie vertrat entschieden die Auffassung, dass Frauen wegen ihrer weiblichen Intuition und Intelligenz besonders für die Medizin geeignet seien“, schreibt Cleghorn. Auch Jex-Blake beobachtete „unglaublich viel vermeidbares Leid“ allein aufgrund der Tatsache, dass Mädchen und Frauen Angst hatten, einem Mann ihre intimen Probleme

anzuvertrauen. In Deutschland sollte es noch wei­tere 30 Jahre dauern, bis die ersten Medizinstuden­tinnen an Universitäten zugelassen wurden. Vor­reiter war damals München, wo 1903 die ersten Frauen in die Anatomie-Hörsäle einzogen.

Allein um die weibliche Menstruation rankten sich so viele Mythen, dass es mehrerer Anläufe bedurfte, sie zu zertrümmern. Zu einer Zeit, in der männliche Bestsellerautoren in England den Frauen das Studieren verbieten wollten, da die Menstruation ihre „Nerven- und Körperkraft“ zu sehr zerrütte, zeigte Julia Ward Howe durch Befra­gung von Hochschullehrern an gemischten Col­leges, wie selten menstruell bedingte Erkrankun­gen in Wahrheit vorkamen. Die Amerikanerin Mary Putnam Jacobi wertete Fragebögen aus, in denen Patientinnen eines New Yorker Kranken­hauses sich sehr umfassend zu ihren Menstruationserfahrungen äußern konnten. Dabei fand sie heraus, „dass geistige Anstrengung, wenn über­haupt, nur wenig Auswirkung auf eine gesunde Monatsblutung hatte und der weibliche Verstand während der Menstruation in keiner Weise eingeschränkt war.“ Für ihre bahnbrechende For­schung gewann sie 1875 einen renommierten Mediziner-Preis.

Das Jahr 1970 war in den USA der Beginn einer ganz neuen, breit aufgestellten Frauengesund­heitsbewegung, die von Ärztinnen und Aktivis­tinnen – übrigens aller Hautfarben – gemeinsam getragen wurde. In Washington erzwangen die Feministinnen eine Anhörung im Kongress zu den allzu lange geheim gehaltenen Nebenwirkungen der Verhütungspille. Die Protestierenden verteilten, an ihre Flugblätter geheftet, sogar ein­zelne Pillen an Männer – mit der Aufforderung, sie einzunehmen und die Wirkungen selbst zu spüren.

In Boston erschien zum ersten Mal das Buch eines feministischen Autorinnenkollektivs: „Frauen und ihre Körper“. Bereits 1971 wurde es, jetzt unter dem Titel „Unser Körper, unser Leben“, neu aufgelegt und ein weltweiter Bestseller. Das Buch benannte alle Gesundheitsfragen, die sich Frauen stellen, und es setzte sich kritisch mit Ärz­ten, Pharma-Industrie und dem Gesundheitswe­sen auseinander. „Es ermutigte Frauen außerdem, ihren Körper zu berühren, zu erforschen und lie­ben zu lernen“, erklärt Cleghorn. Und das taten die Frauen: Rund um den Globus trafen sie sich in Selbsthilfegruppen, in denen sie beispielsweise

lernten, mit Hilfe eines Spekulums und eines Spiegels ihren nie zuvor gesehenen eigenen Mut­termund zu betrachten. Aktivistinnen der Frauen­bewegung gründeten auch in Deutschland zahl­reiche Feministische Gesundheitszentren: zuerst in Berlin (1974), dann in Frankfurt (1978). Etliche von ihnen bestehen noch heute fort; sie sind in einem Verband organisiert.

Noch weiter ging das „Jane Collective“ in Chi­cago, dessen Mitglieder Abtreibungstechniken erlernten und ab 1969 in illegalen Praxen selbst anwandten, denn in den meisten US-Staaten war Abtreibung noch verboten. Die Geschichte des Kollektivs wurde gerade unter dem Titel „Call Jane“ mit Sigourney Weaver in der Hauptrolle ver­filmt. Erst 1973 erkannte das Oberste Gericht der USA im Prozess „Roe gegen Wade“ das Grundrecht der Frauen auf einen Abbruch in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten an. Dieses Recht wurde ihnen im Sommer 2022 vom selben Gericht wie­der weggenommen.

Auf der anderen Seite gibt es auch große Fort­schritte zu vermelden: Heute sind in Deutschland zwei Drittel aller StudienanfängerInnen in der Medizin weiblich – und 40 Prozent der berufstäti­gen ÄrztInnen. Frauen können sich beim Mam­mografie-Screening alle zwei Jahre kostenlos auf Brustkrebs untersuchen lassen, und Gender- Medizin ist keine ganz kleine Nische mehr. Jetzt soll sogar das Rätsel Endometriose endlich durch Forschung gelöst werden: In Australien gibt es seit 2018 einen Nationalen Aktionsplan, in Frank­reich seit 2022 eine Nationale Strategie zu diesem Zweck. Auch die deutsche Bundesregierung will jetzt fünf Millionen in die Erforschung von Endo­metriose investieren.

Doch in der Summe bleibt leider aktuell, was Barbara Ehrenreich und Deirdre English 1973 in ihrem berühmten Buch „Hexen, Hebammen und Krankenschwestern“ schrieben und was Elinor Cleghorn 2022 zustimmend zitiert: „Zum gegen­wärtigen Zeitpunkt der Geschichte ist jede Anstrengung, uns medizinisches Wissen anzu­eignen und untereinander zu teilen, ein ent­scheidender Beitrag zum Kampf.“

JUDITH RAUCH

 

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