"Ich klage den IS an!"

UN Photo/Evan Schneider
Artikel teilen

Ich danke der deutschen Regierung für die Einladung, heute vor dem UN-Sicherheitsrat über unsere Verantwortung für sexuelle Gewalt in Kriegen zu sprechen. In der Vorbereitung für diese Rede, die ich an der Seite von Nadia Murad halte – meiner Klientin und Freundin, die ich sehr bewundere –, dachte ich zurück an ein Gespräch, das wir führten, als wir uns zum ersten Mal trafen. Nadia erzählte, wie sie darunter leidet, von zwölf Männern des IS versklavt und wie ein Tier behandelt worden zu sein. Sie sprach von den Mördern ihrer Mutter und ihrer Brüder. Sie zeigte mir Droh-Nachrichten auf ihrem Handy, die sie vom IS bekam. Dabei wurde mir klar, dass sie nie von der Angst um ihre eigene Sicherheit oder ihr Leben sprach.

Stattdessen hat Nadia an diesem Tag und seither immer wieder – nur von einer Angst gesprochen: Der Angst, dass, wenn das alles vorbei ist, die IS-Männer sich einfach ihre Bärte abrasieren und in ihre normalen Leben zurückkehren werden. Dass es keine Gerechtigkeit geben wird.

Ich bin die Rechtsanwältin von Nadia und anderen jesidischen Frauen und Mädchen, die vom IS gekidnappt, gekauft, verkauft, versklavt und vergewaltigt wurden. Meine Aufgabe ist es, für Gerechtigkeit für die Opfer zu sorgen. Aber von Anfang an war klar, dass das nicht einfach wird. Denn die Weltmächte waren vor allem an einer militärischen Lösung interessiert, von Gerechtigkeit war nicht die Rede. Also konzentrierten wir uns auf ein Ziel: Wir dürfen nicht zulassen, dass die Beweise verschwinden.

Deshalb kamen Nadia Murad und ich im September 2016 erstmals hierher, zu den Vereinten Nationen, und baten den UN-Sicherheitsrat um Hilfe. Wir forderten den Rat auf, ein Team von ErmittlerInnen in den Irak zu entsenden, um Beweise für die Verbrechen des IS zu sammeln, sodass Gerichtsverhandlungen gegen die Täter möglich würden.

Nach vielen Monaten saßen Nadia und ich wieder zusammen in diesem Raum. Wir sahen, wie sich 15 Hände erhoben, um für die Resolution 2379 zu stimmen (Anm. d. Red.: Die Resolution 2379 wurde am 21. September 2017 verabschiedet und fordert die Einsetzung eines Ermittlerteams im Irak, das gerichtsfeste Beweise für die IS-Verbrechen sammeln soll, damit Anklagen gegen die Täter möglich werden.). Wir begrüßten die Ernennung des hervorragenden Anwalts Karim Khan, das Ermittlungsteam zu leiten, und wir waren berührt, als das Team, das an der Seite der irakischen Regierung arbeitet, vor vier Wochen begann, Massengräber zu exhumieren und die Opfer zu identifizieren.

Dieser erste Schritt war ein erlösender Moment für viele jesidische Familien, und es ist ermutigend zu hören, dass die Untersuchung im Irak nun in vollem Gange ist.

Inzwischen gibt es in mehreren Ländern Gerichtsverhandlungen gegen die Täter und Täterinnen. Täterinnen wie Umm Sayyaf (Anm. d. Red.: die Witwe des IS-Führers Abu Sayyaf). Sie zeigte keine Solidarität mit ihren Geschlechtsgenossinnen. Sie schloss sie in einem Raum ein, forderte die Täter auf, ihnen Gewalt anzutun und schminkte die Opfer zur Vorbereitung der Vergewaltigungen. Ich verlange die Auslieferung von Umm Sayyaf an die Vereinigten Staaten, um Gerechtigkeit für diese Verbrechen zu erreichen.

In Deutschland vertrete ich ein jesidisches Opfer in einem Fall, in welchem der oberste deutsche Gerichtshof die Klagen gegen einen für sexuelle Versklavung verantwortlichen IS-Kommandeur als Genozid bestätigte. Dies ist die erste juristische Anerkennung der Verbrechen gegen die Jesiden als Genozid.

