Ein Mörder mit Charisma

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Geben wir es zu: Radovan Karadžić ist anders. Er sah anders aus als alle anderen, anders als die gedrungenen, schmierigen Balkan-Politiker, die pummeligen, unrasierten Generäle, die verschlagenen Kriminellen oder Taxifahrer, die zu Geheimdienstlern wurden. Karadžić war groß, ein gut gebauter Mann mit ausgeprägtem Kinn und großen Augen.

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Mit seinen wilden, länglichen grauen Haaren sah er aus wie ein Rockstar. Auch wenn man das, betrachtet man die Fotos mit dem lächerlichen alten bärtigen Mann darauf, heute kaum vostellen kann. Er hatte Charisma. Seine Lebensgeschichte ist Stoff für einen Kinofilm: Ein Junge, der in einem montenegrinischen Dorf ­geboren wurde, schafft es bis an die Universität von Sarajevo, erlangt Dichterruhm sowie schließlich das Präsidentenamt der Republika Srpska, nicht zu vergessen den Weltruhm als einer der meistgesuchten Kriegsverbrecher.

Karadžić vereinigte in sich den traditionellen Typus des Hajduk, des Räuberhauptmanns, der epische Gedichte vorträgt, wobei er sich selbst auf einem Saiteninstrument begleitet. Eine Art Dr. Poet & Mr. Criminal in einem. Er wurde aus purer ­Eitelkeit ein Kriegsverbrecher. Eitelkeit per se ist noch kein Verbrechen – solange diese Eigenschaft einen nicht dazu bringt, die Auslöschung von 8.000 muslimischen Männern in Srebrenica zu befehlen.

Immer wenn ich in all den Jahren an Radovan Karadžić dachte, konnte ich ein Bild nicht aus dem Kopf bekommen. Es stammt aus einer Dokumentation über die Belagerung von Sarajevo; es ist die Szene, in der er in Pale eintrifft, von wo aus das Militär der Republika Srpska die Stadt beschoss. Karadžić kommt mit einem Gast, dem russischen Dichter ­Edward Limonow. Sarajevo liegt zu ihren Füßen. Karadžić trägt einen schwarzen Mantel und einen Schal um den Hals. Seinem Gast und Dichterkollegen bietet er galant und lächelnd eine „Spezialbehandlung“ an, wie es sich geziemt für einen König, einen Herrscher über Leben und Tod. Limonow solle doch einen Schuss aus dem auf die Stadt gerichteten Maschinengewehr probieren. Nur so, zum Spaß. „Versuch’s mal“, sagt er großspurig, als wolle er Limonow herausfordern. Wie im Film, wenn der König seinem Gast ein Gewehr anbietet, um wilde Tiere zu schießen. Nur, dass in einer belagerten Stadt Menschen leben.

Limonow kniet sich ans Maschinengewehr und schießt. Jeder ist entzückt: Dieser Mann ist einer von ihnen, einer wie sie! Obwohl er ein Dichter ist, ist er kein Waschlappen. Wie ihr eigener Dichter Karadžić, so hat auch er bewiesen, dass er ein richtiger Mann ist. Dann trinken sie Slibowitz und essen Schwein vom Spieß – ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, ob Limonow vielleicht ­jemanden erschossen hat.

Aber ich fragte mich das, nachdem ich diesen Film gesehen hatte: Wie kommt es, dass Intellektuelle und Dichter und Psychiater wie Karadžić so etwas tun? Es dauerte eine Zeit, bis ich begriff, dass dies die falsche Frage ist. Die Frage unterstellt ja, dass Menschen, die es besser wissen müssten – die Gebildeten, die Intellektuellen, Künstler! – höhere moralische Standards haben als wir, die gewöhnlichen Leute.

Dabei sehen wir doch immer wieder, dass sie, was Ethik und Moral betrifft, nicht anders sind als wir. Kriegsverbrecher entstammen allen sozialen Schichten, allen denkbaren Milieus. Sie sind Akademiker, Autoren und Mechaniker, Kellner, Bankangestellte und Bauern.

Man ist versucht, Kriegsverbrecher wie Karadžić, Ratko Mladi? oder Slobodan Miloševi? als Monster zu bezeichnen. Dies ist der einfachste Weg, um dem schrecklichen Gedanken zu entkommen, dass auch wir imstande wären, Grausamkeiten zu begehen oder anzuordnen.

Menschen besitzen die Fähigkeit, Gutes wie Böses zu tun. Aber sie haben immer auch die Wahl. Radovan Karadžić hatte die Macht gewählt. Als ich die Bilder sah, die auf BBC News zu Karadžićs Festnahme liefen, sah ich wieder die ­Gesichter von Franjo Tuđman, Alija Izetbegović, Slobodan Milošević… Sie sind inzwischen alle tot. Und dabei scheint es doch erst gestern gewesen zu sein, dass sie über unser Schicksal entschieden.

Karadžićs Prozess wird zur Wahrheit über Kriege beitragen. Ungeachtet der Kontroversen über das Internationale ­Jugoslawien-Tribunal: In jedem Prozess wird ein Stück Wahrheit offenkundig. Und was die Menschen sowohl in Belgrad, Zagreb, Sarajevo oder Priština am meisten brauchen, ist: die Wahrheit. Ohne Wahrheit kann es bekanntlich keine Gerechtigkeit geben. Doch was diese Kriege betrifft, kann es ohne Gerechtigkeit auch keine Wahrheit geben.

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