Vor zwei Wochen war ich in München. In diesem Fall vertrete ich die Mutter eines fünf Jahre alten jesidischen Mädchens, das versklavt und in einem Hof angekettet wurde und dort langsam in der Hitze verdurstete. Ein deutsches weibliches IS-Mitglied, Jennifer W., das dies zugelassen hat, ist nun eines Kriegsverbrechens angeklagt.

Aber was bisher passiert, entspricht noch nicht im Geringsten dem, was Überlebende sich wünschen. Was ihnen geschehen ist, verdient erheblich mehr internationale Aufmerksamkeit und mehr Reaktionen der internationalen Gemeinschaft.

Das Ausmaß der Verbrechen gegen Frauen und Mädchen, die vom IS begangen wurden, hat ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht. Der IS hatte Territorien in der Größe des Vereinigten Königreichs unter seiner Kontrolle und herrschte über mehr als acht Millionen Menschen. Mehr als 40.000 fremde Kämpfer aus über 110 Ländern haben sich den Reihen des IS im Irak und in Syrien angeschlossen. Aber zu der Frage, wie man sie heute zur Rechenschaft ziehen könnte, herrscht Schweigen.

Das könnte sich ändern. Es gibt jetzt die Möglichkeit, internationale Verantwortung zu übernehmen, da tausende IS-Kämpfer in Gewahrsam sind. Ein Team der Vereinten Nationen sammelt Beweise und Überlebende warten darauf, unter Eid aussagen zu können. Der UN-Sicherheitsrat selbst hat mit seiner Resolution klar gemacht, dass der Genozid, der vom IS durch Morde und Vergewaltigungen begangen wurde, eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit darstellt.

Doch wenn der UN-Sicherheitsrat nicht handelt, dann könnte immer noch die EU handeln. Jüngst half die EU, ein Sondergericht in Den Haag einzurichten, um die Verbrechen im Kosovo zu ahnden. Dieses Gericht hat die Unterstützung aller EU-Länder, plus der USA, Kanadas, Norwegens, der Türkei und der Schweiz. Die Fälle werden von internationalen StaatsanwältInnen und RichterInnen behandelt.

Mit irakischer Unterstützung könnte die EU, zusammen mit gleichgesinnten Ländern, das gleiche bei den IS-Verbrechen tun. Und der Irak könnte einen Vertrag schließen mit den Vereinten Nationen, um ein Gericht einzurichten, wie es für Sierra Leone und Kambodscha getan wurde. Keine dieser Lösungen ersetzt die Notwendigkeit von Prozessen vor nationalen Gerichten.

Wir haben es mit einer enormen Ausbreitung sexualisierter Kriegsgewalt zu tun – und ich bin überzeugt, dass Gerechtigkeit ein Gegenmittel ist.

Wenn der Sicherheitsrat sexualisierte Gewalt im Krieg nicht verhindern kann, dann muss er sie zumindest verurteilen. Wenn Verbrechen wie diese öffentlich gemacht werden, in einem öffentlichen Prozess, dann haben Opfer eine größere Chance, gehört zu werden und ihren Prozess der Heilung beginnen zu können.

Deshalb müssen wir um Gerechtigkeit kämpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Siegermächte Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA sich die gleiche Frage in Bezug auf die Nazis gestellt, die wir uns nun zum IS stellen. Manche wünschten sich Schauprozesse oder Massenexekutionen. Aber die USA unter den Präsidenten Roosevelt und Truman plädierten für ordentliche Gerichte, nicht zuletzt, weil sie es auch wichtig fanden, dass die Nazi-Verbrechen dokumentiert wurden. Der amerikanische Staatsanwalt, der das Gerichtsverfahren eröffnete, erklärte, dass „die Taten, die wir hier verurteilen und bestrafen wollen, so berechnend, so bösartig und so verheerend waren, dass die Zivilisation es sich nicht erlauben kann, sie zu ignorieren, weil sie eine Wiederholung nicht überleben würde“. Das hier ist der Nürnberg-Moment des UN-­Sicherheitsrates – seine Chance, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

emma.de: Nadia Murad hat es gewagt (6/18), Nadia Murad, die Kämpferin (3/16)

Weiterlesen: Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen, 1977 (im FrauenMediaTurm)

Ausgabe bestellen
Anzeige
'
 
Zur Startseite